Der Islam als Herausforderung der Republik

Frankreichs Muslime stellen ungefähr ein Zehntel der Gesamtbevölkerung, doch ist nur ein Bruchteil in den zumeist improvisierten Kultstätten religiös aktiv. Der Staat sucht den Laizismus der Republik zu verteidigen. Von Christian Müller

Frankreichs Muslime stellen ungefähr ein Zehntel der Gesamtbevölkerung, doch ist nur ein Bruchteil in den zumeist improvisierten Kultstätten religiös aktiv. Der Staat sucht den Laizismus der Republik zu verteidigen, etwa mit dem Kopftuchverbot. Die ausländische Finanzierung von Moscheen und Imamen bereitet weiterhin Sorgen. Von Christian Müller

Muslime in Marseille, Foto: Markus Kirchgessner
Muslime in Marseille

​​"Ah, les Arabes!", lautet einer der häufigsten, noch relativ zahmen Ausrufe, mit denen manche Franzosen ihren Ärger und ihre Frustration im Alltag über die Folgen der unverdauten Einwanderung aus Nordafrika kundtun. Dass sie sich in vielen Fällen, gerade in Paris und Umgebung, über Berber aufregen, ist ihnen kaum bewusst.

Den meisten ist der Unterschied, der einstmals den Kolonialherren das imperiale "Divide et impera" unter Förderung der ethnischen Minderheit erlaubte, überhaupt nicht bekannt; es seien doch ohnehin alles fremde Muslime, meint der Mann von der Strasse und vergisst zumeist, dass er vielfach französische Staatsbürger, Angehörige der zweiten oder gar schon dritten Generation nordafrikanischer Immigration, vor sich hat.

Vor über zwei Jahrzehnten zirkulierte als böses Bonmot das angebliche "Paradox der Geschichte": Karl Martell hat 732 bei Poitiers die Araber geschlagen und verjagt, "mais ils sont tous revenus en 404" - mit der zweiten Zahl ist in Wahrheit kein Jahr gemeint, sondern ein älteres Automodell von Peugeot, mit dem sich dann eben auch die Einwanderer motorisierten.

Ein Zehntel der Bevölkerung

Wie viele Muslime gibt es in Frankreich? Keiner weiss es genau, denn es widerspricht dem Grundprinzip der religionsneutralen, laizistischen Republik, die Religionszugehörigkeit der Bürger zu erfassen. Deshalb muss man sich mit vagen Schätzungen begnügen, die zwischen vier und sechs Millionen oszillieren.

Auf jeden Fall gilt Frankreich als dasjenige EU-Land mit dem grössten muslimischen Bevölkerungsanteil - legt man die höhere Schätzungsmarke zugrunde, handelt es sich um fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Nach der erdrückenden Mehrheit von Franzosen christlichen Glaubensbekenntnisses, von denen wiederum in dem Land, das sich unter dem Ancien Régime als "fille aînée de l'Eglise" hatte bezeichnen dürfen, fast alle katholischer Konfession sind, stellen mittlerweile die Muslime das zweitgrösste Kontingent dar.

Zahlenmässig ist der Anteil der Muslime ungefähr zehnmal höher als jener der jüdischen Minderheit in Frankreich.

Nach dem Vorbild des Repräsentativrates der Institutionen der Juden in Frankreich wurde im Frühjahr vergangenen Jahres der Conseil français du culte musulman (CFCM) gebildet. Treibende Kraft war der damalige Innenminister Sarkozy.

Im Unterschied zu seinen Vorgängern, die während eines Jahrzehnts das Projekt vor sich hergeschoben hatten, wegen der Befürchtung, dass islamistische Radikale sich der Organisation bemächtigen könnten, forcierte er nach dem Amtsantritt der Regierung Raffarin die Bildung eines islamischen "Ansprechpartners" für den französischen Staat. Über 4000 Delegierte von 995 Moscheen und Kultstätten erkoren die mehr als drei Dutzend Mitglieder des islamischen Repräsentativrates.

Rat der Muslime

Dabei erwies sich die Besorgnis über eine Vorrangstellung der Radikalen als durchaus begründet. Denn die Union des organisations islamiques en France (UOIF), die wegen ihrer Bande zu den Muslimbrüdern als radikal, wenn nicht gar islamistisch eingestuft wird, eroberte fast gleich viel Mandate wie die unter marokkanischem Einfluss stehende, etwas gemässigtere Fédération nationale des musulmans de France (FNMF).

