Der Missbrauch der Geschichte

Wenn die Geschichte zu einem Albtraum wird: Fehlgeleitet durch irrige Analogien findet Israel keine passende Strategie für einen Umgang mit der iranischen Nuklearbedrohung. Der ehemalige israelische Außenminister Schlomo Ben Ami plädiert für eine klare Trennung der tagespolitischen Entscheidungen seines Landes von dem historischen Erbe des Holocausts.

Symbolbild Ahmedinejad und die iranische Atombombe; Foto: DW
Ein israelischer Angriff auf die iranischen Atomanlagen würde zu einer "apokalyptischen Konfrontation" im Nahen Osten führen, meint Schlomo Ben Ami.

​​Durchdrungen von ihrer oft tragischen Geschichte neigen die Juden dazu, große Ehrfurcht vor der Vergangenheit zu zeigen. Doch kann die Vergangenheit, besonders wenn sie nicht mit Vorsicht behandelt wird, der Feind der Zukunft sein und unsere Sichtweise verzerren, was die Aufgaben der Gegenwart angeht.

Das ist zweifellos der Fall bei dem Vergleich, der beharrlich von israelischen Spitzenpolitikern gezogen wird, und zwar zwischen der Vernichtung der europäischen Juden im Holocaust und der Bedrohung, die ein mit Atomwaffen ausgestatteter Iran für den jüdischen Staat darstellt.

Israels Angst vor der iranischen Bombe

Am diesjährigen Holocaust-Gedenktag in Jerusalem überboten sich die israelischen Spitzenpolitiker wieder einmal gegenseitig, als sie der Schwermut der nationalen Psyche und der öffentlichen Hysterie im Hinblick auf die Absichten des Irans neue Nahrung gaben.

Präsident Schimon Peres, der im Gegensatz zu Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem Nutzen eines Angriffs auf die Nuklearanlagen des Irans skeptisch gegenübersteht, sprach von der "Bedrohung der Vernichtung", mit der Israel konfrontiert sei.

Holocaust-Ausstellung in Berlin; Foto: AP
Holocaust-Ausstellung in Deutschland: "Die Geschichte ist nicht dabei, sich zu wiederholen. Israel muss sich entscheiden, ob es eine regionale Supermacht ist oder ein jüdisches Ghetto, das auf den Anfang eines bevorstehenden Pogroms wartet", schreibt Schlomo Ben Ami.

​​Selbst Verteidigungsminister Ehud Barak, normalerweise ein kühler, rationaler Kopf, wählte Jad Mordechai, einen Kibbuz, der nach dem Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, Mordechai Anielewicz, benannt wurde, um die Weltöffentlichkeit vor "Holocaust-Leugnern" zu warnen, "allen voran vor dem iranischen Präsidenten, der die Vernichtung des jüdischen Volkes fordert."

Es überrascht nicht, dass Netanjahu besonders unverblümt war. Für ihn ist der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad ein zweiter Hitler, und die Welt steht derzeit vor denselben Herausforderungen, vor denen sie kurz vor Hitlers Machtergreifung stand. Irans emsige Versuche, Kernwaffen zu entwickeln, so warnte Netanjahu, könnten nur in dem Kontext verstanden werden, dass die dortige Führungsriege wiederholt versprach, "den jüdischen Staat von der Landkarte zu tilgen." Angeblich sei die Welt heute, wie damals, vollkommen gleichgültig.

Irrige Analogien

Netanjahus Holocaust-Analogie wäre eine reine intellektuelle Kuriosität gewesen, wäre er nicht derjenige, der für die Entscheidung verantwortlich ist, ob Irans Nuklearanlagen angegriffen werden und der Nahe Osten somit in eine apokalyptische Konfrontation getrieben wird. Die Laufbahn seines politischen Mentors, Menachem Begin, hat gezeigt, dass irrige Analogien zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu einer unverantwortlichen Politik führen können.

Menachem Begin; Foto: Wikipedia Commons
Ein gottgesandter Rächer des Holocaust-Erbes - so sah der israelische Ministerpräsident Menachem Begin seine Rolle bei der Invasion des Libanon 1982, schreibt Schlomo Ben Ami.

​​Bei seiner katastrophalen Invasion des Libanon 1982 sah Begin sich selbst als gottgesandten Rächer des Holocaust-Erbes an. Er beschloss, das im Grunde zynische Zweckbündnis zwischen Israel und der christlichen Kata'ib als Lektion für die Menschheit und eine Rüge für das heuchlerische christliche Europa darzustellen, das die Juden während des Holocausts verraten hatte. Er würde ihnen zeigen, wie der jüdische Staat, der von Holocaust-Überlebenden gegründet und nun von einem von ihnen regiert wurde, eine christliche Minderheit rettete, die von der Auslöschung bedroht war.

Für Begin war Arafat in Beirut Hitler in seinem Berliner Bunker. So machte sich der israelische Politiker Abba Eban über Begin lustig, da dieser sich verhielt, "als wäre Israel eine Art entwaffnetes Costa Rica und die PLO Napoleon Bonaparte, Alexander der Große und Attila der Hunnenkönig in einer Person."

