Aufbruch zur Demokratie: Tunesien feiert 60. Jahrestag der Republik

Auch wenn der Weg noch weit und dornig ist: In Tunesien, dem kleinen Land im Norden Afrikas, hat der "Arabische Frühling" von 2011 bislang am meisten nachhaltige Früchte getragen. Bei allen Schwierigkeiten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte scheint das 11,3-Millionen-Einwohner-Land einige Glückfälle auf sich zu vereinigen, die das Experiment Demokratie zumindest ermöglichen. Am Dienstag (25. Juli) kann Tunesien auf 60 Jahre Republik zurückblicken. Das sollte neuen Mut geben für den schwierigen neuen Anlauf dieser Tage.

60 Jahre Republik - das waren vor allem 30 strenge Jahre unter Staatsgründer Habib Bourguiba (1903-2000) und 24 strenge Jahre unter dessen Ziehsohn Zine el-Abidine Ben Ali. Im März 1956 musste Frankreich nach Jahrzehnten der Unruhen und Konflikte die Unabhängigkeit seines "Protektorats" Tunesien anerkennen. Im April ernannte Lamine Bey (1881-1962), der letzte König Tunesiens, Bourguiba zum Premierminister. Und gut ein Jahr später - die politische Dynamik spülte den letzten Bey hinweg - wurde die Monarchie abgeschafft. Am 25. Juli 1957 musste Lamine Bey abdanken; Tunesien wurde Republik.

Die tunesische Staatsflagge ist der türkischen nicht umsonst so ähnlich: Staatsgründer Bourgiba bewunderte Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) und dessen politische Vorgaben: Laizismus, Bildung für alle, Zurückdrängung des Islam aus der Politik, Emanzipation der Frau. In der Verfassung vom Juni 1959, deren Rechtsgrundlagen sich auch an französischem Recht orientierten, war der Islam zwar als Staatsreligion verankert. Tunesien war aber das einzige Land der Arabischen Welt, das das islamische Recht abschaffte, die Scharia. 

Wegweisend auch: Der Laizist Bourguiba stellte die Frauen im Familienrecht, also bei Eheschließung, Scheidung und Sorgerechtsfragen, den Männern gleich - auch das ein Novum in der Arabischen Welt. Am 8. November 1959 wurde Bourguiba zum ersten - und für lange Zeit einzigen - Präsidenten Tunesiens gewählt.

Den "westlichen" Errungenschaften der Frühzeit der Republik folgten, stark verkürzt gesagt, Jahrzehnte relativer wirtschaftlicher Blüte, aber zugleich politischer Stagnation und Verkrustung. Ausnahme: der Bildungssektor, auf den (unbeschadet erheblicher Unzulänglichkeiten in der Umsetzung) stets größter Wert gelegt wurde. In puncto Breitenbildung ist Tunesien in der Arabischen Welt trotz allem weit vorn.

Bemerkenswert: Eine besonders gebildete Gruppe ist die tunesische Armee. Sie versteht sich traditionell als unpolitisch. So weigerte sich etwa der damalige Oberbefehlshaber während der Unruhen des Arabischen Frühlings, dem Diktator Ben Ali den Rücken freizuschießen. Bewährungen werden der jungen Demokratie aber wohl immer wieder neu bevorstehen.

Tatsächlich fehlt es den Parteien Tunesiens noch vielfach an Programmatik und Disziplin; dafür herrscht ein Übermaß an Individualismus und Führungsansprüchen. Einzige Ausnahme: die unter Ben Ali verbotene islamische Ennahda-Partei. Sie hatte sich im Exil organisieren können, auch wenn viele Mitglieder teils über Jahre in Haft saßen. Bei den ersten freien Wahlen 2011 erhielt die Ennahda, eine Verbündete der ägyptischen Muslimbruderschaft, eine komfortable Mehrheit. 

Auch wenn die Partei behutsamer vorging als die Muslimbrüder in Ägypten, versuchte sie eine schleichende Islamisierung; durch politischere Predigten in den Moscheen, aber auch durch Niederhalten von Opposition oder subtilen Druck auf unverschleierte Frauen. "Schwester, nun sind wir frei - du musst dich nicht länger verstellen und gegen deinen Willen kleiden", so wurden Unverschleierte damals auf der Straße angesprochen. Das sorgte für öffentliche Empörung in einem Land, das zwar wenig gewohnt war - aber doch zumindest persönliche Individualität.

Im Januar 2014 musste die Ennahda-Regierung von Ministerpräsident Ali Larayedh auf öffentlichen Druck zurücktreten. Larayedh, selbst 17 Jahre im Gefängnis, lehnte damals jede Beteiligung von Personen oder Parteien ab, die schon unter Ben Ali aktiv waren. Dabei spielte er 2012 selbst eine Rolle bei gewaltsamen Polizeieinsätzen gegen liberale Demonstranten - die derzeit noch juristisch untersucht wird.

Inzwischen gibt sich Larayedh gemäßigt. Seine Partei wolle zum Aufbau der tunesischen Gesellschaft und zu einer Balance zwischen Pluralismus und den traditionellen Werten des Islam beitragen, sagt er in die Mikrofone. In der aktuellen Regierung stellt die Ennahda drei Minister. Freilich stößt ihr versöhnlicher Ton in der Bevölkerung auf Skepsis. "Der Wolf hat nur Kreide gefressen", argwöhnen viele.

Allenthalben sind noch mangelnde Identifikation mit dem Staat und nur wenig Vertrauen in die Demokratie zu beobachten. Anders als die werktätigen Tunesierinnen empfinden die jungen Tunesier ihren Anspruch auf Arbeit stärker als ihre Pflicht zur Gegenleistung. Bei der Wahlbeteiligung lagen Alte und Analphabeten zuletzt deutlich über den Jungen. Und wer einen jungen Tunesier beim Überfahren einer Roten Ampel anspricht, muss immer noch die Antwort gewärtigen: "Wieso? Wir haben doch jetzt Demokratie..." (KNA)

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