Vor allem aber blieb die Anhängerschaft der mit Algerien verknüpften Moschee von Paris mit bloss einem halben Dutzend Mandaten praktisch auf der Strecke. Ihr Anführer, der Rektor der Pariser Moschee, Boubakeur, übernahm gleichwohl für zwei Jahre den Vorsitz des Muslimrates. Auf Betreiben Sarkozys war dies noch vor dem Urnengang so festgelegt worden.

Der Muslimrat trat erstmals in diesem Spätsommer nach aussen hin stärker in Erscheinung, als er sich für die Freilassung der beiden französischen Journalisten Chesnot und Malbrunot einsetzte, die am 20. August von islamistischen Terroristen im Irak in Geiselhaft genommen worden waren.

Obgleich der Versuch der Einflussnahme vergeblich blieb, ging bald das voreilige Wort von der "Geburtsstunde des französischen Islams" um, weil sich der Muslimrat mit der Ablehnung der terroristischen Erpressung durch die französische Regierung solidarisiert hatte. Diese lehnte eine Annullierung des Kopftuchverbots, wie sie die Entführer verlangt hatten, kategorisch ab.

Obwohl zuvor seitens des Muslimrates und seiner Gruppierungen vielfach Vorbehalte und auch Proteste gegen das Kopftuchgesetz laut geworden waren, hielten sich die offiziellen Vertreter angesichts des Geiseldramas nun völlig zurück. Bald war indes auch zu erkennen, wie unter der Decke offizieller Harmonie die verschiedenen Tendenzen im CRCM sich weiterhin in den Haaren lagen; der Leiter der UOIF-Islamisten suchte den exilierten Gründer des algerischen Front islamique du salut (FIS) auf und erregte damit den Zorn der Gemässigten.

Säkularisierte Mehrheit

Die Zahl der praktizierenden Muslime in Frankreich stellt nur einen kleinen Bruchteil, etwa zehn Prozent, der islamischen "Glaubensgemeinschaft" dar, die eigentlich keine ist. Als im Herbst beim Schulanfang das Gesetz über das Verbot auffälliger Religionssymbole in den öffentlichen Schulen in Kraft trat, kam es wie zuvor zu keiner Grundwelle von Protestkundgebungen seitens der Muslime in Frankreich.

Deren grosse Mehrheit scheint ähnlich säkularisiert wie die meisten französischen Katholiken, die zwar fast durchwegs getauft und kirchlich getraut, aber kaum Kirchgänger sind.

Herkunftsmässig bilden aus Algerien und aus Marokko stammende Muslime zu ungefähr gleichen Teilen den Hauptharst des Islams in Frankreich. Ihnen folgt, umfangmässig etwa halb so zahlreich, das ursprünglich aus Tunesien stammende Kontingent.

Eine etwas kleinere Gruppe wird von türkischen und kurdischen Einwanderern und deren Nachkommen gebildet - vom Durchschnittsfranzosen werden diese Angehörigen zweier gänzlich verschiedener Völker kaum auseinandergehalten und allzu oft nur wegen ihrer Religion falsch als Araber eingestuft.

Zumeist völlig vergessen werden schwarzafrikanische Muslime sowie aus Libanon und anderen Nahoststaaten eingewanderte Muslime.

"Le FIS est en Algérie, la famille est en France", lautete vor Zeiten ein perfides Schlagwort, das auf der gleichen Aussprache der Abkürzung der Islamischen Heilsfront und von "fils" beruht. Zur Schürung von Ressentiments und Fremdenhass wurde es nicht nur von den Rechtsextremisten Le Pens kolportiert, sondern auch von manchen aufgebrachten Franzosen im Midi, die sich wegen zunehmender "Überfremdung" ihres zuweilen als "Algérie française" bespöttelten Landesteils beklagten.

Friedrich Sieburgs vor einem Menschenalter erschienenes legendäres Buch trug den Titel "Gott in Frankreich". Geht man nun der noch immer fremd anmutenden Frage nach Allah in Frankreich nach, so drängt sich die Feststellung auf, dass er bis auf wenige Ausnahmen fast ein Katakombendasein fristet.

Wirkliche Moscheen wie jene in Paris gibt es nur ganz wenige. Hingegen gibt es da Gebetsstätten in Baracken, Lagerhallen, Hinterhöfen und Kellergewölben zuhauf.

