Viele Volksseelen, aber kein Volk

An sich gilt Syrien als Hochburg religiöser Toleranz im arabischen Raum. Dennoch ertönt die bange Frage: Kommt es im Fall des Umsturzes zum Bürgerkrieg? Auf einer Fläche, die halb so gross ist wie Deutschland, leben mehr als ein Dutzend ethnische oder religiöse Gemeinschaften. Und das Regime spielt Schach mit ihnen. Von Mona Sarkis

2007 schrieb der kurdische Aktivist Mechi ad-Din Iso einen offenen Brief an Syriens Staatschef Assad. Er bat ihn um Rückgabe der Staatsbürgerschaft an all jene Kurden, denen sie 1962 aufgrund einer Volkszählung aberkannt wurde – mit der fadenscheinigen Begründung, es handle sich um illegale Einwanderer aus der Türkei.

Isos Vater zählte zu den Betroffenen, und sein Sohn erklärt die Hintergründe: Wie mit dem Lineal war nach dem Ersten Weltkrieg die Grenze zwischen Syrien und der Türkei gezogen worden, sein eigenes Städtchen, Ras al-Ain, habe man in eine türkische und eine syrische Hälfte zerlegt.

In den folgenden Jahrzehnten wurden die Rufe der Kurden nach einem eigenen Staat lauter; ebenso gewann in der arabischen Welt die Idee des Panarabismus an Zugkraft. Das Resultat: 1961 wurde Syrien zur "Arabischen Republik Syrien", ein Jahr später folgte die Volkszählung.

"Arabismus" – eine historische Neuheit

Demonstration kurdischer Bewohner der Stadt Qamishli im Norden Syriens; Foto: AP
Opfer des "Arabismus" syrischer Lesart: Demonstration kurdischer Bewohner der Stadt Qamishli im Norden Syriens

​​"Als Kurden hatten wir unter Arabern eben keinen Platz mehr", sagt Mechi ad-Din. Dabei sei diese arabische Prägung in Syrien historisch gesehen eine Neuheit. Und tatsächlich: Die Liste der Herrscher dieses Gebiets liest sich wie die gesammelte Menschheitsgeschichte – Phönizier, Assyrer, Aramäer, Perser, Chaldäer, Mazedonier, Römer, Muslime, Kreuzritter, Kurden, Mongolen, Osmanen.

Erst im 20. Jahrhundert wurde Syriens arabische Identität besiegelt und durch die 1963 an die Macht gelangte Baath-Partei indoktriniert: Nicht der islamische Glaube sollte das vereinigende Band sein, sondern die – arabische – Ethnie. Wohin also mit den Kurden (je nach Quelle 2,5 bis 4 Millionen der 23 Millionen Syrer), den Armeniern, die zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, den Tscherkessen, Turkmenen oder aramäisch sprechenden Christen (jeweils unter ein Prozent)?

Die Jahrtausende alte Präsenz der Letzteren manifestiert sich nicht zuletzt in ihrem Namen "Syrien" – noch heute bezeichnen die Aramäer ihr Volk als "Suryani".

All dies aber passte nicht länger in ein Konzept, das auf Zwangsarabisierung hinauslief. "Erst vergangenen September wurden zwei christliche Assyrer-Aramäer verhaftet, weil sie bei einem Konzert ihre Flagge geschwenkt haben", erzählt der syrische Historiker Kamal Sido, der bei der Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker tätig ist.

Das Regime als zweifelhafte Schutzmacht

Dabei erlaube die syrische Verfassung explizit eine freie Religionsausübung – sofern man kein Yezide ist. Dieser Glaubensgemeinschaft, in deren Lehre sich altiranische und zoroastrische Elemente mit christlichen, jüdischen und islamischen Traditionen überlagern, wird nämlich feindliches Gedankengut gegenüber Syriens offiziellem Islamverständnis unterstellt. "Dass das Regime ethnische oder konfessionelle Minderheiten schützt, ist also ein nettes Ammenmärchen", resümiert Sido. "Es schützt einzig dort, wo es ihm passt."

