Von Identität, Migration und Spaltung: Frankreichs koloniales Erbe

Als Algerier in Frankreich 1961 gegen eine Ausgangssperre demonstrieren, werden Tausende festgenommen, etliche getötet. Sechzig Jahre später wird das Massaker nicht mehr verschwiegen. An anderer Stelle ist das koloniale Erbe Frankreichs aber weiterhin umstritten. Von Rachel Boßmeyer, dpa

Paris. Anerkennung von Schuld, Wiedergutmachung, Rückgabe von Raubgütern - Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder als postkolonialer Kümmerer inszeniert. Als erster französischer Staatschef nahm er am Samstag an einem Gedenken anlässlich des 60. Jahrestags des lange still geschwiegenen Massakers von Paris vom 17. Oktober 1961 teil, bezeichnete die Taten als unverzeihlich. Doch dem gegenüber stehen aufgeheizte Identitätsdebatten und eine fragmentierte französische Gesellschaft - postkoloniale Spuren, die nicht mit ein paar Gesten geebnet werden können.

Das Massaker von Paris jährt sich am Sonntag zum 60. Mal. Frankreich hatte gen Ende des Algerienkriegs, in dem die damalige französische Kolonie Algerien von 1954 bis 1962 für ihre Unabhängigkeit kämpfte, eine Ausgangssperre für die sogenannten muslimischen Franzosen aus Algerien verhängt. Zum 17. Oktober 1961 riefen sie zum Boykott auf, der systematisch niedergeschlagen wurde. Die Polizei nahm etwa 12 000 Algerier fest, prügelte etliche zu Tode und erschoss weitere. Einige Leichen wurden später in der Seine gefunden.



Die genaue Opferzahl ist bis heute unbekannt. Schätzungen gehen teils von etwa 200 aus. Das Pariser Immigrationsgeschichtsmuseum spricht von der tödlichsten Unterdrückung in Westeuropa nach 1945. Lange Zeit hüllte sich Frankreich in Schweigen um die koloniale Vergangenheit. Die Informationen waren da, doch herrschte eine gewisse Ignoranz, wie die Historikerin Malika Rahal erklärt. Heute sei der Diskurs expliziter, doch auch der Widerstand dagegen stärker. Und noch immer beeinflusst die Kolonialzeit die Verhältnisse in Frankreich, etwa beim Thema Zugehörigkeit, wie Soziologe Ahmed Boubeker sagt. «Wir sind dabei, eine Vision der Staatsbürgerschaft zu schaffen, die auf Rasse und kultureller Herkunft basiert.» Manche Franzosen würden nicht als gleichwertig gesehen, Menschen mit postkolonialer Migrationsgeschichte immer stärker als andersartig dargestellt und diskriminiert.



Für Boubeker treffen hier die soziale und postkoloniale Frage zusammen. «Die Menschen in den prekärsten Situationen sind die in der Banlieue, und in der Banlieue leben überwiegend Menschen mit postkolonialer Migrationsgeschichte.» Eine ganze Jugend habe erschwerten Zugang zu Bildung, sei am Rande des Arbeitsmarkts, sei selbst in der Freizeit Rassismus ausgesetzt. Dass es dafür noch immer keine Lösung gebe, sei auch, weil ein Erinnern der Kolonialzeit verweigert werde. Er gebe neue internen Grenzen, die dem Postkolonialismus Aktualität gäben.

Im französischen Vorwahlkampf zur Präsidentschaftswahl im April macht derzeit wieder verstärkt ein anderes Thema von sich hören: Einwanderung. Marine Le Pen vom extrem rechten Rassemblement National wirbt mit einer Volksabstimmung zur Begrenzung der Einwanderung. Auch aus dem konservativen Lager um Xavier Bertrand, Valérie Pécresse und Michel Barnier gibt es Forderungen nach Quotenregelungen und einer freieren staatlichen Handhabe. Und am extrem rechten Ufer macht der Populist Éric Zemmour Le Pen mit Aussagen zur Ausweisung von Menschen mit Migrationsgeschichte oder einer gesetzlichen Pflicht zu einem vermeintlich französischen Vornamen für Neugeborene Konkurrenz.



Laut Boubeker geht es dabei oft nicht um Migranten, sondern um Franzosen mit Migrationsgeschichte. Für Rahal spiegelt die Debatte die verklärte Sehnsucht nach einem einstigen starken französischen Reich wider, das überwiegend weiß und christlich imaginiert werde.



Der aktuelle Migrationsdiskurs sei gänzlich mit der Frage vermischt, welchen Platz die koloniale Vergangenheit in Frankreich haben solle. Diese Frage scheint auch Macron umzutreiben. Immer wieder bemühte er sich in den letzten Jahren öffentlichkeitswirksam, Brücken zur französischen Vergangenheit, den ehemaligen Kolonien und den Nachfahren der Kolonialisierten zu bauen. Unter seiner Präsidentschaft wurden Berichte über die Rolle Frankreichs in Algerien und Ruanda in Auftrag gegeben, der Staat versprach, geraubte Kulturgüter zurück zu geben, und zuletzt sagte Macron ehemaligen algerischen Kämpfern für Frankreich Entschädigungszahlungen zu.



Für die Historikerin Florence Bernault steht dahinter ein aufrichtiger Wille, den sie zuvor bei keinem anderen französischen Staatsoberhaupt gesehen hat. Doch sie erkennt auch eine neokoloniale Haltung: Macron belehre, Frankreich sei immer der Hauptakteur, und eine Neugestaltung der Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien diene letztlich vermutlich der Legitimierung des französischen Einflusses dort. Rahal kritisiert zudem, dass Macron zwar viele ersehnte Gesten erbracht habe, diese aber selektiv und nicht systematisch seien. «Das ist keine Politik, das ist eine Inszenierung.» (dpa)