Bessere Aufsicht durch "Gallisierung"?

Drei Viertel der über 1200 Imame im Lande sind fremder Staatsangehörigkeit, ein gutes Drittel von ihnen beherrscht nicht einmal die französische Sprache. Schon bei der von Sarkozy verordneten Zangengeburt des Muslimrats hatte der Gedanke der Heranbildung eines "französischen Islams" Pate gestanden.

Nun werden vom Nachfolger, Innenminister de Villepin, spezielle universitäre Ausbildungskurse für die Islamprediger vorgesehen, um diesen französisches Recht, staatsbürgerliche Kenntnisse und überhaupt die Institutionen des Landes zu vermitteln.

Auf breite Ablehnung ist bisher hingegen Sarkozys Anregung gestossen, durch eine Reform des Gesetzes von 1905 über die Trennung von Kirche und Staat eine staatliche Subventionierung des Baus von Moscheen in Frankreich anzustreben. Mit einer solchen partiellen Abkehr vom strikten Laizismus sollte der heutigen Praxis der Fremdfinanzierung ein Riegel vorgeschoben werden.

Algerien finanziert grösstenteils die Moschee von Paris und verwandte Gruppen, Marokko subventioniert die Islamföderation, und dass Geld aus den Golfstaaten in die radikale UOIF fliesst, ist eine plausible Annahme. Villepin möchte nun im Interesse der Transparenz eine öffentliche Islam-Stiftung einrichten, über welche alle Geldspenden aus dem In- und Ausland unter Kontrolle des Muslimrats laufen müssten.

Eine "Gallisierung" des Islams könnte bestenfalls einen Teil der nötigen Antwort auf die wachsende islamistische Herausforderung bilden. Die sichtbarste Front dieser Auseinandersetzung stellte in jüngster Zeit das Verbot des islamischen Kopftuches in den Schulen dar.

Über Sinn und Berechtigung dieser Bekräftigung des Laizismusprinzips, wie sie von Schulbehörden und von der Lehrerschaft verlangt worden war, lässt sich streiten; auch seitens der katholischen Kirche wurden Bedenken angemeldet.

Das Gesetz richtet sich nicht ausschliesslich gegen das Tragen des islamischen Kopftuches, wurde aber von den Islamisten mit Erfolg als eine Diskriminierung der Muslime hingestellt. Mit ihnen scheint eine rationale Diskussion kaum möglich. Erstaunlicherweise ist zumindest vorübergehend die hitzige Debatte fast völlig abgeflaut.

Krise der Integration

Selbst der Bau der prächtigsten Moscheen würde der islamistischen Propaganda nicht den Nährboden entziehen. Diesen liefert vielmehr die Krise des französischen Integrationsmodells, wie sie nun auch ganz offiziell in einem ausführlichen Bericht des Rechnungshofes konstatiert worden ist.

"Städtische Rassentrennung" oder Ghettoisierung der Vorstädte mit Einwanderern kennzeichnete die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte. Das Phänomen überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität beschränkt sich keineswegs auf die muslimische Minderheit, doch stellt diese einen grossen Teil der "Unterprivilegierten" dar.

Laut einer der seltenen einschlägigen Statistiken, welche auf den Strafurteilen gegen Jugendliche in Grenoble im Département Isère im Zeitraum zwischen 1985 und 2000 beruht, hatten zwei Drittel der Verurteilten einen im Ausland geborenen Vater, und bei 60 Prozent stammte auch die Mutter aus dem Ausland.

In der Hälfte aller Fälle handelte es sich bei zumindest einem Elternteil um eine Person nordafrikanischer Herkunft. In der Isère beträgt der Einwandereranteil 6,1 Prozent. Laut einer landesweiten Statistik hatte vor vier Jahren ein Viertel aller Insassen französischer Gefängnisse einen im Maghreb geborenen Vater.

Das Beispiel der minderjährigen Delinquenten erklärt, weshalb im gegenwärtigen Sprachgebrauch das Wort "jeune" in Meldungen über Missetaten oder Verbrechen vom durchschnittlichen Fernsehzuschauer immer häufiger als "Araber" verstanden wird - die Umkehrung dieses Wortes gemäss Verlan-Schulsprache zu "Beur" scheint am Verschwinden, es zirkulieren stattdessen ziemlich aggressive Argotausdrücke.

