Vielfalt des Aufstands

Mit der Ausweitung der Proteste in Syrien stellt sich immer mehr die Frage, wer hinter dem Widerstand gegen das Assad-Regime steckt und welche Rolle die syrische Opposition hierbei spielt. Antworten von Radwan Ziadeh, dem Gründer und Direktor des "Damascus Center for Human Rights Studies" und ehemaligen Aktivisten des "Damaszener Frühlings".

In Syrien handelt es sich zweifelsohne um einen Volksaufstand, der von keiner bestimmten Führung organisiert und von keiner speziellen Ideologie getragen wird. Insofern ist er durchaus mit der Situation in Tunesien und weniger mit der in Ägypten zu vergleichen, wo die Jugendbewegungen, wie die Bewegung des 6. April oder die Gruppe "Wir sind alle Khaled Said", eine zentrale Rolle bei der Festlegung des Tages spielten, an dem die Demonstrationen gegen Präsident Mubarak begannen, nämlich dem Tag der Polizei am 25. Januar.

In Syrien hingegen war es aufgrund der Tatsache, dass sich das Land im Würgegriff der Sicherheitskräfte befand, nicht möglich, auch nur ansatzweise Volksbewegungen zu organisieren, selbst wenn diese im Untergrund agiert hätten. Deshalb konnte man fast überall, wo die Menschen in den Städten des Landes auf die Straße gingen, spontane Aktionen beobachten, ohne dass es organisierte Vorbereitung gab.

Auch die Auswahl der Losungen erfolgte spontan. Diese konzentrierten sich vor allem auf Forderungen nach Freiheit und Menschenwürde – zweifelsfrei die wichtigsten Anliegen im Verlauf der Revolution, angesichts des zynischen Umgangs des syrischen Polizeistaats mit seinen Bürgern.

"Das Volk will den Sturz des Regimes"

Demonstration syrischer Oppositioneller gegen Assad; Foto: dapd
S.O.S an die internationale Gemeinschaft: Anhänger der syrischen Protestbewegung fordern offen ein Ende der Gewalt der als besonders brutal geltenden Shabeeha-Milizen des Assad-Regimes und das militärische Eingreifen des Westens.

​​Mit der Entwicklung der Proteste nahmen die Demonstrationen Woche für Woche an Intensität zu. Die dabei erhobenen Losungen wurden immer mutiger formuliert und gipfelten schließlich in der Parole "Das Volk will den Sturz des Regimes", dem weithin bekannten Credo, das ja von Tunesien auf Ägypten übergegriffen hatte und zwei der repressivsten Systeme in der arabischen Welt zum Einsturz brachte.

Danach war es geradezu selbstverständlich, dass in den einzelnen syrischen Städten örtliche Führungskräfte hervortraten, die fähig waren, den Ablauf der Demonstrationen (wie auch den Inhalt der Losungen und Forderungen) zu organisieren. Diese lokalen Anführer spielten eine zentrale Rolle bei der Intensivierung der Proteste, und wenngleich sie bis heute eher auf den Führungszirkel in ihrem Umfeld beschränkt geblieben sind und sich noch nicht landesweit etabliert haben.

Dies erfordert gewiss auch Zeit, deutet die Art der Organisierung der Demonstrationen doch auf eine allmähliche Koordination hin, die in der Organisation der Demonstrationen auf landesweiter Ebene bereits erste Früchte trägt.

Zweifellos kam den Moscheen bei der Organisation der Proteste eine Schlüsselrolle zu, insbesondere in großen Städten. Dabei dienten sie eher als Ausgangspunkt denn als Ziel der Demonstrationen. Wegen der seit nunmehr über 47 Jahren in Syrien herrschenden Ausnahmegesetze gilt nicht nur ein Demonstrations- und Versammlungsverbot, auch war es für die Jugend seit langem nicht mehr üblich, auf die Straße zu gehen und für ihre Rechte zu demonstrieren.

Wir haben es derzeit in Syrien mit einer Situation zu tun, die wir genau so aus Lateinamerika kennen, wo die Kirche bei der Führung der Proteste gegen die dortigen Militärregimes eine Schlüsselrolle einnahm, was ihr auch die Bezeichnung "Befreiungstheologie" eintrug. Tatsächlich ist keine Führungsperson vor Ort Mitglied einer der traditionellen politisch-ideologischen Parteien. Möglicherweise sind die politischen Aktivisten sogar darauf bedacht, solchen Parteien eben gerade nicht anzugehören, ja nicht einmal mit ihrer jeweiligen Führung über deren für sie und ihre Bewegung nicht mehr relevanten Ideen und Ziele zu sprechen.

