Unberechenbare politische Manöver

Um seinen Einfluss in Afrika zu stärken, heizte der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi in der Vergangenheit Konflikte an oder spielte je nach Belieben den Friedensvermittler. Dabei könnte der libysche Revolutionsführer der Region zu mehr Stabilität verhelfen, ohne dabei an Einfluss einzubüßen. Von James M. Dorsey

Muammar al-Gaddafi; Foto: dpa
Nicht nur ein theatralischer Störenfried auf dem internationalen diplomatischen Parkett: Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi betreibt knallharte Interessenspolitik und nimmt entlang der Sahelzone eine politische Schlüsselrolle ein.

​​ Für die meisten ist der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi nichts anderes als ein theatralischer Störenfried auf dem internationalen diplomatischen Parkett. Dies ist ein Image, das der am längsten amtierende Diktator der Welt sorgsam kultiviert – mit seinen farbenprächtigen Designer-Gewändern, seiner Vorliebe für Zelte und dem Verzicht auf schicke Luxushotels in westlichen Metropolen und natürlich seinen oft schrillen politischen Erklärungen, wie dem jüngsten Aufruf zum Dschihad gegen die Schweiz.

Und doch nimmt Gaddafi im Süden seiner Wüstenrepublik entlang eines breiten Streifens der Sahelzone vom Sudan bis nach Mauretanien eine politische Schlüsselrolle ein. Seiner eigenen Definition des nationalen Interesses Libyens folgend, befeuert er Aufstände und ethnische wie religiöse Konflikte; dann wieder hilft er bei der Beilegung von Spannungen und spielt den Friedensvermittler.

Keine langfristigen Lösungen

In Libyen wurden im letzten Monat 200 Islamisten freigelassen, von denen viele Kontakte zu Al-Qaida hatten. Ein Schritt, der für Gaddafis Sohn Saif al-Islam das Ergebnis eines "erfolgreichen Dialog- und Rehabilitationsprogramms" darstellt. Das Rehabilitationsprogramm wirft ähnliche Fragen auf wie der libysche Einfluss in der Sahelzone, wo die politischen Manöver Libyens kurzfristig zwar zu einem Spannungsabbau führten, jedoch keine langfristigen Lösungen hervorbrachten, die auf sozialen, ökonomischen und politischen Reformen basieren und somit sicherstellen würden, dass die Spannungen nicht jederzeit wieder ausbrechen.

Saif al-Islam al-Gaddafi; Foto: dpa
Rehabilitationsprogramm für Extremisten: Die Entlassung einer großen Anzahl von Islamisten durch die libysche Regierung sorgte kurzfristig für Entspannung, doch längerfristige Strategien sucht man meist vergebens.

​​ Man weiß nur wenig über das libysche Rehabilitationsprogramm und ob es die Wiedereingliederung der Dschihadisten in die Gesellschaft beinhaltet wie es in Saudi-Arabien der Fall ist. Dort wird denen, die sich reumütig zeigen, nicht nur eine Arbeit, ein Haus und ein eigenes Auto angeboten, sondern es wird für sie auch eine Ehe arrangiert, damit sie eine Familie gründen können.

"Mit der Freilassung dieser Führer haben wir unser Programm des Dialogs und der Versöhnung zu einem Abschluss gebracht", erklärte Saif al-Islam. Libysche Offizielle sagten, dass bei Zusammenstößen über einige Jahre hinweg insgesamt 165 Sicherheitsbeamte und 177 Aufständische getötet worden seien. Geschätzte 400 Kämpfer verbleiben noch in libyschen Gefängnissen, von denen aber 232 schon bald auf freien Fuß gelangen würden, wie Saif al-Islam weiter mitteilte. Auf einer Pressekonferenz rief er in Algerien und Mali kämpfende Islamisten dazu auf, ihre Waffen niederzulegen und als freie Bürger nach Libyen zurückzukehren.

Viele dieser Kämpfer haben ihre Wurzeln in Gaddafis Islamischer Legion und der in den 1980er Jahren gegründeten arabischen Sammlungsbewegung, die dem libyschen Führer erlaubte, seinen Einfluss auf die Länder entlang der Sahelzone auszudehnen. Die gefürchteten Dschandschawid in Darfur, berittene arabische Stammesangehörige, sind hier nur ein Beispiel von mehreren. Sie erledigen zuweilen die Drecksarbeit für den sudanesischen Führer Omar al-Bashir, indem sie plündern, marodieren und einen Großteil der Bevölkerung terrorisieren, und werden zudem verdächtigt, regierungsfeindliche Rebellen zu unterstützen.