"Positive Diskriminierung"

Noch in Sarkozys Amtszeit als Innenminister fiel die Verabschiedung eines Aufnahme- und Integrationsvertrages, der die Vermittlung einer Sprachausbildung und der Grundwerte der französischen Gesellschaft vorsieht. Nach Präsident Chiracs Hohelied auf das Laizismusideal, mit dem das Kopftuchverbot vorbereitet wurde, kam auch die Schaffung eines Hohen Rats für Integration zustande.

Zugleich plädierte Sarkozy für eine "positive Diskriminierung" zugunsten der Franzosen nichtfranzösischer Herkunft, das heisst vor allem der Nachkommen nordafrikanischer Immigranten. Diese Kopie amerikanischer "affirmative action" liefe auf eine Quotenregelung hinaus.

Vom Staatschef wurde eine Quotenregelung bereits als eine Untergrabung des Fundaments der Republik zurückgewiesen. Immerhin musste er vor knapp einem Jahr die Ernennung des aus Algerien in früher Jugend eingewanderten Berbers Aïssa Dermouche zum Präfekten des Départements Jura konzedieren.

Ausdrücklich beharrte Chirac jedoch auf der Sprachregelung, dass es sich um einen aus der Immigration hervorgegangenen Präfekten handle; damit trat er Sarkozys Ankündigung der Nominierung eines "muslimischen Präfekten" entgegen.

"Communautarisme" als Gefahr

Einen aus Algerien stammenden Berber als Präfekten hatte es schon einmal gegeben; er ist vor knapp zehn Jahren in den Ruhestand getreten und längst vergessen.

Ähnlich erging es Tokia Saifi, einer früheren Staatssekretärin für nachhaltige Entwicklung. Als eine von nordafrikanischen Einwanderern abstammende Symbolfigur war ihr bei der Ernennung zum Mitglied des ersten Kabinetts Raffarin viel Aufmerksamkeit zuteil geworden. In diesem Frühjahr verschwand sie indes von der Bildfläche, auf der sie schon lange zuvor kaum mehr wahrgenommen worden war.

Nicht viel anders erging es Hamlaoui Mekachera, dem beigeordnetem Minister für Kriegsveteranen; immerhin hielt sich dieser einstige Offizier der französischen Armee bisher im Kabinett, obgleich er kaum mehr als ein politisches Schattendasein zu fristen vermag.

Mit wenigen "Konzessionsarabern" lässt sich der Tatbestand kaum vorangekommener Integration der muslimischen Minderheit nicht übertünchen. In der Stichwahl zwischen Chirac und Le Pen gab natürlich die Mehrheit französischer Muslime dem Staatschef und nicht dem Frontistenführer ihre Stimme.

Für viele Franzosen schockierend wirkte dann der Anblick einer marokkanischen Fahne bei der Siegesfeier Chiracs auf der Place de la République; neben den Trikoloren mutete das direkt vor dem französischen Staatschef eifrig hin und her geschwenkte scherifische Banner wie ein Vorbote für das Heraufziehen eines "Communautarisme" an, einer nach ethnisch-religiösen Kriterien sich anbahnenden Zersplitterung des französischen Staatsvolkes.

Rekrutierung von Terroristen

Noch droht eine solche Gefahr nicht unmittelbar. Immerhin haben die in den letzten vier Jahren sich häufenden antijüdischen Anschläge in Frankreich offenbar fast durchwegs eine muslimisch-nordafrikanische Täterschaft zum Hintergrund, in einer Übertragung des Nahost-Konflikts auf französischen Boden.

Umgekehrt gelingt nun anscheinend fanatischen Islampredigern die Rekrutierung junger Muslime in Frankreich zum Einsatz als Terroristen im Irak, wo bisher fünf solche französische Staatsangehörige umgekommen und ungefähr weitere hundert im Einsatz sein sollen.

Zuvor hatten Dutzende französischer Muslime über Koranschulen den Weg zur Terror- Ausbildung der Taliban in Afghanistan eingeschlagen; einige schienen auch Abstecher nach Tschetschenien unternommen zu haben.

In Abwandlung des Titels der französischen Übersetzung von Sieburgs Buch mag im Kaukasus oder zwischen Euphrat und Tigris angesichts dieses Exports von Terror-Kämpfern vielleicht die Frage gestellt werden: "Allah, est-il Français?"

Christian Müller

© Neue Zürcher Zeitung, 18. Dezember 2004