Renaissance der "weißen Stadt"

Die orientalisch-hedonistische Aura, die in den fünfziger Jahren zahlreiche Kulturschaffende nach Tanger lockte, ist längst verflogen. Die unter Hassan II. vernachlässigte Stadt wird nun im großen Stil renoviert - und zieht auch schon wieder illustre Persönlichkeiten an. Von Alfred Hackensberger

​​"Was für ein merkwürdiger Ort", sagte William S. Burroughs in einem Interview über Tanger. Der amerikanische Autor hatte vier Jahre dort verbracht, während der "goldenen Zeit" der marokkanischen Hafenstadt.

Damals, in den fünfziger Jahren, war sie noch "internationale Zone", ein Eldorado von Millionären, Schmugglern und Geheimagenten, wo jeden Tag in den Villen der Hautevolee ausschweifende Partys gefeiert wurden. Ein kosmopolitischer Ort der Dekadenz und Kreativität.

Burroughs war auch nicht der einzige Künstler, den es damals nach Tanger zog. Die Liste bekannter Autoren, Maler und Musiker ist lang: Tennessee Williams, Truman Capote, Francis Bacon, Samuel Beckett, Jean Genet, Roland Barthes, und nicht zu vergessen Paul Bowles, der schon seit den vierziger Jahren in Tanger lebte und den sein Marokko-Roman "Himmel über der Wüste" international bekannt machte.

Wechselnde Gunst der Regenten

Nach der Unabhängigkeit Marokkos 1956 ging es mit der "Libertinage" in den Kulissen orientalischer Exotik schnell zu Ende. Eine kleine Renaissance gab es in den siebziger Jahren, als die Hippies in Scharen anreisten: Sie hatten Mohammed Choukris Autobiografie "Das nackte Brot" und die "Haschisch-Erzählungen" Mohammed Mrabets gelesen, die Paul Bowles ins Englische übersetzt hatte.

Danach aber versank die "weiße Stadt" zusehends in kultureller und politischer Bedeutungslosigkeit. Hassan II., der König von Marokko, hatte für Tanger wenig übrig, in seiner 37-jährigen Regentschaft besuchte er die Stadt kein einziges Mal. Trotz der geopolitisch bedeutsamen Lage an der Meerenge von Gibraltar ließ er Tanger administrativ und finanziell vernachlässigen.

Die prachtvolle Architektur der Kolonialzeit und der Charme der traditionellen marokkanischen Bauten bröckelten buchstäblich Tag für Tag ein Stück mehr ab. Statt Millionären und Exzentrikern überquerten nur mehr Tagestouristen von der Costa del Sol mit kurzen Hosen, Hut und Turnschuhen die 14 Kilometer, die Europa und Afrika trennen.

Wer heute jedoch nach 45-minütiger Fahrt mit der Fähre in Tanger ankommt, wird überrascht sein. Die so lange vergammelten Fassaden der "Avenida España" am Hafen strahlen wieder in weißem Glanz, in einer neu angelegten Fußgängerzone kann man fern von Autoabgasen im Café sitzen und den Blick aufs Meer genießen.

An der Strandpromenade wurden alle illegal errichteten Gebäude abgerissen, die den Blick auf die See und Spanien verstellten. Bald werden auch die Kräne der Hafenanlagen verschwunden sein. 2007 will man nicht weit von Tétouan und der spanischen Enklave Ceuta den neuen, eine Milliarde Dollar teuren "MedPort" eröffnen. Als einer der größten Mittelmeerhäfen soll er 145 000 Arbeitsplätze schaffen.

Der junge König Mohammed VI., der nach dem Tod seines Vaters 1999 den Thron bestieg, hat endlich das geopolitische und ökonomische Potenzial der Region erkannt. Im Gegensatz zu Hassan II. verbringt der neue Monarch so viel Zeit wie möglich in seinem Palast in Tanger.

Unter seiner persönlichen Leitung wird die Hafenstadt komplett renoviert und restauriert. Plätze wie der "Socco Grande" am Eingang zur Medina werden umgestaltet und die Parks der Stadt neu bepflanzt.

In der Bucht von Tanger entstehen Hotels, Strandbäder und große Touristikkomplexe. "Alles Veränderungen, die wichtig und gut sind", sagt Khalid Amine von der Universität Tétouan bei einem Gespräch im legendären "Café de Paris" in Tanger. "Selbst wenn es einigen nicht gefallen sollte, dass die Modernität Einzug hält."