Begin war der beste Beweis für Israels Kritiker, dass es der zionistischen Revolution, obwohl sie aus der Asche des Holocaust einen Staat gegründet hatte, nicht gelungen war, das kollektive Selbstbild der Juden und Israelis als Opfer loszuwerden. Netanjahu besiegelt das Bild von Israel als einer Nation, die vollkommen unfähig ist, aus dem Gefängnis ihrer Vergangenheit auszubrechen.

Schwieriger Umgang mit Iran

Israel hegt zu Recht ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen, die die Vereinigten Staaten in der Hoffnung, die nuklearen Ambitionen des Iran zu beschneiden, ergreifen wollen.

Weder die geplanten Sanktionen noch der vor Kurzem veröffentlichte US-Nuclear Posture Review, die neue Atomdoktrin, die bei Weitem weniger revolutionär ausfiel als erwartet, wird den Hunger des Iran nach Atomwaffen drosseln. Anstatt daran zu glauben, dass sie das Atomprogramm des Iran aufhalten kann, bereitet sich die Welt darauf vor, mit einem Iran zu leben, der über Atomwaffen verfügt.

Doch wäre das nicht allein Israels Problem. Ein derartig schwerwiegendes Scheitern des Atomwaffensperrvertrags würde eine gewaltige Herausforderung für die Weltgemeinschaft darstellen, insbesondere für den Nahen Osten.

Ehud Barak; Foto: AP
"Israel ist nicht das europäische Judentum", sagt Ehud Barak. "Wir sind ein starkes Land, dem die ganze Welt nukleares Potenzial zuschreibt, und wir sind eine regionale Großmacht."

​​ Die gehässige antisemitische Rhetorik des Iran ist ein einfach zu durchschauender Versuch, seine verängstigten arabischen Nachbarn zu täuschen, indem es seine Militärmacht als Speerspitze einer gesamtmuslimischen Konfrontation mit Israel darstellt.

Tatsächlich würde ein mit Atomwaffen ausgestatteter Iran die gesamte Region in nukleare Anarchie stürzen. Saudi-Arabien, Ägypten und die Türkei würden eine eigene "sunnitische" Bombe anstreben, um der Bedrohung einer schiitischen Atommacht vor ihrer Haustür etwas entgegenzusetzen.

Als Barak sich nicht genötigt fühlte, die Feierlichkeit der Holocaust-Gedenkzeremonien auszunutzen, übermittelte er die richtige Botschaft an die aufstrebende iranische Macht. Vor einem Jahr, als er genau wusste, dass der Iran unwiderruflich auf dem Weg zur Bombe war, stellte er Netanjahus gefährliche Verzerrung der Geschichte nüchtern in Frage.

"Israel ist nicht das europäische Judentum", sagte Barak damals. "Wir sind ein starkes Land, dem die ganze Welt nukleares Potenzial zuschreibt, und wir sind eine regionale Großmacht." Daraufhin drückte er seine Abneigung dagegen aus, die iranische Bedrohung mit dem Holocaust zu vergleichen, "da dies den Holocaust herabsetzt und die aktuellen Herausforderungen unangemessen übertreibt. Es gibt niemanden, der es wagen würde, Israel zu zerstören."

Loslösung von der Geschichte

Die Geschichte ist nicht dabei, sich zu wiederholen. Israel muss sich entscheiden, ob es eine regionale Supermacht ist oder ein jüdisches Ghetto, das auf den Anfang eines bevorstehenden Pogroms wartet.

Schlomo Ben Ami; Foto: Wikipedia Commons
"Indem sie ihren Konflikt obsessiv durch den Albtraum des Holocaust und der Nakba filtern, vereiteln die Israelis und Palästinenser die Chance auf eine friedliche Beilegung ihrer Streitigkeiten", meint Schlomo Ben Ami.

​​In den Händen manipulativer Politiker und unverbesserlicher Ideologen kann die Geschichte entweder eine gefährlich berauschende Waffe zur Mobilisierung der Massen sein oder, wie James Joyce es in Ulysses ausdrückte, "ein Albtraum", von dem es schwer ist aufzuwachen.

Indem sie ihren Konflikt obsessiv durch den Albtraum des Holocaust und der Nakba filtern, vereiteln die Israelis und Palästinenser die Chance auf eine friedliche Beilegung ihrer Streitigkeiten. Den aktuellen Konflikt zwischen so gewaltigen Militärmächten wie Israel und dem Iran aus einem ähnlichen Blickwinkel zu sehen, kann nur zu einer unsäglichen Katastrophe führen.

Schlomo Ben Ami

© Project Syndicate, 2010

Schlomo Ben Ami ist ein israelischer Historiker, Diplomat und Politiker marrokanischer Abstammung. Von 2000 bis 2001 war er Außenminister Israels. Er ist Autor mehrerer Bücher und seit 2004 Vizepräsident des "Toledo International Centre for Peace" (TICpax).

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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