Im Gefängnis sozialer Armut

Ein Großteil der Pakistaner wanderte schon in den fünfziger Jahren nach Großbritannien ein. Viele Familien leben in ethnisch abgezirkelten Wohngebieten und fühlen sich ausgegrenzt. Jugendliche kommen damit schwer zurecht. Von Bettina Schulz

Ein Großteil der Pakistaner wanderte schon in den fünfziger Jahren nach Großbritannien ein. Viele Familien leben in strikt ethnisch abgezirkelten Wohngebieten und fühlen sich ausgegrenzt und abgelehnt. Pakistanische Jugendliche kommen damit schwer zurecht. Von Bettina Schulz

Muslimin und zwei Polizisten in Leeds, Bild:AP
Die meisten pakistanischen Frauen in England gehen nur selten auf die Straße und sprechen kaum Englisch

​​Die Selbstmordattentäter kamen aus pakistanischen Familien, drei von ihnen aus Leeds. Sie hätten auch aus Bradford, Leicester oder Oldham kommen können, aus Städten, die lange Zeit stolz darauf waren, daß ihre asiatischen Einwanderer - Inder, Pakistaner und Bengalen - friedlich mit der weißen Bevölkerung zusammenleben. Das galt bis zum Jahr 2001.

Dann erschütterten diese Städte plötzlich rassistische Ausschreitungen gegen die Nachfahren pakistanischer Einwanderer. Seither ist Großbritannien davor gewarnt, daß hinter der Fassade multikultureller Eintracht ein sozialer Brandherd schwelt, der eine islamische Radikalisierung provozieren könnte.

Pakistaner - etwa 750.000 leben auf der Insel - sind nach den Indern die größte ethnische Minderheit in Großbritannien. Ein Großteil der Pakistaner wanderte in den fünfziger Jahren ein - damals noch ein leichtes Unterfangen, denn bis 1958 konnten Inhaber eines Passes des British Commonwealth ohne Schwierigkeiten nach England immigrieren.

Sie kamen aus ländlichen Gebieten Pakistans und suchten in der englischen Textilindustrie eine Zukunft - so lange, bis sie genug Geld angespart hätten, um sich zu Hause in Pakistan ein gutes Auskommen leisten zu können.

Viele Pakistaner jedoch blieben, und in den sechziger und siebziger Jahren folgten ihre Angehörigen und Verwandten. Pakistaner leben heute vor allem in Humberside, Yorkshire, den West Midlands, Glasgow und eben in Städten wie Leeds.

Enttäuschung und Versagen

Die Hoffnungen der Pakistaner wurden, anders als die der indischen Einwanderer, enttäuscht. Die Textilindustrie Großbritanniens ging zugrunde, und viele Pakistaner schafften es nicht, sich in Großbritannien "hochzuarbeiten".

Indischen Familien gelang es, in die "middle class" aufzusteigen. Das blieb vielen Pakistanern versagt. Auf einen arbeitslosen Inder kommen heute zwei Pakistaner. Ein Großteil der pakistanischen Männer sind Taxifahrer oder haben kleine mittelständische Geschäfte und Unternehmen - der Vater einer der jungen Terroristen besitzt einen "fish and chips shop".

Die pakistanischen Familien stellen mit durchschnittlich sechs Mitgliedern die größten Haushalte in Großbritannien, stehen aber finanziell schlechter da als die Kleinfamilien der Weißen, die von staatlicher Unterstützung leben. Noch Ende der neunziger Jahre lebten vier von fünf pakistanischen und bengalischen Haushalten mit weniger als dem britischen durchschnittlichen Nationaleinkommen. Das ist einer der Gründe, warum sich Pakistaner mit der Integration schwertun.

Viele Familien leben in strikt ethnisch abgezirkelten Wohngebieten, langen, eintönigen Reihenhausketten. Sie fühlen sich ausgegrenzt und abgelehnt - nicht nur von der weißen "working class", die ohnehin wenig von den asiatischen Einwanderern hält, sondern auch von den Indern und Sikhs, die ihren Kindern in der Regel den sozialen Umgang mit pakistanischen und bengalischen Muslimen strikt verbieten.

Wer die Wohngebiete und Geschäftsstraßen dieser Gettos in den britischen Städten - und auch in Leeds - besucht, fühlt sich in pakistanische Städte versetzt. Fast alle Frauen tragen ihre traditionelle Kleidung des Salwar Kameez, ihr Leben spielt sich strikt im Haushalt oder auf den lokalen asiatisch geprägten Geschäftsstraßen ab, ihre Sprache ist meist nicht Englisch, sondern die ihrer alten Heimat.

