Islamwissenschaftler Khorchide über 9/11 und die islamische Welt

Münster. Die Anschläge des 11. September 2001 waren der Beginn einer Gewaltspirale, die den Nahen und Mittleren Osten ins Chaos stürzte. Nach dem Afghanistan-Desaster erscheint die Kluft zwischen islamischer Welt und dem Westen tiefer denn je. Doch zumindest in Deutschland ergaben sich aus der Terrorkatastrophe von New York auch positive Entwicklungen, meint der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, Mouhanad Khorchide.

KNA: Herr Khorchide, die erste Frage lautet natürlich: Wo waren Sie am 11. September 2001?



Khorchide: Ich war damals bei meinen Eltern in der saudischen Hauptstadt Riad, um die Verlobung meines Bruders zu feiern. Als die Nachricht von den Anschlägen kam, versammelte sich alles vor dem Fernseher. Nachbarn und Freunde riefen an. Diese Bilder hatte niemand erwartet. Am Abend wurde dann heftig diskutiert.



KNA: Sie waren in Saudi-Arabien? Wie waren die Reaktionen dort?



Khorchide: Viele Saudis reagierten so wie viele Muslime auf der Welt: mit Schadenfreude. Nicht die unschuldigen Opfer standen im Vordergrund, sondern die Ablehnung der Supermacht USA als Weltpolizist. Der Hass auf ihren politischen Einfluss im Nahen Osten, ihre Rolle als Führungsmacht des Westens mit seiner technologischen Überlegenheit und kulturellen Dominanz und natürlich die US-Hilfe für Israel - da kam vieles zusammen. Nun spürt Amerika die Demütigung mal am eigenen Leib, dachten sich viele. Obendrein waren Osama bin Laden und 16 der Attentäter saudische Staatsbürger. Das sorgte bei manchem für klammheimliche Freude und sogar Stolz.



KNA: Plötzlich schaute die Welt auf die Meinung islamischer Gelehrter. Welche Signale sendeten diese Kreise nach den Anschlägen?



Khorchide: Eine kleine Minderheit extremer Hardliner versuchte den Massenmord als Akt der Selbstverteidigung gegen den Zugriff des Westens zu rechtfertigen. Die meisten namhaften Gelehrten zogen sich aber mit Allgemeinplätzen aus der Affäre wie "Das hat mit dem Islam nichts zu tun" oder "Der Islam verbietet das Töten Unschuldiger". Eine echte Auseinandersetzung mit der Gewaltfrage im Islam und seinen Quellen wie dem Koran fand nicht statt. Es ging vor allem darum, den Ruf der Religion nicht noch mehr zu beschädigen, man igelte sich hinter dem Mantra ein: "Der Islam ist eine friedliche Religion", ohne die Kritik daran zu reflektieren. Und die USA und ihre Verbündeten begünstigten diese Haltung mit ihrer Politik nach den Anschlägen.



KNA: Inwiefern?



Khorchide: Die Amerikaner verwandelten sich aus muslimischer Sicht bald wieder vom Opfer zum Aggressor. Der Angriff auf die Basis von Al-Kaida in Afghanistan wurde vielleicht noch verstanden, aber nicht die langfristige und jetzt gescheiterte Besetzung des Landes. Völlig abgelehnt wurde der Irak-Krieg 2003, der auf Lügen Washingtons basierte, den US-Ölinteressen diente und den Nahen Osten ins Chaos stürzte. Diese gewaltsame Machtpolitik hat es Muslimen lange erlaubt, sich wieder selbst als Opfer des skrupellosen Westens zu fühlen. Sie führte teils auch zur Ausbreitung von Verschwörungstheorien, wonach die USA oder "die Juden" die Anschläge selbst inszeniert haben sollen, um einen Vorwand zum Kriegführen zu haben.



KNA: Der Aufstieg des IS im Zuge des Syrien-Kriegs zeigte Muslime dann wieder als Täter - in einer bisher kaum gekannten barbarischen Form. Was hat das in der islamischen Welt ausgelöst?



Khorchide: Die theologische Debatte kam damit in Gang. Anders als bei 9/11 wütete der Terror nun unmittelbar in den islamischen Kernländern. Muslime wurden zu Opfern von Muslimen und der IS beging furchtbare Grausamkeiten an Christen und Jesiden. In Staaten wie Ägypten, den Emiraten und sogar in Saudi-Arabien kamen Reformen in Gang. Die Rechte von Frauen oder auch von Nichtmuslimen wurden gestärkt, zum Beispiel das Recht der ägyptischen Kopten, Kirchen zu bauen. In Saudi-Arabien wurde der Einfluss der erzkonservativen wahhabitischen Gelehrten zurückgedrängt. Ich hoffe da auf gravierende Fortschritte.



KNA: Hat die Entwicklung seit 9/11 auch eine Debatte um den Dschihad-Begriff belebt?



Khorchide: Dschihad ist kein klar definierter Begriff. Der Koran spricht davon, ohne den "heiligen Krieg" genauer einzugrenzen. Über Jahrhunderte wurde er offensiv ausgelegt. Der Kampf gegen die "Ungläubigen" galt als Pflicht, bis die Welt islamisch ist. Später entwickelten Gelehrte die Vorstellung, dass Dschihad nur ein Verteidigungskrieg sein könne, der auch nicht gegen Staaten geführt werden darf, in denen Muslime ihren Glauben leben dürfen. Das ist heute die Mehrheitsmeinung, auch wenn es dafür in den klassischen Quellen keine Belege gibt. Aber schon aus militärischer Schwäche blieb den Muslimen gar nichts anderes übrig.



KNA: Nach diesem Verständnis wäre der Kampf der Taliban gegen nichtmuslimische Truppen in ihrem Land ein gerechtfertigter Dschihad?



Khorchide: So wurde es sicher von den meisten Gelehrten gesehen. Das dürfte ein Grund dafür sein, warum jetzt aus islamischen Staaten so wenig Kritik an den Taliban zu hören ist, obwohl ihr rigides Scharia-Verständnis durchaus abgelehnt wird. Bis auf wenige extremistische Ausnahmen gilt es aber als Konsens, dass Terror gegen unschuldige Zivilisten als unislamisch gilt. Auch nach dem klassisch-offensiven Dschihad-Konzept sind solche Taten zu verurteilen.



Terroristen wie Bin Laden argumentierten zwar, dass heutzutage auch die "Steuerzahler" der Feindstaaten legitime Angriffsziele sind, aber das lässt sich theologisch nicht rechtfertigen. Ich finde diese Kategorien Angriff versus Verteidigung heute wenig hilfreich, denn auch der IS meint, sich nur zu verteidigen. Ich sehe heute keine religiöse Legitimation mehr für Krieg, auch nicht für einen Verteidigungskampf.



KNA: Blicken wir noch ins Inland. Welche Auswirkungen hatte 9/11 für die Muslime in Deutschland?



Khorchide: Das Interesse am Islam hierzulande ist danach sehr stark gewachsen, auch vonseiten der Politik. Plötzlich wurde die Förderung eines moderaten Islam Staatsräson. Das führte zu konstruktiven Beschlüssen: der islamische Religionsunterricht an Schulen, die Errichtung islamisch-theologischer Seminare an deutschen Unis oder der intensive Austausch in der 2006 gegründeten Deutschen Islamkonferenz - das sind alles positive Entwicklungen.



Auf der anderen Seite wuchs aber auch die Polarisierung. Rechtspopulisten instrumentalisierten den Terrorismus und stellen Muslime pauschal als Gefahr dar. Dagegen verschanzt sich der Politische Islam hinter Schlagworten wie "Islamophobie" oder "antimuslimischer Rassismus", die von vielen Medien und dem linken Spektrum gerne übernommen werden. Dabei behindern sie die notwendige sachliche Debatte über radikale Tendenzen im Islam nur. (KNA)