Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt

Orhan Pamuks Essayband "Istanbul" schildert ein Stück der Geschichte der Metropole am Bosporus – ein lesenswertes Buch, in dem der Literaturnobelpreisträger Orte und Gegenstände selbst sprechen lässt. Zafer Senocak stellt das Buch vor.

By Zafer Şenocak

 ​​Es gibt immer ein bestimmtes Buch im Schaffen eines Autors, das man als Schlüsselwerk betrachten kann. Orhan Pamuks "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt", ist ein solches Buch. Die türkische Originalsausgabe hat dabei einen treffenderen Untertitel: "Erinnerungen und die Stadt". Denn in "Istanbul" geht es eben nicht nur um ein Stadtgedächtnis, sondern auch um die Kindheit und die Jugenderinnerungen des Autors, um den angehenden Schriftsteller, der eigentlich Maler werden wollte und auf das Drängen der um die Zukunft des jungen Mannes besorgten Mutter ein Architekturstudium begann, um dieses dann zugunsten der Schriftstellerei abzubrechen.

Istanbul - eine alternde, dichtende Schönheit

"Istanbul" ist ein autobiographisches Buch, in dem die Stadt nicht nur ein erinnerter Ort ist, sondern selbst Verfasser von Memoiren, eine alternde, dichtende Schönheit, voller Melancholie, dabei ohne jeden Anflug von Larmoyanz. So entsteht eine einzigartige Spannung zwischen der relativ unbekümmerten Kindheit und der Jugend des Autors - eingebettet in gutbürgerliche Familienverhältnisse, seinen Lektüren, Alltagserfahrungen, Spaziergängen und der betagten Stadt, mit ihren verfallenen Panoramen. Ein Verfall, der auch die Familie des Autors erfasst, denn das vom Großvater erwirtschaftete Vermögen wird binnen einer Generation aufs Spiel gesetzt. Seit es Pamuk als Autor gibt, wird er oft mit Thomas Mann verglichen. Sein erster Roman "Cevdet Bey und seine Söhne" wurde als eine türkische Version der Buddenbrooks gelesen. In Istanbul lassen sich nun viele Motive dieser Familiensaga wiederfinden. Vor allem das Hand in Hand gehen von familiärem Niedergang und sich Bahn brechender Modernisierung.

Zwischen den Kontinenten

Wie in seinen Romanen gelingt es Pamuk auch in diesem essayistisch erzählten Buch Orte und Gegenstände selbst sprechen zu lassen. Die Schiffe, die den Bosporus passieren und zwischen den Kontinenten Asien und Europa hin- und herpendeln, die Holzhäuser mit ihren verwitterten Fassaden, das überall anwesende Wasser bekommen jenseits aller Istanbulklischees eine unverwechselbare Stimme. So eindringlich kann nur jemand schreiben, der eine Hommage zu schreiben im Sinn hat, eine Hommage ohne schwärmerische Absichten zwar, jedoch mit der Präzision eines Seelenarztes, dessen Schicksal mit dem seines Patienten eng verknüpft ist.

Orhan Pamuk hält eine Rede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises; Foto: AP
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erhielt als erster türkischer Autor den Literaturnobelpreis

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, unterbrochen von einigen Kapiteln, die sich mit berühmten Istanbulbesuchern vergangener Zeiten, wie Flaubert oder Nerval, beschäftigen. Wer von außen kommt, hat oft einen verfremdenden Blick, der Einheimische aber erinnert sich. Das Verhältnis von Orient und Okzident ist für Orhan Pamuk in erster Linie eine Blickgeschichte. Mit den Beobachtungen des 22-jährigen angehenden Schriftstellers wird das Buch abgeschlossen.

Verschüttet von der Modernisierung

Doch diesen relativ kurzen Lebensabschnitt begleitet und vertieft die Geschichte Istanbuls, deren fünf Jahrhunderte dauernde osmanische Periode den Autor zu mehreren Romanen inspiriert hat. Eine Geschichte, die von der mehr oder weniger abrupt einsetzenden Modernisierung der Türkei im 20. Jahrhundert verdrängt, ja vergraben worden ist. Jeder, der ein Buch der Erinnerungen schreibt, ist auch Archäologe. Für Pamuk trifft das in besonderem Maße zu, da er sich nicht nur an die ersten beiden Jahrzehnte seines Lebens erinnert, sondern sich auch den Erinnerungen der Stadt stellt, sich in ein tiefes und nie abreißendes Gespräch mit der Stadt verstricken lässt.