Am Rande der Gesellschaft

Pakistanische Jugendliche, vor allem junge Männer, kommen damit nur schwer zurecht. Sie sind in einer Gesellschaft gefangen, die ihnen oft weniger Freiheiten als selbst indischen jungen Männern zugesteht. Das ist eine Gesellschaft, in der die britische Polizei gegen Zwangsheirat und Ehrenmorde kämpft.

Zugleich ist die Generation der Väter extrem unpolitisch. Die Väter sind froh, überhaupt in Großbritannien leben und ihre Familien ernähren zu können. Daß ihre Lebensverhältnisse ärmlich sind und sie am Rande der Gesellschaft leben, nehmen sie hin, und sie fühlen sich in der traditionellen Welt ihrer Nachbarn auch wohl.

Sie folgen dem Islam in einer traditionellen, frommen Art und stehen jeglichem Extremismus mit großem Unverständnis und Abscheu gegenüber. Daß islamistische Terroristen ihre Integration in das Land noch weiter erschweren und das Mißtrauen der Briten schüren, trägt dazu bei, daß die pakistanischen Patriarchen nicht nachvollziehen können, was in die Köpfe dieser terroristischen Söhne gefahren ist.

Aber den Söhnen geht es anders. Sie sehen in der Welt ihrer Väter keinerlei Chance, das zu erreichen, was ihren Eltern schon versagt blieb: den sozialen Aufstieg, die gesellschaftliche Anerkennung. Ihre Eltern haben nicht das Geld, sie auf gute Privatschulen zu schicken, wie es viele indische Familien schaffen.

Pakistanische Jungen sind schlechter ausgebildet als die meisten Jugendlichen ethnischer Minderheiten. Nur 22 Prozent der pakistanischen Jungen schaffen mit 16 Jahren eine Art Mittelschulabschluß; ihre Arbeitslosigkeit ist extrem hoch.

Das eigene Haus als Gefängnis

Gerade nach den schweren Rassenunruhen, die 2001 Oldham, Burnley, Bradford und auch Leeds erschütterten, gab es etliche soziologische Untersuchungen über die Ausschreitungen. Die Analyse, die damals die Universität Leeds verfaßte, warnte vor dem Gefängnis sozialer Armut, in dem pakistanische Jugendliche resignierten und mit den Ressentiments der Weißen zu leben haben.

In ihrer Nachbarschaft wohnt nicht die tolerante englische "middle class", sondern die "working class", die tiefe Ressentiments hegt gegen die Asiaten, die ihrer Ansicht nach überall "Klein-Pakistan" aufbauen wollen.

Das Gefühl der Ablehnung wurde 2001 durch die Rassenunruhen noch verschärft, und seit dem Einmarsch in Afghanistan und dem Irak hat sich die Vorstellung, der Westen sei gegen die Muslime, noch verstärkt. Keine Bevölkerungsgruppe empfindet sich seither von der Polizei und den Sicherheitskräften so kontrolliert wie muslimische Jugendliche.

Viele junge Männer der pakistanischen Parallelgesellschaft erleben aber auch das eigene Haus als Gefängnis. Dort herrschen patriarchalische Regeln. Anderen Familienmitgliedern, Verwandten und Nachbarn wird das halbwegs erfolgreiche Immigranten- Leben vorgespielt, und von den Söhnen wird erwartet, daß sie ihren Vätern folgen, eines Tages deren Geschäfte übernehmen und ein pakistanisches Mädchen aus einer "guten" Familie heiraten. Diskussionen mit dem Vater gibt es nicht.

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kontakt@qantara.de Pakistanische Jugendliche sind ihren Eltern gegenüber in der Regel extrem höflich und devot - auch das gehört zur Fassade einer traditionalistischen Kultur. Verständnis suchen sie woanders - im Zweifel und in Einzelfällen auch bei Extremisten, die Enttäuschung und Perspektivlosigkeit der muslimischen Jugendlichen für ihre Zwecke ausnutzen.

Sie gaukeln den Söhnen der pakistanischen Einwanderer vor, es gebe den einzig richtigen Weg, wie sie aus ihrem Gefängnis einer gegen den Islam vermeintlich so ungerechten Gesellschaft ausbrechen können. Und sei es, daß sie ihnen befehlen, alles in die Luft zu jagen.

Bettina Schulz

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

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