Leidenserfahrung aus afghanischer Perspektive

"Osama" ist der erste afghanische Langfilm nach dem Zusammenbruch des Talibanregimes – keine beschwingte Beziehungskomödie, sondern vor allem Geschichtsaufarbeitung. Mit "Osama" gewann Regisseur Siddiq Barmak jetzt den "Golden Globe".

Mit dem Filmemacher hat sich Amin Farzanefar unterhalten.

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Siddiq Barmak

​​Mit seinem Film Osama versucht Siddiq Barmak die Schrecken der Taliban-Herrschaft zu visualisieren – passenderweise vermittelt aus weiblicher Perspektive. Osama ist die traurige Geschichte eines heranwachsenden Mädchens in Afghanistan: Da Frauen ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen dürfen, schickt eine Mutter ihre Tochter als Junge - namens Osama - verkleidet arbeiten, fürchtet dabei aber, dass ihre Tochter irgendwann entdeckt wird.

Barmak filmt sein trauriges Märchen nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, aus der Distanz eines langjährigen Exilanten, sondern hat sich immer wieder in Afghanistan oder im pakistanischen Grenzland um ein engagiertes Kino bemüht – bisweilen etwas zu einseitig: Denn in seinem früheren Propagandafilm "The Invasion Files" von 1997 glorifizierte er den Befreiungskampf, den die Mudjaheddin unter Ahmad Shah Massud gegen die aus Pakistan einsickernden Taliban geführt hatten. Dabei verschwieg er die Machtkämpfe unter den Warlords selbst sowie den Extremismus der eigenen Bevölkerung.

Seine neuer Film "Osama" ist dagegen bemerkenswert ausgewogen und überzeugt durch bedrückende, intensive und sehr realistisch anmutende Bilder der Schreckensherrschaft

"Osama" ist ein beeindruckender Film, in dem ein komplexes und trauriges Thema in eine farbenprächtige Kulisse in eine klare Fabel eingebettet wird…

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Filmszene aus "Osama"

​​Siddiq Barmak: Ja, ich persönlich bin der Überzeugung, dass man auch die kompliziertesten Sachverhalte und Probleme mit einer einfachen Sprache darlegen kann. Manche Filmemacher und Autoren möchten gerne Schwieriges in den Vordergrund rücken – Modernisten, Postmodernisten – aber wir wollen auch an unser eigenes Publikum denken, das mit dem ABC des Kinos noch nicht sonderlich vertraut ist.

Sie haben Ihren Film als "notwendig" bezeichnet. Notwendig für Afghanistan selbst oder für die Welt, damit sie versteht, was wirklich vorgefallen ist – oder beides?

Barmak: Beides. Die meisten Informationen gewinnen Sie ja aus Fernsehen, Radio und Zeitungen. Und ebenso wie die Dokumentarfilme spiegeln diese doch nur einen speziellen europäischen Blick wider, zumindest einen nicht-afghanischen. Mein Anliegen war es, die Leidenserfahrungen nun aus einer afghanischen Perspektive zu vermitteln. Wir können der Welt unseren Schmerz am besten selber erzählen, da wir ihn auch erlebt haben.

Tatsächlich erscheint Osama trotz aller poetischen und surrealistisch anmutenden Szenen sehr real, etwa so, als sähe man den Scharia-Gerichtshof. Wie haben Sie es geschafft, aus der Distanz einen so unmittelbaren Eindruck zu vermitteln? Waren Sie dort selber unter den Taliban?

Barmak: Ich war nur zwei Wochen in Kabul gewesen, nachdem die Taliban es eingenommen hatten. Dann ging ich für zweieinhalb Jahre nach Nordafghanistan, das nicht von den Taliban kontrolliert wurde. In den letzten zwei Jahren, also von 1999 bis zum Ende der Talibanherrschaft, lebte ich dann in Pakistan. Und dort trafen ständig Flüchtlinge aus Kabul und anderen Städten ein, mit den merkwürdigsten Geschichten. Daher waren die Ereignisse nicht wirklich weit weg. Wichtig war schließlich, dass wir den Film in Kabul selbst drehten – mit Menschen, die die ganze Tragödie mit Haut und Haaren erlebt hatten.