Auch 650 Kilometer südwestlich der Kurdengebiete wird dies deutlich – hier allerdings bei der Konfession, der die regierende Assad-Familie selbst angehört, den Alawiten. Zwar stellen diese die politische und militärische Elite, doch leben anderseits viele der 2,5 bis 3,7 Millionen Alawiten in dürftigen Umständen.

Das Regime sucht so das Ressentiment der übrigen Bevölkerungsgruppen wenigstens ansatzweise abzufedern – eine durchaus raffinierte Strategie. Allerdings verblüfft die Kluft zwischen Begünstigten und Vernachlässigten dann doch.

Heute befindet sich in dem rund 1.000 Einwohner zählenden Dorf Qardaha das Mausoleum des ehemaligen Staatschefs Hafiz al-Assads; Foto: AP
Geburtsort des "Großen Führers": Heute befindet sich in dem rund 1.000 Einwohner zählenden Dorf Qardaha das Mausoleum des ehemaligen Staatschefs Hafiz al-Assad.

​​Fährt man etwa in die Heimat der Alawiten, in die Küsten- und Bergregion um Latakia, führt von dort aus noch eine vierspurige Schnellstrasse ins Bergdorf Qardaha, den Geburtsort des "Großen Führers" Hafiz al-Assad. Das benachbarte Bharma aber ist schon weit unzugänglicher, obwohl gleichfalls von Alawiten besiedelt.

Seit den fünfziger Jahren lebt hier Hanadi mit ihrer Familie – nach wie vor ohne Strom oder fließendes Wasser. Über die Assads schimpft sie dennoch nicht, jubelt ihnen aber auch nicht zu. Man wolle nur in Ruhe gelassen werden. "Wir Alawiten wurden 1.000 Jahre lang von den Sunniten als Häretiker verfolgt, da zieht man sich zurück", sagt Hanadi.

In die Berge und in eine Religionsausübung, die nie öffentlich und mitunter gar verfälscht war. So tarnten sich die Alawiten unter den Osmanen als Christen, da diese unter muslimischem Schutz standen. Dies fiel umso leichter, als die alawitischen Riten und Feste in mancher Hinsicht denen des Christentums nahestehen.

Ähnlich den Schiiten aber verehren sie Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Seit der Machtergreifung der Assads hat sich ihre Situation freilich verbessert. "Zum Bau von Moscheen wie unter den Osmanen werden wir jedenfalls nicht mehr gezwungen", murmelt Hanadi beim Abschied und zieht sich wieder in ihr Haus zurück.

Aleppo – die stolzeste und schwärzeste Stadt

200 Kilometer ins Landesinnere hinein triumphieren die grün angestrahlten Minarette wieder: 1.530 Moscheen wies Aleppo laut Regierungsangaben aus dem Jahr 2007 auf – mehr als jede andere Stadt (in Damaskus waren es, unter Einbezug aller Vororte, 1.266). Aleppo ist Syriens zweitgrößte Stadt und für viele die schönste, stolzeste und schwärzeste.

Moscheen in Aleppo; Foto: DW
Stadt der Moscheen: Aleppo ist Syriens zweitgrößte Metropole und für viele die schönste, stolzeste und schwärzeste.

​​Kaum eine Frau ohne Niqab, kaum eine, die nicht einer "Schwesternschaft" angehört, einer von einem Scheich oder einer Scheicha geleiteten Frauengemeinde. So wie die "Qubeissiat", Anhängerinnen Munira al-Qubeissis, der laut dem jordanischen Royal Islamic Strategic Studies Centre einflussreichsten Muslimin der Welt.

1933 in Damaskus geboren, studierte sie in den sechziger Jahren unter Syriens damaligem Großmufti und entwickelte ein den Ideen des frühislamischen Sufi-Meisters Ibn Arabi zugewandtes Islamverständnis.