Arabische Vormachtstellung unter islamischen Vorzeichen

"Wie jede extremistische Bewegung haben auch die Dschandschawid ihre Wurzeln im Elend und in einer Opferrolle", meint Rob Crilly in seinem jüngsten Buch Saving Darfur: "Wüstenbildung und eine Reihe von verheerenden Dürren in den 1980er Jahren haben die Kämpfe um das spärliche Weideland verstärkt, den Zugang zu Futter erschwert und zu einer Zuspitzung von Stammeskonflikten geführt. Doch es brauchte noch etwas, um aus den Dschandschawid eine bösartige Killermaschinerie zu machen und dieses etwas stammte nicht von den arabischen Machthabern in Khartum, sondern von jenseits der Sahara."

Milizen der Dschandschawid; Foto: Auswärtiges Amt
Gewollte Eskalation: Durch die Unterstützung extremistischer Gruppen wie der Dschandschawid im Sudan erlangt Libyen politischen Einfluss entlang der Sahelzone, destabilisiert diese gleichzeitig aber auch.

​​ Diese Kraft war der vom Islam befeuerte Drang nach arabischer Vorherrschaft: Musa Hilal, der Führer der Dschandschawid, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt wurde, war die treibende Kraft, die das Schicksal Hunderttausender Menschen in Darfur, die ihr Leben verloren und Millionen anderer, die vor dem Krieg flohen, besiegelte. Aus Gaddafis Sicht ist Darfur ein östlicher Zugangspunkt in den Tschad, einem aufgegebenen Land, worin der libysche Führer seit langem den Eckpfeiler eines pan-arabischen Reichs sieht, das er in der Sahelzone installieren möchte.

Seit 1985 liefert Gaddafi Öl und Waffen in den Sudan. Im Gegenzug wird ihm erlaubt, Stammesangehörige aus Darfur in seine Islamische Legion einzuziehen und Dissidenten aus dem Tschad mit Waffen auszurüsten, mit denen diese grenzüberschreitende Angriffe unternehmen können: "Dort, wo die Stämme früher miteinander ausgekommen sind, untereinander geheiratet haben und Konflikte mithilfe alter Traditionen von Dialog und dem 'diyya'-Prinzip, dem islamischen Blutgeld, gelöst haben, haben heute außen stehende Kräfte diese Beziehungen zunichte gemacht", meint Crilly. "Die vielen Identitäten der Menschen in der Region – sudanesisch, darfurisch, arabisch, Stammes- und Klanszugehörigerigkeiten – wichen alle einer einzigen Identität."

Nicht falsch, aber unbeständig

Faktisch wurde damit der Geist aus der Flasche gelassen. Während Gaddafis Macht in der Region durch die bewaffneten Konflikte massiv gestärkt wurde, erschwerten sich die Bemühungen um Stabilität und ebenso die Versuche, lokale Missstände in den Staaten der Sahelzone mit schwachen Regierungen zu beheben.

Als Vorsitzender der Afrikanischen Union im letzten Jahr änderte Gaddafi einmal mehr seine Haltung und trat für Frieden in der Sahelzone ein. Im Vertrauen auf seine finanzielle Schlagkraft und Autorität innerhalb der Region handelte Gaddafi ein Ende des von ihm selbst zuvor angeheizten Konflikts zwischen dem Sudan und dem Tschad aus, der es dem Tschad erlaubte, die Rebellen mit in die Regierung einzubinden.

Seit der Unterzeichnung des Abkommens jedoch tat Gaddafi nichts für die langfristige Stabilität des Landes.

Flüchtlingskind im Sudan; Foto: AP
Durch stetige Waffen- und Öllieferungen in den Sudan verlängert Gaddafi die Krise in Darfur. Die Linderung menschlichen Leides spielt in den Überlegungen des selbsternannten Revolutionsführers keine entscheidende Rolle.

​​ "Die Kluft zwischen dem starken Druck, wenn es um die Unterzeichnung von Abkommen geht, und dem Desinteresse an ihrer Umsetzung lässt vermuten, dass es Gaddafi bei seinen Vermittlungsanstrengungen weniger um die Stabilisierung des Tschad geht, sondern eher um die Durchsetzung libyscher Interessen in der Region", schreibt die International Crisis Group in einem jüngst veröffentlichten Bericht zum libyschen Einfluss in der Sahelzone. "Wenn Libyen sich politisch für notwendige Strukturreformen einsetzen würde, würde es dem Land gelingen, wirtschaftlichen Nutzen aus seinen Vermittlungsanstrengungen zu ziehen, ohne dabei an regionalem Einfluss einzubüßen", heißt es weiter.

Im letzten Oktober überzeugte Gaddafi Angehörige der Tuareg in Mali und Niger, zwei Staaten, in denen die Al Qaida des islamischen Maghreb (AQIM) häufig mit lokalen Stämmen zusammen operierte, mit ihren jeweiligen Regierungen Friedensabkommen zu unterzeichnen. Danach ließ er sich von der staatlichen libyschen Nachrichtenagentur mit den Worten zitieren, dass alle Seiten dieses Mal entschlossen seien, stabile Abkommen auszuarbeiten.

