Deutsche Medien decken auf: Es gibt Palästinenser

Die Medizinerin und Journalistin distanzierte sich von ihrer Teilnahme an der Al-Kuds-Demonstration.Foto: WDR/Tilman Schenk
Die Medizinerin und Journalistin distanzierte sich von ihrer Teilnahme an der Al-Kuds-Demonstration.Foto: WDR/Tilman Schenk

Eine Nachwuchsjournalistin wird mit Antisemitismus- und Islamismus-Vorwürfen konfrontiert. Es soll sie den Job kosten. Ein pädagogisch wertvolles Lehrstück aus der deutschen Gegenwart, meint Stefan Buchen.

By Stefan Buchen

Was ein Skandal ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. "Bild" glaubte - mal wieder -, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen aufgedeckt zu haben. Die Zeitung präsentierte ein Foto, das die Journalistin Nemi El-Hassan als Teilnehmerin an der al-Quds-Demo 2014 in Berlin zeigt.

Zudem habe die junge Frau den Sinn des Begriffs "Dschihad" in einem Video von 2015 mit "freundlich sein", "arbeiten" und "geduldig sein" erklärt und damit verharmlost. Die Enthüllung unter der Überschrift "Islamismus-Skandal beim WDR" kam drei Tage, nachdem der öffentlich-rechtliche Sender die 28-Jährige als künftige Moderatorin des renommierten Wissenschaftsmagazins "Quarks" vorgestellt hatte.

Den Start beim WDR wollte "Bild" der Journalistin, die an der Charité in Berlin ein Medizinstudium absolvierte und approbierte Ärztin ist, offenbar verhageln. Denn wer an antisemitischen Demos teilnehme, auf denen zur Vernichtung des Staates Israel aufgerufen werde, und islamistische Gewalt relativiere, sei als Moderatorin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk ungeeignet, legte das Blatt nahe. Der WDR reagierte und setzte die Zusammenarbeit mit Nemi El-Hassan einstweilen aus, um die Sache "sorgfältig" zu prüfen.

Die jährliche al-Quds-Kundgebung ist in der Tat kein guter Ort. Die Propaganda-Veranstaltung wurde von Ayatollah Khomeini ins Leben gerufen. Sie soll die Unterstützung der Islamischen Republik Iran für die Sache der Palästinenser zur Schau stellen. Jerusalem (al-Quds) und ganz Palästina sollen von den Zionisten befreit werden, fordern die Demonstranten alljährlich im Ramadan.

In Berlin wohnen relativ viele Migranten aus dem Libanon. Einige von ihnen sind Schiiten und sympathisieren mit der pro-iranischen Hizbullah. Daher verfügen Irans Machthaber hier über ein gewisses Fußvolk, so dass sich regelmäßig einige Hundert Demonstranten einfinden. Die Feindschaft gegen den Staat Israel ist Programm. Auch antisemitische Parolen fallen bei diesen Demos.

Die Veranstaltung "Begriffswelten Islam" in der Bundeszentrale für politische Bildung mit Thomas de Maiziere und Nemi El-Hassan. (Foto: imago/Christian Ditsch)
"Ziel von Deradikalisierungsarbeit ist es, dass Menschen sich nachhaltig von extremistisch orientiertem Denken und Handeln distanzieren," schreibt das Bundesinnenministerium. Bund und Länder geben jedes Jahr Millionen aus, um gewaltbereite Islamisten und Neonazis auf den Weg der Tugend zu führen. Nemi El-Hassan brauchte keine staatlich beauftragten Psychologen, Sozialarbeiter oder Anti-Gewalt-Trainer. Sie hat aus eigener Kraft dazugelernt und sich verbessert. Sollte sie jemals wirklich "radikal" gewesen sein, hat sie sich deradikalisiert, konstatiert Stefan Buchen.

Was bedeutet es, dass Nemi El-Hassan, geboren in Deutschland als Tochter einer libanesischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, im Alter von 20 Jahren bei der al-Quds-Demo mitlief? Ist sie deswegen eine Islamistin und Antisemitin, wie es die Treiber der Kampagne verstanden wissen wollen?

Nemi El-Hassan hat die Teilnahme an der Demo vor sieben Jahren als "Fehler" bezeichnet. Sie hat sich von dem dort hinausgebrüllten Hass distanziert und sogar gesagt, dass sie sich heute für die damalige Zeit "schämt". Das bekräftigte sie auch im Gespräch mit Qantara.de.