Die traditionelle Opposition

Die heutige syrische Opposition lässt sich im Wesentlichen in drei Hauptgruppen unterteilen, die bislang als Träger der Proteste im Land eine maßgebliche Rolle gespielt haben:

Demonstranten gegen das Assad-Regime; Foto: AP
"Gerade weil dieser Aufstand keine feste Führung hat, gelingt es dem Regime nicht, ihn durch die Verhaftung seiner Führung zu unterdrücken, denn täglich treten neue Personen in Erscheinung, die zu Demonstrationen aufrufen und sich an ihre Spitze stellen", schreibt Radwan Ziadeh.

​​Erstens: Die traditionelle Opposition. Sie besteht aus den vor einiger langer Zeit etablierten Oppositionsparteien, die sich von der herrschenden, 1972 gegründeten "Nationalen Progressiven Front" entweder abgewandt haben oder ihr gar nicht erst beigetreten sind. Sie formierten sich 1983 als "Nationale Demokratische Sammlungsbewegung", welche die "Partei der Sozialistischen Union", die "Demokratische Volkspartei", die "Revolutionäre Arbeiterpartei" und die "Demokratische Sozialistische Arabische Baath-Partei" umfasst.

Auffällig ist, dass nationalistische und linke Tendenzen bei allen in dieser Bewegung vereinten Parteien überwiegen. Außerdem gibt es die Muslimbruderschaft, die sich in den 1980er Jahren bewaffnete Auseinandersetzungen mit der syrischen Führung lieferte, was Zehntausenden von Menschen das Leben kostete und dazu führte, dass in den 1980er und 1990er Jahren mehr als 100.000 Menschen verhaftet wurden, um die damaligen Proteste zu unterdrücken.

Radwan Ziadeh; Foto: dpa
Nach Ansicht des syrischen Oppositionellen Radwan Ziadeh müsse US-Präsident Barack Obama das syrische Volk unterstützen und Assad "zum sofortigen Rücktritt auffordern".

​​Noch heute werden mindestens 17 Personen vermisst, ihre Angehörigen wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist. Die syrischen Behörden erließen schließlich Gesetz Nr. 49, dem zufolge jeder Angehörige der Muslimbruderschaft zum Tode zu verurteilen ist.

Aufgrund dessen sind sie vor Ort nicht mehr existent, genießen aber eine gewisse Sympathie, weil sie massiver Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt waren. Gleichzeitig aber werden sie von manchen Syrern dafür kritisiert und verantwortlich gemacht, dass sie zu den Waffen gegriffen haben, obwohl jedem klar ist, dass die Verantwortung für dies alles beim Staat liegt.

Ihr Einfluss auf die jetzigen Ereignisse ist also äußerst gering, woran auch ihre Entscheidung, die Proteste in Syrien zu unterstützen, nichts geändert hat. Der syrischen Opposition ist es nach 2005 gelungen, einen weiteren Schritt hin zur Bündelung ihrer Anstrengungen zu unternehmen, und zwar unter dem Dach der sogenannten "Damaszener Erklärung für Demokratischen Nationalen Wandel", wo sich neben der Sammlungsbewegung auch unabhängige Persönlichkeiten zusammenfanden. Auch die im Ausland befindlichen syrischen Muslimbrüder erklärten, dass sie diese Erklärung unterstützen und sich ihr anschließen.

Die traditionellen Oppositionsparteien spielten aber lediglich eine sekundäre Rolle bei der Organisation und Durchführung des gegenwärtigen Aufstandes. Sie stellten nicht das Führungspersonal, um die Demonstrationen zu lenken und auf das Regime Druck auszuüben, um letztlich dessen Sturz herbeizuführen und den Übergang zur Demokratie zu ermöglichen.

Jedoch kam zumindest einigen ihrer Führungskräfte, wenn auch spät, eine lokale Rolle bei der Lenkung und Führung der Demonstrationen zu. Ein Beispiel ist die "Partei der Sozialistischen Union", die sich für die Ausweitung der Demonstrationen in Douma (in der Nähe von Damaskus) eingesetzt hat, sodass schließlich 50.000 Teilnehmer an den Protesten mobilisiert werden konnten.

