Der Sieg als Niederlage

Eine Welle der Hoffnung trug 1997 den Reformer Khatami auf den Präsidentenposten. Unterdessen hat sich unter der Bevölkerung wie auch den kritischen Exponenten der Geistlichkeit lähmende Resignation ausgebreitet. Von Navid Kermani

Eine Welle der Hoffnung trug 1997 den Reformdenker Mohammed Khatami auf den Präsidentenposten. Unterdessen hat sich unter der iranischen Bevölkerung wie auch den kritischen Exponenten der Geistlichkeit lähmende Resignation ausgebreitet. Von Navid Kermani

Iranische Geistliche in Ghom, Foto: dpa
Iranische Geistliche in Ghom

​​Mohammed Modschtahed Schabestari ist bedächtig in seinem Auftreten und Schreiben: So genau er die politischen Implikationen seiner Arbeit kennt, ist er doch kein public intellectual wie viele andere Denker der religiösen Reform in Iran, sondern seinem ganzen Habitus und seinem Denken nach ein Schriftgelehrter, der sich auf die Forschung und Exegese beschränkt.

Selbst wer Schabestari widerspricht, kann ihn nicht als theologisches Leichtgewicht abtun. Kaum ein anderer Gelehrter dringt so tief in die Quellen des Islams und der Schia ein, um ihre dunklen Aspekte und Tabus offenzulegen.

Auf die Frage, in welche Richtung sich das religiöse Reformdenken bewegen werde, da es in weiten Teilen zum Allgemeingut geworden sei, entgegnet Schabestari:

Das sei wirklich merkwürdig. Vor ein paar Jahren noch hätten reformerische Thesen in Iran und vor allem innerhalb der Geistlichkeit für Aufruhr gesorgt. Jetzt gelten die "religiösen Aufklärer" beinah schon als rückständig, werden kritisiert oder gar für irrelevant erklärt von jüngeren, strikt laizistischen Autoren.

Ein merkwürdiger Triumph ihrer Schule sei das, ein Sieg als Niederlage. Geistig hätten sie sich durchgesetzt, aber politisch seien ihre Gedanken ohne sichtbare Konsequenzen geblieben. Ja, Demokratie, Menschenrechte, eine säkulare Gesetzgebung liessen sich vereinbaren mit dem Islam und der schiitischen Tradition - aber offenbar nicht mit der Islamischen Republik.

Was nütze es also, die Religion zu reformieren, wenn der Staat nicht reformierbar erscheint, fragten ihn viele seiner Studenten. Vielleicht stehe er vor einer Wegscheide, sagt Schabestari: Entweder werde er politischer Aktivist und streite für die Umsetzung seiner Forschung, oder er höre auf, über eine gesellschaftliche Wirkung seiner Arbeit nachzudenken und ziehe sich zurück in die rein theologische Debatte.

Der einsame Rebell

Innerhalb der schiitischen Geistlichkeit ist die welayat-e faqih, die Herrschaftsdoktrin der Islamischen Republik, die die Macht im Staat in die Hände der Theologen legt, seit je die Position einer Minderheit gewesen. Zwar plädierten in den vergangenen Jahrhunderten wiederholt einzelne Gelehrte dafür, den Klerus mit der Führung der Gemeinde zu betrauen, die meisten aber blieben in den Bahnen Scheich Tusis, der im elften Jahrhundert die Abstinenz der Theologen von der Politik theologisch begründete.

Die Idee einer schiitischen Theokratie ist erstmals im 19. Jahrhundert umrissen worden. In den sechziger und siebziger Jahren hat dann der spätere Revolutionsführer Khomeiny die welayat-e faqih ausgearbeitet, die "Herrschaft des Rechtsgelehrten", die seit der Islamischen Revolution von 1979 die Grundlage des Staates bildet.

Aber noch heute verficht von den etwa zwanzig Grossayatollahs der schiitischen Welt nur ein einziger eine dezidiert politische Lesart des Islams, und dieser eine ist ausgerechnet Hossein Ali Montazeri, der sich als entschiedener Kritiker der herrschenden Theologen hervorgetan hat.

Einst als Nachfolger Khomeinys designiert, wurde er 1989 kurz vor dessen Tod entmachtet, nachdem er mit seiner Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Iran an die Öffentlichkeit getreten war. Montazeri wurde in Ghom unter Hausarrest gestellt, viele seiner Anhänger wurden verhaftet oder hingerichtet.

Inzwischen ist Montazeri einundachtzig Jahre alt und wegen seiner angegriffenen Gesundheit aus dem Hausarrest entlassen. Er lebt weiterhin in seinem bescheidenen Haus in Ghom, gibt Rechtsgutachten, empfängt Besucher und verwaltet das Geld, das ihm seine nach Millionen zählende Anhängerschaft als religiöse Steuer zukommen lässt.

Im Gespräch nimmt Montazeri kein Blatt vor den Mund, wenn er über seine ehemaligen Schüler spricht, die Staatstheologen in Teheran, die ihn ein Jahrzehnt lang gefangen gehalten haben.

Aber er beklagt sich auch deutlich über seine Kollegen in Ghom, die Ayatollahs und Grossayatollahs, die sich vor dem Regime duckten, obwohl sie doch wüssten, welches Unheil es über die Menschen und den Islam gebracht habe. Er selbst stehe allein und sei zu alt, um mehr tun zu können, als von Zeit zu Zeit die Stimme zu erheben.