"Zum ersten Mal wird es keinen einzigen bewaffneten Rebellen in den Bergen von Mali und Niger geben. Alle jene, die die Rebellenarmeen anführten, sitzen gerade neben mir", sagte Gaddafi und nannte fünf hohe Tuareg-Führer aus Mali und Niger. "Gerade in diesem Moment legen 1100 Kämpfer in Agades (Niger) ihre Waffen nieder. Sie hören uns gerade zu und warten auf meinen Befehl, in Frieden nach Niger zu kommen. Ich rufe ihnen zu: 'Kommt in Frieden nach Niger'."

Kurzfristige Stabilität für Niger

Ein Staatsstreich im Februar, von dem vermutet wird, dass Gaddafi ihn unterstützt hat, und bei dem Mamadou Tandja, der Präsident von Niger, gestürzt wurde, weckte Hoffnungen, dass die neue Regierung den Klagen der Tuareg mehr Gehör schenken würde. Von den Vereinten Nationen als eines der ärmsten Länder der Welt eingestuft, besitzt Niger die weltweit drittgrößten Vorkommen an Uran, deren Erschließung Tandja und seiner Familie sehr viel eher zugute kam als den Tuareg und anderen Bevölkerungsgruppen.

Karte von Sudan und den Nachbarstaaten; Quelle: Wikipedia
Plan eines pan-arabischen Großreichs: Gaddafi möchte die Regionen entlang der Sahelzone politisch vereinen und deren Führung übernehmen.

​​ "Wir hoffen, dass alle Menschen der Region von den Gewinnen aus dem Bergbau im Norden profitieren werden und dass auch die Nomaden in dieser Region einen Nutzen daraus haben werden", sagte Aghaly ag Alembo, einer der Tuareg-Führer, der Ende März in die nigerische Hauptstadt Niamey gereist war, um mit der neuen Regierung zu sprechen.

Ähnlich wie im Tschad half Gaddafi auch der Zentralafrikanischen Republik, wo etwa 300 libysche Soldaten stationiert sind, zu einer kurzfristigen Stabilität. Im November bombardierten libysche Kampfflugzeuge Stellungen der Rebellen. Nach Ansicht von Experten bewahrte diese Operation das Land vor dem Abgleiten in einen Bürgerkrieg. Und doch heizt die libysche Präsenz die Spannungen zwischen dem Tschad und der Zentralafrikanischen Republik an:

"Die Tschader sind sehr argwöhnisch gegenüber libyschen Interventionen in der Zentralafrikanischen Republik, vor allem da sie eine Ölpipeline im Süden des Landes haben, nahe der Grenze zum Nachbarn", sagt ein westlicher Diplomat in Bangui, der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik.

Ein reicher Elefant im Porzellanladen

Die selbst gewählte Rolle als Friedensbringer in der Sahelzone half Gaddafi wenig, um seine Stellung außerhalb der Region zu verbessern. Fast die Hälfte der Führer der arabischen Welt lehnte es ab, zu einem Treffen zu kommen, das Gaddafi im letzten Monat in seiner Geburtstadt Sirt abhielt.

Ebenso wenig Erfolg hatte er mit seinem Aufruf zum Dschihad gegen die Schweiz, der auf praktisch keinerlei Resonanz in der arabischen Welt stieß. Diesen hatte Gaddafi nach eigenen Angaben als Vergeltung für das Bauverbot von Minaretten nach dem Volksentscheid von 2009 gefordert; der wirkliche Grund dafür dürfte jedoch die kurze Festnahme seines Sohnes Hannibal in einem Genfer Hotel im Juli 2008 wegen eines tätlichen Angriffes auf Hotelangestellte gewesen sein.

Ende letzten Monats hob Libyen eine Visa-Sperre gegen 25 EU-Länder auf, nachdem die spanische EU-Präsidentschaft bekanntgab, dass eine von der Schweiz angestrengte schwarze Liste, die die Einreise von 188 libyschen Bürgern verhindern sollte, außer Kraft gesetzt würde: "In den Augen eines Großteils der Welt bleibt Gaddafi ein reicher Elefant im Porzellanladen", sagt ein westlicher Diplomat. "Um das zu ändern, bedarf es sehr viel mehr als ein paar wacklige afrikanische Friedensabkommen."

James M. Dorsey

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

James M. Dorsey schreibt seit 35 Jahren über ethnische und religiöse Konflikte in der ganzen Welt. Er ist Korrespondent des Wall Street Journal und der New York Times.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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