Die lokale Opposition

Die Stärke der traditionellen Opposition besteht zweifelsohne in der langjährigen politischen Erfahrung ihrer Mitglieder, die über die notwendige politische Kenntnis verfügt, um womöglich über die Verwaltung eines künftigen staatlichen Übergangsmodells nach dem Sturz Assads zu verhandeln. Und das war gewiss auch einer der Gründe dafür, weshalb die syrischen Sicherheitskräfte deren gesamtes Führungspersonal verhafteten, obwohl auch ihnen dessen begrenzter Einfluss bei den Aufständen durchaus bekannt gewesen sein dürfte.

Demonstration gegen das Regime: Auf einem Transparent zeiht der gestürzte Gaddafi Syrines Präsident Assad mit sich; Foto: dapd
Nur ein Tropfen auf dem heißen Stein? - Zwar hat die EU nach der Verhängung eines Öl-Embargos dem syrischen Regime mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen gedroht. Jedoch ist fraglich, ob damit allein der syrischen Opposition im Land wirklich geholfen ist.

​​Die Sicherheitskräfte wollten vor allem verhindern, dass diese Leute die benötigte angemessene politische Alternativlösung entwickeln, denn das Regime will auch weiterhin alle Fäden in der Hand halten, indem es gleichzeitig damit droht, dass die einzige Alternative zu ihm das Chaos wäre.

Die zweite Form der Opposition sind die Führungspersonen vor Ort. Im Laufe der Demonstrationen trat eine neue Art von Führungspersönlichkeiten hervor, die wir als lokale Führer bezeichnen. Sie genießen die Achtung der Menschen in ihren jeweiligen Städten und haben ihre Führungsfähigkeiten in der Organisation und Lenkung der Demonstrationen bereits nachgewiesen.

Gleichzeitig sind sie in der Lage, trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie leben, dem Regime entschlossen entgegenzutreten, was viele Menschen dazu bewogen hat, sich den Demonstranten anzuschließen. Und sie alle gehören der hoch gebildeten Mittelschicht an. Diese lokalen Führungspersönlichkeiten sind entweder verhaftet worden oder aus Furcht vor Verhaftung untergetaucht, was die Erfüllung ihrer Aufgabe erschwert.

Aber wie gesagt: Gerade weil dieser Aufstand keine feste Führung hat, gelingt es dem Regime nicht, ihn durch die Verhaftung seiner Führung zu unterdrücken, denn täglich treten neue Personen in Erscheinung, die zu Demonstrationen aufrufen und sich an ihre Spitze stellen.

Exilopposition und Menschenrechtsaktivisten

Die dritte Gruppierung oppositioneller Kräfte, die sich während der Unruhen profiliert haben, sind die Menschenrechts- und Internetaktivisten, die hervorragende und seltene Fähigkeiten bewiesen haben, Menschenrechtsverstöße zu erkennen und aufzudecken und diese Informationen an die internationalen Menschenrechtsorganisationen weiterzuleiten.

Dadurch konnte das Ausmaß der von den syrischen Sicherheitskräften begangenen Verbrechen aufgezeigt werden, so dass die Kritik seitens der internationalen Organisationen und der Weltgemeinschaft umso entschiedener ausfiel. Und dadurch wurde auch der internationale Druck auf das Regime erhöht, der sich am deutlichsten in der Entscheidung des UN-Menschenrechtsrats manifestierte, eine internationale Untersuchungskommission nach Syrien zu entsenden, um alle Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Monate zu untersuchen.

Und schließlich bleibt noch die Rolle der syrischen Oppositionellen im Ausland: Der Aufschwung der Aufstandsbewegung führte sie wieder stärker an ihr Herkunftsland heran, indem sie die zentrale Aufgabe übernahmen, den Syrern über die Medien im Ausland eine Stimme zu geben, denn bis heute in keiner Stadt des Landes dürfen sich Journalisten aufhalten.

Über Gespräche auf politischer Ebene trägt dieser Zweig der Opposition dazu bei, den internationalen Druck auf das Regime zu erhöhen. Außerdem konnten sie die Positionen der im Land befindlichen Oppositionellen erläutern, denn die Mehrzahl ihrer führenden Vertreter ist entweder in Haft oder unterliegt einem Reiseverbot.

Radwan Ziadeh

© Qantara.de 2011

Übersetzt aus dem Arabischen von Gert Himmler

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de