Wie sonst solle er den Kampf auch führen? Die Freiheit, die er offiziell geniesse, bestehe darin, zu telefonieren, Besucher zu empfangen, den Arzt aufzusuchen; sich aktiv politisch zu betätigen, sei ihm und allen Oppositionellen in Iran verwehrt.

Korrumpierte Geistlichkeit

Montazeri ist voller Witz und Schlagfertigkeit, dazu noch ohne jeden persönlichen Dünkel, ohne eine Spur von Eitelkeit, die ihm als ranghöchstem Theologen Irans und langjährigem politischem Häftling doch zukäme. Zugleich aber erschüttert der Pessimismus, mit dem er über sein Land spricht, obwohl er doch nun selbst freigelassen worden ist.

Keine Zwangsherrschaft könne sich auf Dauer halten, sagt Montazeri, nicht mehr in dieser Welt. Die Frage aber sei doch, in welchem Zustand das Land sei, wenn es endlich selbst über seine Geschicke bestimme, ob es den Iranern noch gelinge, den Übergang friedlich und aus eigener Kraft zu gestalten.

Nur ein paar Häuser von Montazeri entfernt lebt der Grossayatollah Yussof Sanéi. Er war einer der wenigen unter den hohen Theologen Ghoms, die gegen den Hausarrest Montazeris öffentlich protestiert hatten.

Ich will wissen, warum so wenige andere Grossayatollahs in Ghom Einspruch einlegten gegen die Gewalt im Namen ihrer Religion, gegen die Unterdrückung in Iran oder die Terrorakte muslimischer Extremisten in der Welt. Weil die Geistlichkeit - und nicht bloss die iranische Geistlichkeit - eins geworden sei mit der Macht, antwortet Sanéi:

"Sie können nicht mehr mit anderer Zunge sprechen als die herrschende Macht." Natürlich seien die meisten Theologen besorgt über die Zustände, aber nur wenige wagten es, die Stimme zu erheben, aus Angst vor Verfolgung, aus Bequemlichkeit oder weil sie als Geistliche vom Regime der Theologen profitierten.

"Die Geistlichkeit hat ihre Heiligkeit verloren, weil sie Teil der Machtelite geworden ist", sagt Sanéi: "Ich habe erkannt, wie sehr Macht korrumpiert. Das Einssein von Religion und Macht ist daher ein grosser Schaden. Immer ist Macht verbunden mit Lüge, Diebstahl, Unterdrückung und Verrat. Eine religiöse Führung hingegen ist heilig. Aber gerade deswegen kann sie nicht sagen, ich will die Menschen zum Gebet anleiten, sie zum Guten weisen - und auch regieren. Denn Regieren erfordert es, die Gegner übers Ohr zu hauen, die Menschen hinters Licht zu führen. Die Welt des Regierens ist eine Welt des Unterdrückens."

Kaum zu glauben: Ausgerechnet Sanéi, der in den achtziger Jahren als glühender Mitstreiter Khomeinys und radikaler Islamist hervorgetreten war, hat damit die klassische Position der schiitischen Orthodoxie formuliert - dass die Geistlichkeit sich fernhalten müsse von der Macht, um sich nicht zu beschmutzen.

So weit würde sein Nachbar Montazeri, der das Regime viel offener attackiert, aber weiter an einer politischen Lesart des Islams festhält, nicht gehen. Er könne verstehen, fährt Sanéi fort, dass die jungen Leute sich vom Islam abwendeten, wenn sie jeden Tag die Unterdrückung, die Heuchelei, die Korruption islamischer Würdenträger erleben müssten.

Er könne verstehen, dass die Menschen im Westen ihren Respekt vor dem Islam verlören, wenn sich die Staatstheologen in Iran oder anderswo mit der Gewalt gemein machten.

Keine Rechtfertigung für den Terror

Dass das staatliche iranische Fernsehen die Selbstmordanschläge in Israel nicht als Terrorismus bezeichnet, sondern als Widerstandsakte, hält Sanéi für verwerflich.

Gedächten die Schiiten nicht jedes Jahr eines heimtückischen Mordanschlags, des Anschlages auf ihren Führer, den Führer der Muslime, Imam Ali? Ein gläubiger Schiit, zu dessen wichtigsten Ritualen doch die Trauer über einen Terrorakt gehöre, könne unmöglich den Terrorismus bejahen.

Doch die herrschenden Theologen schafften es nicht einmal, sich eindeutig von der Gewalt gegen Zivilisten zu distanzieren; schlimmer noch, der Terrorismus werde stillschweigend sogar gutgeheissen, als seien Israeli keine Zivilisten.

"Für Gott ist das alles nicht", sagt Sanéi: "Die einen töten und die anderen töten, Gewalt erzeugt Gegengewalt, und die Palästinenser verlieren und verlieren und verlieren. Wem soll das helfen? Den Israeli nicht und den Palästinensern noch weniger."

Und er selbst? Warum werde die Stimme von Geistlichen, die den Terror verurteilten, so wenig gehört in der Welt:

"Welches Medium habe ich denn in Iran, um mich zu distanzieren? Welches Fernsehen würde mich senden? Wenn ich mich im Ausland äussere, sieht es nicht besser aus. Dann kann ich zwar meine Stellungnahme abgeben. Aber zurück in Iran habe ich mit schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen. Mit Gefängnis. Das heisst nicht, dass ich keine eindeutige Haltung hätte. Terror und Mord sind ausdrücklich verboten im Islam."

Navid Kermani

© Neue Zürcher Zeitung, 19. Januar 2005