Sie haben ausschließlich mit Laiendarstellern gearbeitet. Wie haben Sie diese entdeckt?

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Filmszene aus Osama

​​Barmak: Überall: Das Mädchen Marina fanden wir zufällig auf der Strasse beim Betteln. Der Junge, der den Espandi spielt, fing auf der Straße verwilderte Hunde, um sie dann zu verkaufen. Und die Darsteller der Taliban steckten unter den Insassen eines Flüchtlingscamps. Erst allmählich entdeckten sie, dass sie tatsächlich einfache Talibansoldaten waren. Durch ihre Mitarbeit an dem Film wollten sie schließlich auch ein Stück Buße und Sühne leisten.

Gerade jetzt, wo das afghanische Kino in einer Phase des Wiederaufbaus steckt, ist es interessant, noch einmal nach der Bedeutung und der Bestimmung dieser Filmkunst zu fragen.

Barmak: Einige wollen die Kunst um ihrer selbst willen, andere wollen sie für das Volk, für mich geht es um beides. Das Kino kann eine große Rolle in einem Land spielen, in dem 80 Prozent der Bevölkerung ein sehr geringes Bildungsniveau haben und weder Schreiben noch Lesen können. Das Bild kann hier sehr viel verändern - das Kino mit seinen Farben, seinen Gestalten. Die Menschen gewöhnen sich wieder an diese Kunst. Beispielsweise haben wir das Projekt "Mobile Cinema", wo wir mit Kinobussen im ganzen Land verschiedene Filme zeigen, um eine Botschaft für das Leben nach dem Krieg zu geben. Und auch, damit die Menschen wieder etwas zu lachen haben.

Afghanistan hat eine sehr bewegte Geschichte hinter sich, mit vielen Revolutionen, und es ist ein multi-ethnischer Staat, der vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt ist. Konnte sich hier ein einheitlicher Stil, eine eigene Ästhetik entwickeln, wie etwa beim iranischen Kino?

Filmszene aus Osama

​​Barmak: Im Iran, wo im Jahr mehr als 60 Filme produziert werden, hat sich eine bestimmte Erzählweise etabliert, aber in Afghanistan sind im Laufe der über hundertjährigen Kino-Geschichte nicht mehr als 42, 43 Filme entstanden. Der erste afghanische Film entstand erst 1947, in Zusammenarbeit mit einem indischen Regisseur, und da afghanische Frauen nicht als Schauspielerinnen arbeiten durften, hat man auf indische Darstellerinnen zurückgegriffen. In der Tat gab es keine kontinuierliche Entwicklung, und so konnte sich kein eigener Stil entwickeln. Dafür brauchen wir eine kontinuierliche Arbeit und mehr Filmregisseure.

Wieviele Regisseure gibt es denn derzeit in Afghanistan?

Barmak: Es gibt im Augenblick insgesamt 12 Filmemacher, darunter auch vier Regisseurinnen, die einige beeindruckende Dokumentarfilme gemacht haben und nun gerade mit Spielfilmen anfangen. Noch haben wir keine eigenen Lehrstätten, aber es gibt einige Institutionen, die die Arbeit unterstützen, wie das Goethe-Institut. Aber auch "Afghan Film" selbst, die Firma Ayneh, dann die Kabuler Universität und andere Einrichtungen, die spezielle Kurse für Drehbuchschreiben, Schauspiel, Filmkritik anbieten. Ich hoffe, dass man alle diese Initiativen bald an einem Ort vereinen kann. Daher bin ich optimistisch, was die Zukunft angeht.

Amin Farzanefar, © Qantara.de 2004

Mehr Informationen über den Film "Osama" erfahren Sie bei fluter.de und auf der Website zum Film