Man könne nicht immer an der Vergangenheit kleben und den alten Mythos von Tanger beschwören, fügt der Professor für postkoloniale Studien an. "Wer eine Wiederbelebung Tangers möchte, muss einsehen, dass dazu auch eine Wiederbelebung des öffentlichen Raumes gehört."

Stimmen von Tanger

Khalid Amine ist auch einer der Veranstalter der "Internationalen Tanger-Konferenz", die Ende Januar zum zweiten Mal unter dem Motto "Stimmen von Tanger" stattfand. Über 50 Akademiker und Autoren aus aller Welt nahmen daran teil. Ziel der alljährlichen Konferenz ist es, ohne "verklärende Nostalgie" zu einer "kulturellen Revitalisierung Tangers" beizutragen.

"Die Namen von Mohammed Choukri, Paul Bowles und anderen Künstlern sind zwar überall in der Stadt eingraviert. In den Cafés und Bars, wo sie gesessen, geschrieben, Geschichten erzählt haben", erklärt Khalid Amine und nippt an seinem Minztee. "Sie sind wie Geister, daran kann man nichts ändern, aber wir müssen weitergehen, sie hinter uns lassen."

Bei der Konferenz hörte man neue literarische Stimmen aus Marokko, Spanien und auch Deutschland. "Es wurde eine Brücke zwischen Ost und West geschlagen, die gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig ist", meinte der Schweizer Florian Vetsch, der als Herausgeber des "Tanger-Telegramms", einer deutschsprachigen Tanger-Anthologie, eingeladen worden war.

Jeffrey Miller, ein Verleger aus den USA, plädierte für einen internationalen Verlag, der gleichzeitig marokkanische und Autoren aus dem Westen publizieren soll. "So würde man der kulturellen Vielfalt Tangers gerecht werden", meinte der Besitzer des "Cadmus"-Verlages aus Kalifornien. Nächstes Jahr wird die Konferenz die bildliche Visualisierung der Stadt zum Thema haben.

Neue Zuwanderer

"In Tanger kann ich mir alles das leisten, was in Europa oder den USA unmöglich ist", sagt Marc Schmidtke, der die Hälfte des Jahres in Tanger verbringt. Den Rest, von Mai bis August, pflanzt und erntet er auf seiner Farm in Wisconsin Kartoffeln, um seinen Aufenthalt in Marokko zu finanzieren. "In Tanger pflege ich einen kolonialistischen Lebensstil, mit Haushälterin und Chauffeur."

Marc Schmidtke ist einer von mehreren hundert Ausländern, die sich in den letzten Jahren in Tanger niederließen. Darunter sind auch so bekannte Namen wie Bernard-Henri Lévy, der französische Philosoph, der sich direkt am Meer eine extravagante Villa für mehrere Millionen leistete. Oder auch François-Olivier Rousseau, ein französischer Schriftsteller, der kürzlich aus Marrakesch kam, das durch den Zuzug von übermäßig vielen Ausländern an "exotischem Flair" verloren habe.

"Es ist bezeichnend", meint Khalid Amine von der Universität Tétouan, "je mehr die Marokkaner nach Modernität streben, desto mehr suchen die Europäer nach der Tradition. Sie wohnen in der Altstadt, während die Marokkaner in die Neustadt ziehen."

Als Folge sind die Immobilienpreise in der "Kasbah", wo man aus den alten Häusern einen wunderbaren Blick auf die Meerenge von Gibraltar hat, in den letzten zwei, drei Jahren um ein Mehrfaches gestiegen.

"Leider partizipieren die Ausländer kaum am kulturellen Leben Tangers", beklagt sich Khalid Amine. "Nicht einmal die großen Intellektuellen. Sie bleiben unter sich, in einem geschlossenen Zirkel."

Nun seien eben die Marokkaner gefordert, einen Dialog anzubahnen. "In Tanger gibt es ja, wie schon lange nicht mehr, eine ganze Reihe von Autoren." Dazu gehörten die Romanschriftstellerin Souad Baheshar, der Lyriker Ahmend Tribak, der Theaterautor Zubir Ben Bouchta oder auch Sidi Mohammed Yamlahi. Ausserdem werde dieses Jahr auch eine Cinemathek am "Socco Grande" eröffnet, die erste in der arabischen Welt.

Ein Projekt, das dem marokkanischen Film ein wichtiges Forum gibt. "Tanger ist auf dem besten Wege", meint Khalid Amine abschließend, "wieder die kulturelle und intellektuelle Hauptstadt Marokkos zu werden."

Alfred Hackensberger

© Neue Zürcher Zeitung 2006

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