Fast hat man das Gefühl, dass er mit diesem Buch seiner Heimatstadt etwas zurückgeben wollte, jener Stadt, die ihn großzügig beschenkt hat mit Eingebung und Ideen, weil er genauer hingesehen hat, als viele seiner Zeitgenossen und die Autoren vor ihm. Istanbul ist nämlich eine Stadt, deren Bewohner sich abgewandt haben von dem Territorium auf dem sie leben. Sie wollen nach Westen. Ein solcher Ort lebt von seinen Geheimnissen. Kein Museum sammelt und stellt das Erbe aus.

Keine Muse für die Kunst

Die alten Bücher auf den verstaubten Regalen der Antiquare schimmeln. Durch die Schriftreform Atatürks lesen und schreiben die Türken seit den zwanziger Jahren nicht mehr mit arabischen Schriftzeichen sondern mit lateinischen, können die Bewohner der Stadt nicht einmal mehr das umfangreiche Material in den Archiven studieren. In den fünfziger und sechziger Jahren setzt eine Bauwut ein, die die historischen Viertel der Stadt ohne Gnade auffrisst. Bürgerliche Türken stellen vielleicht ein Klavier ins Wohnzimmer, haben aber nichts dafür übrig, wenn einer der Söhne oder Töchter eine musische Karriere beginnen möchte.

Nun ist einer von ihnen, der es gewagt hat, die brotlose Kunst der Schriftstellerei zu ergreifen, im Westen angekommen, so weit wie kein anderer vor ihm, in dem er sich des eigenen Ortes angenommen hat, der weitab von den Zentren des Westens liegt, ein peripherer Ort, der für Orhan Pamuk aber zugleich Mittelpunkt der Welt ist. Ohne die Stadt Istanbul lässt sich das Phänomen Orhan Pamuk nicht erklären, so wie Orhan Pamuk diese Stadt nicht nur den Fremden erklärt, sondern auch jenen Bewohnern, die in keiner der vielen Tiefenschichten dieser einst so kosmopolitischen und multikulturellen Metropole zu Hause sind. Er erklärt, in dem er vom Aufwachsen in einer von der Tradition verlassenen "modernen" bürgerlichen Familie erzählt, in der die muslimische Religion bestenfalls als ein Glauben der Dienstboten auftaucht, mehr Aberglauben als Glauben.

"Hüzün" – ein Istanbuler Grundgefühl

Die Verbindungslinien zur osmanischen Tradition sind gekappt. Byzanz ist eine Schimäre. Die christlichen Nachbarn, die noch übrig sind, werden die Stadt bald verlassen. Man wird unter sich bleiben und immer weniger Toleranz üben, gegenüber allen, die gegen die engen Normen einer entmythologisierten, auf technischen Fortschritt ausgelegten Welt verstoßen. Eine Atmosphäre, wie geschaffen, um Künstlerexistenzen scheitern zu lassen. Hätte Literatur nicht diesen utopischen Phönixcharakter. Böte sie nicht auch die Möglichkeiten an, aus dem "Hüzün", jener Massenmelancholie, mit der Pamuk das Istanbuler Grundgefühl zu beschreiben versucht, die unverwechselbare Sprache eines Dichters zu destillieren, der es wagt, einsam zu bleiben.

Wie in einer Traumwelt ist da ja noch die Stadt, die ihre Bewohner in ihrem traumlosen Leben nicht mehr wahrnehmen und die nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Das ist die Stunde des Tagträumers Orhan Pamuk, der beschließt, sich in einem Zimmer mit Aussicht einzusperren, um einige wunderbare Bücher zu schreiben, darunter "Istanbul", das zu lesen nicht nur für jeden Istanbulreisenden lohnt.

Zafer Şenocak

© Qantara.de 2006

Orhan Pamuk: "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt"; Hanser-Verlag, 432 Seiten, 25,90 Euro