"Kultur des Friedens" oder "Kultur des Krieges"?

Die jüngsten Gewaltausbrüche in Afghanistan bestätigen eine Erfahrung, die vielfach in anderen Nachkriegsländern gemacht wurde: Kriegszerrüttete Staaten fallen nach einer Übergangsphase erneut in einen Konflikt zurück. Von Citha D. Maaß

Die jüngsten Gewaltausbrüche in Afghanistan bestätigen eine Erfahrung, die vielfach in anderen Nachkriegsländern gemacht wurde: Kriegszerrüttete Staaten fallen nach einer relativ friedlichen Übergangsphase erneut in einen Konflikt zurück, weil die Kriegsvergangenheit nicht aufgearbeitet wird. Von Citha D. Maaß

Brennendes Gebäude in Afghanistan; Foto: AP
Um dauerhaften Frieden zu schaffen, muss die Vergangenheit aufgearbeitet werden

​​Die vergangenen Gewalteruptionen vom Februar und Mai 2006 in Afghanistan werfen die Frage auf, warum lokal begrenzte Unruhen rasch zu Gewaltausbrüchen eskalieren. Warum besteht immer noch ein so großes Gewaltpotential in der – ansonsten kriegsmüden – afghanischen Bevölkerung?

Erfahrungen in Nachkriegsländern haben gezeigt, dass der Rückfall in einen neuerlichen Gewaltkonflikt droht, wenn der "Kreislauf der wiederkehrenden Kriege" (die so genannte Konfliktfalle) nicht durchbrochen wird.

Daraus wird die Lehre gezogen, dass die Kriegsvergangenheit aufgearbeitet werden muss, um dauerhaft Frieden zu schaffen. In diesem Prozess sollen die Gewalt auslösenden Ursachen bewusst gemacht werden mit dem Ziel, die bisherige "Kultur des Krieges" durch eine "Kultur des Friedens" zu ersetzen.

Transitional Justice: International gefördert

Im UN-Sprachgebrauch wurde 2004 der Begriff Transitional Justice für den Mechanismus eingeführt, mit dem die Kriegsgeschichte in der Gesellschaft bearbeitet wird.

Gemeint ist ein komplexer Prozess, der die Aufarbeitung der Vergangenheit, Wahrheitssuche und Dokumentation der Kriegsverbrechen, strafrechtliche Verfolgung der Täter und kulturspezifische Formen einer nationalen Versöhnung einschließt.

Eigens dafür wurde mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein Organ geschaffen, das Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen soll.

International unter dem Kürzel ICC (International Criminal Court) bekannt, nahm das Gericht zum 1. Juli 2002 seine Arbeit auf. Sein Mandat wurde jedoch auf Kriegsverbrechen beschränkt, die seit diesem Stichtag verübt wurden.

Dagegen ist eine rückwirkende Verfolgung ausgeschlossen, was strafrechtliche Bemühungen in Afghanistan vor ein Dilemma stellt. Denn die Jurisdiktion des ICC, dem Afghanistan beigetreten ist, erstreckt sich mithin nicht auf die Verbrechen, die während des langen afghanischen Krieges zwischen 1978 und 2001 begangen wurden.

Die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) wird bei der Suche nach einem Ausweg aus diesem Dilemma durch die UN und die internationale Gemeinschaft unterstützt.

So fand unter EU-Schirmherrschaft und UN-Vermittlung im Juni 2005 in Den Haag eine Konferenz statt, auf der sich die afghanische Regierung und die AIHRC auf einen politischen Kompromiss einigten: auf den "Aktionsplan für Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit".

Aktionsplan: Politische Kontroverse

Der Plan sieht vor, in einer dreijährigen Vorbereitungsphase einen spezifisch afghanischen Prozess der Transitional Justice zu konzipieren. Im Dezember 2005 wurde der Aktionsplan von Karzais Kabinett angenommen.

Im "Afghanistan Compact", dem von der Londoner Afghanistan-Konferenz am 31. Januar 2006 verabschiedeten Rahmenplan mit fünfjähriger Laufzeit für die zweite Wiederaufbauphase, wurde er explizit als einer der Maßstäbe für die Umsetzung genannt.

Doch lässt die für Frühjahr 2006 erwartete offizielle Bekanntgabe des Aktionsplans durch Präsident Karzai auf sich warten. Sie wäre notwendig, um die relevanten Ministerien (z.B. Justizministerium) mit ihren Provinzbehörden zur Mitarbeit zu verpflichten.

Afghanischer Präsident Karzai; Foto: AP
Da Karzai auf die Unterstützung einiger Mujaheddin-Politiker angewiesen ist, liefert ihm die verschlechterte Sicherheitslage einen willkommenen Vorwand, die offizielle Bekanntgabe des Aktionsplans weiter hinauszuschieben, meint Citha Maß

​​Stattdessen formiert sich der politische Widerstand ehemaliger Mujaheddin-Kommandanten, die nun hohe politische Ämter innehaben und befürchten, als Angeklagte vor ein Sondergericht gestellt zu werden.

