Eine Art "Gewächshaus" für Dschihadisten

Paris. Anarchie, Gewalt und eine angsterregende Zukunft: In Lagern in Syrien wächst aus Sicht von Experten die nächste Generation von Dschihadisten heran - so wie einst das Camp Bucca im Irak die Entstehung des sogenannten Islamischen Staats (IS) befeuerte.



Zehntausende Menschen leben in erbärmlichen Verhältnissen, in schlecht gesicherten Strukturen. In den Lagern wächst eine große Zahl von Kindern mit Hass auf den Westen auf. Die Hälfte der 62.000 Bewohner des Lagers Al-Hol im Nordosten Syriens sind Iraker. Die meisten von ihnen flüchteten oder ergaben sich in den letzten Tagen der IS-Herrschaft. In einem abgetrennten Hochsicherheitsbereich leben die Frauen und Kinder mutmaßlicher ausländischer IS-Kämpfer.



Al-Hol ist voll mit IS-Schläferzellen und Waffen. Gewaltausbrüche, Angriffe auf Wächter und Hilfsarbeiter sowie Mitglieder von Flüchtlingsfamilien sind alltäglich. Am Samstag meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte den Tod von drei Menschen in Al-Hol, darunter zwei irakische Flüchtlinge, die zuvor bedroht und deshalb in einem besonders geschützten Bereich untergebracht worden seien.



Bereits im Februar hatte der Chef des US-Streitkräftekommandos für den Nahen Osten (Centcom), US-General Kenneth McKenzie, die Menschen im Lager Al-Hol in Erinnerung gerufen, von denen zwei Drittel minderjährig und mehr als die Hälfte jünger als zwölf Jahre sind. "Das Langzeitrisiko ist die Indoktrinierung", sagte McKenzie. Es handele sich um eine "alarmierende Entwicklung", für die es keine militärische Lösung gebe.



Craig Whiteside von der US-Seekriegsakademie sagte der Nachrichtenagentur AFP, bei den Lagerbewohnern handele es sich um "explosives Humankapital". Wie andere Beobachter rechnet auch er damit, dass der IS, nach wie vor in Syrien präsent, zu gegebener Zeit versuchen wird, Gefangene aus den Lagern zu befreien. "Sie warten auf den richtigen Moment", ist sich Whiteside sicher. Er selbst habe IS-Dokumente gesehen, in denen ein Budget für das Freikaufen von Inhaftierten vorgesehen war. Auch für den großen IS-Konkurrenten Al-Kaida seien die Lager allein durch ihre Existenz ein "großartiges Propagandawerkzeug", ergänzt Whiteside.



Die Zeit für eine Lösung drängt. Experten zufolge haben die kurdischen Behörden, die das Gebiet verwalten, es satt, sich weiter um die Lager zu kümmern. Weder Bagdad noch Damaskus wollen etwas von ihnen wissen. Und von den Herkunftsländern der dort Inhaftierten, allen voran den westlichen, sträuben sich viele, die Insassen zurückzuholen und den jeweiligen Justizsystemen zu überlassen.



Der Terrorismusexperte Yoram Schweitzer vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv beschreibt das Umfeld, in dem die Kinder in Al-Hol aufwachsen, als eine Art "Gewächshaus" für Dschihadisten. Zwar sei es unmöglich abzuschätzen, wie viele von ihnen tatsächlich zu Terroristen würden, es werde aber unausweichlich geschehen.



Ein Blick zurück verdeutlicht die Bedrohung, die von solchen Lagern ausgeht. In den 2000er Jahren hatten die USA zehntausende Menschen im Camp Bucca im Südirak inhaftiert. Darunter waren ehemalige Offiziere Saddam Husseins sowie Mitglieder seiner Baath-Partei. Der Islamismus-Experte Will McCants stellte bereits 2015 zu den Häftlingen in Camp Buccas fest: "Auch wenn sie vielleicht bei ihrer Ankunft keine Dschihadisten waren, wurden viele es vor ihrem Abschied." Demnach zirkulierten "radikale dschihadistische Manifeste" vor den Augen der "aufmerksamen, aber unwissenden Amerikaner".



Zu den Insassen von Camp Bucca gehörten auch der spätere IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi sowie sein Nachfolger Amir Mohammed al-Mawli. Bei seiner Entlassung habe al-Bagdadi laut McCants ein prall gefülltes Adressbuch besessen. "Sie haben ihre jeweiligen Nummern in die Gummizüge ihrer Unterwäsche notiert."



Experte Schweitzer fordert entsprechend die Auflösung der Gefangenenlager in Syrien und ein Ende des "humanitären Desasters". Wer unter solchen Bedingungen inhaftiert werde, habe das Potenzial, in die Kriminalität oder den Terrorismus abzurutschen, sagt Schweitzer. "Es ist wie stehendes Wasser, das faul wird. Es muss abfließen können. Nichts Gutes kann daraus entstehen." (AFP)