Bibi-Dämmerung? - Israels vierte Wahl in zwei Jahren

Wahlen in Corona-Zeiten machen außergewöhnliche Maßnahmen nötig. So sollen in Israel spezielle Busse auch Infizierten die Stimmabgabe ermöglichen. Ob Benjamin Netanjahu Ministerpräsident bleiben kann, ist trotz erfolgreicher Impfkampagne ungewiss. Von Sebastian Engel, dpa



Tel Aviv. Häufig hat er in seinem Leben noch nicht gewählt. «Vielleicht zwei Mal», sagt Or, Fitnesstrainer aus Tel Aviv. Möglichkeiten dafür hätte der 31-Jährige mehr als doppelt so viele gehabt, doch inzwischen ist er wahlmüde. Nach Berechnungen des Israel Democracy Institute (IDI) waren die Abstände zwischen Parlamentswahlen in keinem Land in den vergangenen 25 Jahren kürzer als hier. Das Mittelmeerland stecke in der längsten politischen Krise seiner Geschichte, sagt IDI-Präsident Jochanan Plesner.



Am Dienstag (23. März) steht wieder eine Parlamentswahl an – die vierte binnen zwei Jahren. Nötig ist sie, weil das unter dem Druck der Corona-Krise geschlossene Bündnis zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinem Rivalen Benny Gantz nach wenigen Monaten zerbrochen war. Netanjahu und sein rechtskonservativer Likud dürften wieder stärkste Kraft werden. Doch ob der 71-Jährige eine Koalition formen und erneut Regierungschef werden kann, ist ungewiss.



Eine weitere Neuwahl noch in diesem Jahr ist denkbar. Netanjahu - Spitzname Bibi - ist seit 2009 durchgängig Ministerpräsident und der am längsten amtierende Regierungschef des Landes. Viele junge Israelis kennen keinen anderen. Im Wahlkampf setzt er vor allem auf außenpolitische Erfolge wie die Annäherung an arabische Golfstaaten - und auf die rasante Impfkampagne. Netanjahu will, dass die «Vaccination Nation» Israel als erster Staat die Corona-Krise hinter sich lässt. Die Chancen dafür stehen gut. Und dennoch könnte der Likud laut Umfragen Sitze im Parlament verlieren.  



Hierfür gibt es mehrere Gründe: So läuft gegen Netanjahu ein Prozess. Als erster amtierender Ministerpräsident Israels muss er sich vor Gericht gegen Korruptionsvorwürfe wehren. Seit dem Sommer gibt es jeden Samstag im ganzen Land Proteste gegen ihn. Am vergangenen Samstag zogen nahe Netanjahus Amtssitz in Jerusalem Berichten zufolge rund 20 000 Menschen auf die Straßen. Mit einer Rechtskoalition könnte Netanjahu versuchen, eine Verurteilung zu verhindern.



Viele hadern zudem mit seinem Kurs während der Corona-Krise: Die täglichen Infektionszahlen lagen 2020 über denen in vielen anderen Ländern, die Lockdown-Phasen waren sehr lang, viele Menschen verloren ihre Jobs. Auch wurde Netanjahu von säkularen Israelis zu viel Rücksichtnahme auf die Ultraorthodoxen vorgeworfen – strengreligiöse Parteien waren in der Vergangenheit sehr wichtige Partner für ihn. So entbrannte ein Streit, der die israelische Gesellschaft auf eine harte Belastungsprobe stellt.



Generell gilt: Das rechte Lager hätte eine klare Mehrheit, doch Netanjahu kann nicht auf dessen uneingeschränkte Unterstützung zählen, weil er zu viele Protagonisten verprellt hat. Das Einende und Trennende fokussiert sich bei dieser Wahl stärker auf die Person Netanjahus als auf die Frage Rechts oder Links.



Umfragen zufolge wurden Gantz und sein Bündnis Blau-Weiß in der Koalition nahezu zerrieben, der Einzug in die Knesset ist unsicher. Damit steht Netanjahu aus dem Mitte-Links-Lager vor allem die Zukunftspartei und deren Vorsitzender Jair Lapid gegenüber. Bedeutend ist zudem, dass ihm im rechten Lager starke Rivalen erwachsen sind. Politiker wie Gideon Saar wollen Netanjahu ablösen, ihm wichtige Stimmen abnehmen. Angekreidet wird Bibi von rechts unter anderem der vorläufige Verzicht auf Annexionen im Westjordanland im Gegenzug für die Annäherung an die Golfstaaten.



Zur Abstimmung aufgerufen sind am Dienstag etwa 6,6 Millionen Menschen, coronabedingt findet sie unter besonderen Umständen statt. Eine Briefwahl gibt es in Israel nicht. So werden spezielle Autos und Busse eingesetzt, um auch Infizierten die Stimmabgabe zu ermöglichen.

Knapp 60 Wahllokale stehen in Corona-Stationen der Krankenhäuser. Wegen dieser Umstände und eines anstehenden Feiertagswochenendes könnte sich die Auszählung länger als üblich hinziehen.



Etwa ein Dutzend Parteien hat die Chance, den Einzug in die 120 Sitze umfassende Knesset zu schaffen. Die Hürde dafür liegt bei 3,25 Prozent. Diese werde «eine große Rolle dabei spielen, ob Netanjahu Ministerpräsident bleiben kann oder nicht», sagt der Politologe Jonathan Rynhold. Nach Ansicht seiner Kollegin Ephrat Knoller wird Naftali Bennett aus dem rechten Lager der Königsmacher sein. Dessen siedlerfreundliche Jamina-Partei sahen Umfragen zuletzt auf Platz drei, hinter der Zukunftspartei und vor Saars Tikva Chadascha (Neue Hoffnung). Bennett will Netanjahu ablösen, er wirft ihm Versagen beim Corona-Krisenmanagement vor. Ausgeschlossen hat er es allerdings nicht, in eine Koalition unter ihm einzutreten.



Geht man nach den letzten Umfragen, dann hätten sowohl Netanjahu als auch das Anti-Netanjahu-Lager eine knappe Mehrheit, wenn sich Jamina ihnen anschlösse. Da es auf beiden Seiten bislang jedoch große Vorbehalte unter den potenziellen Koalitionären gab, dürfte ein Bündnis gleich welcher Couleur auf tönernen Füßen stehen. Als drittes Szenario droht ein Patt und daraus resultierend eine weitere Neuwahl im August. Zumindest IDI-Präsident Plesner glaubt aber nicht daran.



«Der Appetit auf eine weitere Wahl ist nicht vorhanden.» Berichten zufolge gibt es viele Unentschlossene, Überraschungen sind also möglich. (dpa)