"Menschen verändern sich," sagt sie. "Ich war eine erzkonservative Schiitin. Aber das bin ich heute nicht mehr."

Der persönliche Weg von Nemi El-Hassan von jener Zeit bis zum jetzigen Eklat spricht Bände. Sie wurde gleichzeitig Medizinerin und Journalistin. Für das investigative ZDF-Magazin frontal 21 stellte sie in beeindruckenden Reportagen Möchtegern-Chirurgen bloß, die den Schönheitswahn junger Frauen ausnutzen, und Neonazis, die den Holocaust leugnen. Sie reiste nach Israel, sprach mit Israelis und verarbeitete ihre Erfahrungen in Texten. Dieser Schritt, den Staat des "Feindes" zu betreten, ist ungewöhnlich für einen Menschen palästinensischer Herkunft, der keine Verwandten mehr in Israel hat. Sie sei deswegen von muslimischer Seite kritisiert worden, erzählt sie. Im Netz trat sie als eine der "Datteltäter" auf, die in lustigen Videos das Leben junger Migranten zwischen Diskriminierung und Anerkennung reflektieren.

 

In der groß angekündigten Story der WaS über #NemiElHassan ist nichts relevantes zu finden, nur ein irreführendes Verständnis des Antisemitismus. Dass @Nemi_Elh als Nachkomme palästinensischer Flüchtlinge kein Israel-Fan ist, macht sie nicht zur Antisemitin. /3 pic.twitter.com/p1TRmbIyVa

— Dr. Meron Mendel (@MeronMendel) September 18, 2021

 

Kulturkampf in Deutschland 

Und nun soll ihr Werdegang unter Verweis auf ihre "Vergangenheit" jäh gestoppt werden? Der Fall Nemi El-Hassan zeigt, wie plump und zugleich verbissen das Spektrum zwischen Axel Springer und AfD versucht, neue Gesichter aus der Gesellschaft zu verbannen. Die Schlagwörter "Antisemitin", "Islamistin", "radikale Palästinenserin" sollen in dieser Ideenwelt ausreichen, um eine Karriere zu zerstören. "Bild"-Chef Julian Reichelt verstieg sich sogar zu der Aussage, eine Islamistin wie Nemi El-Hassan könne schon deshalb keine Wissenschaftssendung moderieren, weil Koran und Wissenschaft unvereinbar seien.

Hier zeigt sich: In dieser Kampagne sind moderne Alchemisten am Werk, die Faktenfetzen und Satzfragmente zu einem toxischen Brei zusammenrühren. Das geneigte Publikum soll den nicht bloß genießbar, sondern sogar lecker finden. Das islamische Zentrum Hamburg, das Nemi El-Hassan mehrfach besuchte, ist dann nur noch der Außenposten des Mullah-Regimes und nicht mehr die Moschee an der Außenalster, mit der Olaf Scholz, als er noch Erster Bürgermeister der Hansestadt war, einen Staatsvertrag schloss (kann Olaf Scholz unter diesen Umständen überhaupt Bundeskanzler werden?).

Wer wie Nemi El-Hassan vom Rückkehrrecht der Palästinenser spricht, steht in dieser Schlagwort-Alchemie prompt unter Antisemitismusverdacht. Dass ein israelischer Premierminister 1993 einen Friedensvertrag mit den Palästinensern unterzeichnete, in dem der Rückkehrfrage ein eigenes Kapitel gewidmet war, darf in der Kampagne natürlich nicht erwähnt werden. Es wäre ein störendes Element. Eine "Palästinenserin" ist nach dieser kruden Lehre per se schon radikal. Ihre schiere Existenz reicht als Beweis. Der Hass auf Israel ist ihr eingebrannt. Der Antisemitismus der Deutschen hingegen hat sich dank dieser Alchemie in Luft aufgelöst. An seine Stelle sind hokuspokus Zuneigung und Treue zu Israel getreten.