Ab den 1980er Jahren begann sie mit ersten Anhängerinnen in Privathäusern zu unterrichten. Mittlerweile haben sich über 75.000 Frauen den Qubeissiat angeschlossen – doch es ist praktisch unmöglich, mit ihnen zu sprechen: Munira al-Qubeissi erteilte eine Schweigeorder, die strikt befolgt wird.

Scheich Mahmud Akkam in Aleppo hebt nicht nur deshalb die Brauen. "Maschinengleich" würden die Qubeissiat sakrale Texte "abspulen" und nichts hinterfragen. Dies aber scheint kaum jemanden zu stören: Landesweit unterrichten die teils sehr wohlhabenden "Schwestern" in selbst finanzierten Kindergärten und Schulen, 2006 gab ihnen der syrische Staat gar grünes Licht, ihre Lehre in Moscheen zu verbreiten – zweifellos, weil sie völlig apolitisch ist.

Der Damaszener Scheich Salah al-Din Kaftaro macht hinter dem Erfolg der Gruppierung dennoch auch einen politischen Faktor aus: Grund dafür sei das Scheitern des arabischen Nationalismus.

Arabischer Nationalismus auf tönernen Füßen

Tatsächlich steht dieser auf tönernen Füßen. Ersichtlich wird dies an den verbliebenen Anhängern der Ideologie. Syriens Christen, die um die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, geben sich derzeit inbrünstig nationalistisch – denn sie betrachten die säkulare Baath-Partei als eine Art Lebensversicherung.

So wundert es nicht, dass gerade die Kirchen der Armenier, die überdies eine ethnische Minderheit bilden, als Rekrutierungsorte für Parteimitglieder bekannt sind. Tendenziell – wenngleich weniger offenkundig – loyal zum Regime verhält sich auch die Mehrheit der Drusen, die drei bis vier Prozent der Bevölkerung stellen. Die wegen ihrer Religion von Sunniten wie Christen verächtlich beäugte Gemeinschaft dient in der Armee – oder wahrt angesichts der derzeitigen Unruhen betontes Schweigen.

Schützenhilfe für ihren Fortbestand holt sich die Regierung aber noch von anderer Seite. Busladungen von Schiiten aus Libanon und Iran fahren täglich in der Damaszener Altstadt vor, um den Schrein der Sayyda Ruqaya (einer Tochter Imam Husseins) aufzusuchen, in dessen kontinuierlichen Ausbau Iran seit Jahrzehnten investiert. "Warum muss man hier keinen Eintritt bezahlen?", empört sich eine Frau am Eingang. "Um in die für Sunniten errichtete Omayyaden-Moschee zu gelangen, muss ich als sunnitische Syrerin zahlen." Eilig scheucht der Wächter sie davon.

Die Provokation des Regimes gegenüber der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit (70 bis 80 Prozent) wiegt schwer. Es scheint, Schiiten dürfen alles, Sunniten nichts.

Während das schiitische Ashura-Fest mit großen Prozessionen begangen wird, dürfen die Sunniten zwar des Propheten Mohammed an dessen Geburtstag gedenken – aber nur in den eigenen vier Wänden. Aus "Sicherheitsgründen" sind ihnen Menschenansammlungen untersagt. Die Furcht, sie könnten eine politische Dynamik entwickeln, ist zu groß.

Quo vadis, Syrien? Nicht zuletzt infolge der Politik des Assad-Regimes besteht das Land aus Parallelgesellschaften, die zwar nicht übereinander herfallen, die sich aber auch nicht mögen. Ob und inwiefern sich daran etwas ändern könnte, ist freilich die Frage.

"Zum Teil uralte religiöse Zwistigkeiten hier; eine noch immer nicht wirklich verinnerlichte Nationalstaatlichkeit dort; dazu 41 Jahre Assad-Diktatur voll religiös verbrämter Politspiele – man kann kaum behaupten, dass die Situation der Syrer einfach ist", bilanziert der Historiker Kamal Sido.

Mona Sarkis

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