"Gott ist der größte Künstler"

Sie war als erfolgreiche Sängerin und Liedermacherin bekannt. Dann fand sie zum Islam und schrieb die Autobiografie "Himmelstochter": Jetzt erlebt Hülya Kandemir ihr großes Comeback. Nimet Seker hat sich mit ihr über Kunst und Musik im Islam unterhalten.

Hülya Kandemir; Foto: Nimet Seker
"Zu Zeiten des Propheten war es etwas ganz Natürliches zu singen. Es gibt viele Hadithe, die für die Musik sprechen", sagt Sängerin Hülya Kandemir.

​​Es gibt Muslime, die glauben, dass der Islam Musik verbietet. Was halten Sie davon?

Hülya Kandemir: Das ist für mich absolut inakzeptabel. Ich habe mich mit dem Thema Musik und Islam in den letzten Jahren sehr viel auseinander gesetzt. Gott ist der größte Künstler, Allah liebt das Schöne. Vor allem ist der Islam eine Religion der Mitte. Gott will einem nichts schwer machen – im Gegenteil. Viele Muslime neigen zum Extremen und achten auf Dinge, die eigentlich unwesentlich sind. Sie vergessen die wesentlichen Dinge im Glauben und suchen nur nach Verboten. Sie heben den Zeigefinger. Meiner Meinung nach ist das total unislamisch. Der Islam ist für mich das Gegenteil: Er ist Barmherzigkeit, Liebe, Offenheit und vor allem kein Zwang – auch kein Zwang im Glauben. Der Islam gibt den Menschen die Freiheit, ihren Weg zu gehen. Es gibt viele Hadithe, die für die Musik sprechen.

Viele Muslime betonen immer wieder, dass die Stimme einer Frau für Männerohren verboten sei. Was sagen Sie denen als muslimische Sängerin?

Kandemir: Zu Zeiten des Propheten gab es Frauen, die sich gefreut haben, wenn der Prophet zu ihrem Stamm kam, die für ihn Lieder gesungen haben und ihre Liebe zu ihm singend gezeigt haben. Damals war es etwas ganz Natürliches zu singen, weil es zur Sprache gehörte. Vieles wurde musikalisch ausgedrückt. Nur weiß man es heute nicht mehr. Damals gab es sogar Sklavinnen, die von Beruf Sängerinnen waren. Die Prophetengefährten haben sich dafür eingesetzt, dass diese Frauen ihr Geld bekommen und haben diesen Sängerinnen auch zugehört. Die Frauen des Propheten waren teilweise Heeresführerinnen und Lehrerinnen, sie hatten viel Einfluss auf ihre Mitmenschen. Ohne Sprechen geht das nicht. Die erste Frau des Propheten war eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Das waren keine eingesperrten Frauen. Ich verstehe daher nicht, woher diese Vorstellungen kommen.

Warum sehen die Muslime die Dinge heute anders?

​​Kandemir: Der Islam hat sich gespalten, es gibt so viele Richtungen, und da gibt es Richtungen, die die Menschen von der Wahrheit eher wegführen. Für mich gibt es viel mehr Islamfeinde innerhalb der Muslime als außerhalb. Die Muslime schaden sich meiner Meinung nach gegenseitig am meisten. Ich will keine Gruppierungen nennen, aber es gibt viele, die mit dem Zeigefinger stets auf haram (verboten) und bid'a (Neuerung im negativen Sinn) zeigen und damit den Zugang zur Barmherzigkeit Gottes versperren.

Nach einer musikalischen Pause haben Sie wieder begonnen, Lieder zu schreiben und aufzutreten. Ist die Musik, die Sie jetzt machen, anders?

Kandemir: Nein. Meine Musik war schon immer von Gott inspiriert. Komischerweise kann ich es auch nicht anders. Alle anderen Lieder, die ich komponiert habe, habe ich nicht so gern gespielt. Gott war schon immer meine Inspiration und die Liebe zu Gott auszudrücken, war immer mein Bedürfnis. Die Liebe ist für mich das größte Thema in meinen Liedern. Ein anderes Thema ist das Ego. Meine Themen haben viel mit dem Glauben zu tun und mit dem inneren Kampf, dem wir uns alle stellen müssen.

Gibt es eine islamische Kunstszene in Deutschland?

Kandemir: Eine solche Szene ist gerade im Entstehen. Letztes Jahr hat sich das Kreativwerk gegründet, das für islamische Kunst steht. Da gab es den Kreativ-Wettbewerb "Zeig mir den Propheten". Das war wirklich einzigartig und wunderbar. Das Kreativwerk bemüht sich, die Muslime anzusprechen, aber es ist sehr schwer für sie. Das Bewusstsein für Kunst hat sich bei den Muslimen sehr weit zurück entwickelt. Früher war die islamische Kunst einzigartig, die Muslime haben sehr viel Kunst gemacht. Aber verschiedene Gruppierungen im Islam haben Schlimmes getan, indem sie den Menschen das Bewusstsein für Kunst und Ästhetik genommen und ihnen eingeredet haben, das Schaffen von Kunst sei haram.

Müssen sich deswegen die muslimischen Künstler wieder durchsetzen?

Kandemir: Vor allem müssen sie sich selbst frei machen, sich selbst erlauben, Kunst zu gestalten. Als praktizierender Muslim möchte man alles richtig machen. Wenn man selbst kein Wissen vom Islam hat, dann lässt man sich schnell von anderen irreführen und es braucht Zeit, bis man sich selbst Wissen angeeignet hat.

Interview: Nimet Seker

© Qantara.de 2008

Dieser Artikel entstand im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Meeting the Other" mit dem Online-Magazin babelmed.net im Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs. Mehr Informationen zu diesem Projekt finden Sie hier

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