 

Die Hetzkampagne gegen #NemiElHassan führte dazu, dass eine gesamtgesellschaftliche Debatte über #Antisemitismus im Keim erstickt wurde. Es täte uns allen gut, sachlich darüber zu diskutieren. Wir haben das intern ausführlich getan, hier unser Ergebnis: https://t.co/WeFQNg3dUg pic.twitter.com/LgJ93xupUV

— Neue deutsche Medienmacher*innen (@NDMedienmacher) September 21, 2021

 

Es mag trivial klingen, ist es in dieser Debatte aber offenbar nicht. Auch Menschen palästinensischer Herkunft haben ihre eigene Geschichte, ihre Perspektive. Weil viele von ihnen dem israelischen Staat buchstäblich weichen mussten, dürfen sie auch antizionistisch sein und Ressentiments gegen Israel haben. Ziel der deutschen Mehrheitsgesellschaft sollte es nicht sein, Palästinenser wegen angeborener Radikalität zu diffamieren und auszugrenzen. Vielmehr sollte sie mit guten Argumenten dafür werben, verhärtete Positionen aufzugeben und die Realität des Staates Israel anzuerkennen. Man nennt es auch Dialog.

Nemi El-Hassan ist zum Glück keine Alchemistin, sondern eine Naturwissenschaftlerin, die gerade eine Reportage über E-Autos gedreht hat. Wie alle jungen Menschen hat sie ein Recht auf Entwicklung der Persönlichkeit. Sie hat das Recht, Wege auszuprobieren, naiv zu sein und sich zu irren. Alles deutet daraufhin, dass sie ihre Bildschirmpräsenz nicht dazu missbrauchen wird, eine Kalaschnikow unterm Studiopult hervorzukramen und eine kriegerische Deutung des Dschihad in ihre Moderationen einzuflechten.

Deradikalisierung ist in Deutschland ein politisches Ziel

"Ziel von Deradikalisierungsarbeit ist es, dass Menschen sich nachhaltig von extremistisch orientiertem Denken und Handeln distanzieren," schreibt das Bundesinnenministerium. Bund und Länder geben jedes Jahr Millionen aus, um gewaltbereite Islamisten und Neonazis auf den Weg der Tugend zu führen. Deradikalisierung ist in Deutschland ein politisches Ziel. Nemi El-Hassan brauchte keine staatlich beauftragten Psychologen, Sozialarbeiter oder Anti-Gewalt-Trainer. Sie hat aus eigener Kraft dazugelernt und sich verbessert. Sollte sie jemals wirklich "radikal" gewesen sein, hat sie sich deradikalisiert.

 

Ich finde, #ElHassan hat sich jetzt klar und glaubwürdig entschuldigt. Nun sollte es gut sein. Sie sollte „Quarks“ moderieren.

— Alan Posener (@APosener) September 16, 2021

 

Ihre Gegner vermuten ein Täuschungsmanöver. Ihr Kopftuch etwa habe die Journalistin nur zum Schein abgelegt. So wolle sie von ihrem radikalen Islamismus ablenken. Womöglich haben die Treiber der Kampagne zu viele Romane von Tagesschausprecher Constantin Schreiber gelesen.

"Manchen werden Fehler zugestanden," sagt Nemi El-Hassan im Gespräch mit Qantara.de. "Aber es gibt Leute wie mich, denen keine Fehler zugestanden werden. Da herrschen zweierlei Maß."

"Bild" hat aufgedeckt, dass es Palästinenser gibt. Insofern hat die Enthüllung etwas Lehrreiches. Gut ist auch, wenn Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte nun davon abgehalten werden, auf die falschen Demos zu gehen. Auch im Herzen der Anti-El-Hassan-Kampagne scheint es gewisse Lernfortschritte zu geben. Er finde, die Journalistin habe sich "klar und glaubwürdig entschuldigt," twitterte Alan Posener von der "Welt", der vornehmen Schwester der "Bild". "Nun soll es gut sein. Sie sollte ´Quarks´ moderieren."

Bleibt also abzuwarten, was die "Prüfung" des WDR ergeben wird. Wenn die Anstaltchefs sich sorgfältig umschauen, werden sie feststellen, dass es migrantische Nachwuchskräfte gibt, die peinlich darauf achten, nicht anzuecken und nicht aufzufallen. Leute, die die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft antizipieren und jegliche mitgeschleppte Identitäten verstecken. Solcher Charaktere gibt es schon zu viele in dieser Gesellschaft. Wir brauchen mehr Persönlichkeiten wie Nemi El-Hassan. Es wäre fatal, wenn die Kampagne gegen sie Erfolg hätte.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2021

Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama. Er studierte Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv.