Die Moderne verläuft universell

Alphabetisierung und Rückgang der Geburtenrate. Darin erkennen Courbage und Todd zwei Faktoren, die die islamische Welt in die Moderne führen wird – still und unaufhaltsam. Damit ergänzen die beiden Bevölkerungswissenschaftler die anhaltende Debatte um den Kampf der Kulturen um ein neues Moment.

Bild Todd und Courbage; Foto: John Foley/Opale
Emmanuel Todd (l.) und Youssef Courbage prognostizieren eine "entislamisierte muslimische Welt".

​​"Einen Kampf der Kulturen wird es nicht geben": das ist die wichtigste Botschaft. Doch Emmanuel Todd und Youssef Courbage wollen dem Westen nicht einfach nur die Angst vor einer Islamisierung nehmen. Sie wollen beweisen, dass sich die islamische Welt in einem tiefgreifenden Wandel befindet, an dessen Ende die Moderne auch in den scheinbar so festgefügten Gesellschaften der islamischen Welt Einzug hält.

Eine stille, aber unaufhaltsame und dramatische Revolution. Ermöglicht werde diese umfangreiche gesellschaftliche Veränderung durch eine massenhafte Alphabetisierung und den Rückgang der Geburtenrate in den muslimischen Gesellschaften.

Damit rücken Todd und Courbage nicht die Andersartigkeit in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, wie es etwa der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel L. Huntington tut, sondern die möglichen Gemeinsamkeiten. Im französischen Originaltitel kommt das noch stärker zum Ausdruck: "Rendez-vous des civilisations" heißt es dort – also ein Treffen und kein Kampf der Kulturen.

Das Gegen- oder Miteinander der Kulturen

Todd und Courbage sehen in den "Zuckungen", die man heute in der muslimischen Welt wahrnehmen könne, die klassischen Symptome einer Desorientierung, die jeden gesellschaftlichen Umbruch kennzeichne. Die beiden Bevölkerungswissenschaftler sind überzeugt davon, dass dort, wo der Wandel gerade beginne, ein erhöhtes Gewaltpotenzial herrsche. Und das erfordere größte Wachsamkeit von der Weltgemeinschaft. Bestes Beispiel dafür sei Pakistan.

​​Seit Huntingtons Aufsatz über den Kampf der Kulturen wird heftig diskutiert über das Gegen- oder Miteinander der Kulturen. Das Sachbuch von Todd und Courbage fügt dieser Diskussion einen neuen Ansatz hinzu. Ihre Behauptung, dass es keinen Kampf der Kulturen geben werde, versuchen sie mit Hilfe statistischer Bevölkerungsanalysen zu beweisen.

Dabei arbeiten sich die beiden Autoren detailliert durch Fallbeispiele islamischer Gesellschaften von Südostasien über die arabische Welt bis hin zu asiatischen und afrikanischen Staaten. Die Lektüre ist nicht immer leicht verdaulich, aber die Analysen enthalten viel Wissenswertes und eine Menge neuer Denkanstöße.

Und genau das sollte ein Sachbuch leisten, das sich mit dieser zugleich schwierigen und wichtigen Diskussion beschäftigt. Es finden sich überraschende Ergebnisse: Etwa, dass der Iran, "angeblich ein unaufgeklärter, autoritärer, ja totalitärer Staat, weil er religiös geprägt ist" einheitlicher und stärker durch den Individualismus geprägt sei, als etwa die Türkei.

Reaktionäre Kräfte auf verlorenem Posten

"Nach der Alphabetisierung ist die Geburtenkontrolle das zweite Grundelement, durch das eine Bevölkerung in ein höheres Stadium des Bewusstseins und der Entwicklung eintritt", schreiben Todd und Courbage. Und auch hier schließe sich die muslimische Welt dem universellen Lauf der Geschichte an, "zwar mit ihrer eigenen Gangart und auf eigenen Wegen, aber in Richtung eines Fluchtpunkts, auf den auch die anderen zustreben".

Auf ihrem Weg in die Moderne erlebt die islamische Welt eine Übergangskrise, so das Fazit der Bevölkerungswissenschaftler. Mittelfristig stünden die reaktionären Kräfte auf verlorenem Posten, auch wenn momentan der radikale Islamismus DIE stärkste politische Reaktion auf diese Übergangskrise darstellt.

"Nach dem historischen Gesetz, nach dem einem Geburtenrückgang eine religiöse Krise vorangeht, sieht es jedoch eher so aus, als stelle der Islamismus eine augenblickliche Bewegung und keineswegs das Ende der Geschichte dar." Todd und Courbage prognostizieren eine Zeit nach dem Islamismus, eine "entislamisierte muslimische Welt" – nach dem Vorbild des christlichen Abendlandes und des buddhistischen Fernen Ostens.

Gibt es einen universellen Verlauf der Geschichte?

Genau an dieser Stelle setzen Kritiker an. Wird dieser Wandel wirklich so, wie von den beiden französischen Autoren prognostiziert, dem europäischen Modell folgen?

Dieser Schluss aus den brisanten Daten sei zu einfach. Das Vorhandensein der beiden sicher wichtigen Indikatoren "Alphabetisierung" und "Geburtenrückgang" bedeute nicht zwangsläufig, dass die Entwicklung in der islamischen Welt genauso verlaufen wird, wie sie es in der westlichen Welt getan hat.

Es komme ja auch darauf an, "was die Frauen lesen und ein Geburtenrückgang kann ja auch bedeuten, dass pränataltechnologische Erkenntnisse genutzt werden, um die Mädchen abzutreiben", schreibt etwa Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Allerdings: Es wäre nicht das erste Mal, dass Emmanuel Todd mit seinen Aufsehen erregenden Prognosen richtig läge.

Maik Meuser

© Qantara.de 2008

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