Da Karzai auf die Unterstützung einiger dieser Mujaheddin-Politiker angewiesen ist, liefert ihm die verschlechterte Sicherheitslage einen willkommenen Vorwand, die offizielle Bekanntgabe des Aktionsplans weiter hinauszuschieben.

Karzais Zögern ist im Kontext der grundsätzlichen Prioritätenkontroverse zu sehen, die seit 2002 den Wiederaufbauprozess bestimmt: Soll die politische Stabilisierung Vorrang haben vor der Gerechtigkeit, also einer strafrechtlichen Verfolgung der Kriegsverbrecher?

Stabilität und Gerechtigkeit?

Bei der UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) zeichnet sich seit kurzem ein Paradigmenwechsel ab. Der damalige UN-Sonderbeauftragte, Lakhdar Brahimi, vertrat in Einklang mit den USA und der internationalen Gemeinschaft ab 2002 die Devise: zuerst Stabilität, später Gerechtigkeit.

Dagegen unterstützt der seit März 2006 tätige deutsche UN-Sonderbeauftragte Tom Königs die Forderung internationaler Menschenrechtsorganisationen nach "Stabilität und Gerechtigkeit".

Die AIHRC hat die Kontroverse mit ihrem Postulat "kein Friede ohne Gerechtigkeit" weiter zugespitzt. Unter Federführung ihrer Vorsitzenden Dr. Sima Samar und des Kommissionsmitglieds Ahmad Nader Nadery räumt sie der strafrechtlichen Verfolgung oberste Priorität ein.

Auch lehnt die AIHRC eine Amnestie und Straffreiheit für bestimmte Täter grundsätzlich ab – beides Forderungen, die aus dem Mujaheddin-Lager lanciert werden. Mit dieser kompromisslosen Haltung versucht sie, Druck auf den unentschlossenen Präsidenten Karzai auszuüben.

Sie rechtfertigt ihre harte Linie mit der internationalen Erfahrung, dass ein langfristiger Frieden nur gewährleistet werden kann, wenn die Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen werden.

Deshalb bleibt für die AIHRC lediglich zu klären, wie das zukünftige Sondergericht zusammengesetzt werden soll und wann es endlich eingerichtet wird.

Ungünstige Voraussetzungen für Transitional Justice

Die Prioritätenkontroverse zielt auf die zentrale Frage, welche Balance zwischen den beiden Kernkomponenten eines Transitional-Justice-Prozesses hergestellt werden soll: dem strafrechtlichen und dem aussöhnenden Teil.

In Afghanistan müssen jedoch überhaupt erst die strukturellen Voraussetzungen für diesen Prozess geschaffen werden. Eine Aufarbeitung der Kriegstraumata kann dazu beitragen, das Risiko der eingangs beschriebenen Gewalteskalation zu mindern.

Da praktisch jede afghanische Familie unter Kriegsfolgen leidet, gilt es, ein Umfeld zu schaffen, das eine Aufarbeitung ermöglicht.

Dazu ist eine strukturelle Veränderung notwendig, die auch im Aktionsplan angemahnt wird: der Justizsektor soll insgesamt reformiert und die staatlichen Institutionen sollen rechenschaftspflichtig, glaubwürdig, effizient und transparent gemacht werden.

Mit anderen Worten: das politische System muss von Korruption, Vetternwirtschaft und Unfähigkeit befreit und vor Einmischung seitens der bisherigen Machthaber geschützt werden. So wichtig und richtig diese Strukturreform ist, so fraglich bleibt, ob sie politisch überhaupt durchgesetzt werden kann.

Daran wird ein grundsätzliches institutionelles Dilemma deutlich: Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in das hochkorrupte Justizwesen, fordert aber in allgemeiner Form eine Bestrafung der Kriegsverbrecher.

Zwischen Islam und internationalem Recht

Fragt man nach, wie eine strafrechtliche Verfolgung unter diesen Umständen aussehen soll, wird erwidert, dass die bestehenden Gerichte unfähig seien und erst eine neue Juristengeneration herangebildet werden müsse.

Das würde jedoch die Strafprozesse auf unbestimmte Zeit verzögern mit dem Risiko, dass Opfer, Zeugen oder Täter versterben.

Ähnlich verzwickt ist das Problem der Rechtsgrundlage, das jedoch wegen seiner politischen Brisanz kaum öffentlich diskutiert wird.

Britischer Nato-Soldat patroulliert in Kabul; Foto: AP
Trotz ausländischer Truppen kommt es in Afghanistan immer häufiger zu Anschlägen der Taliban

​​Im Aktionsplan findet sich die politische Kompromissformel, dass Kriegsverbrechen in Übereinstimmung mit den "Prinzipien der heiligen Religion des Islam, des internationalen Rechts und der Transitional Justice" geahndet werden sollen. Umstritten ist jedoch, ob sich diese Rechtsnormen überhaupt miteinander vereinbaren lassen.

In Gesprächen mit Vertretern der AIHRC wird deutlich, dass sie sich ausschließlich am (säkularen) internationalen Recht orientieren. Dagegen verlangt der größte, überwiegend konservativ eingestellte Teil der Bevölkerung eine Bestrafung nach den Bestimmungen der Scharia, die auch die Todesstrafe kennt.

Der kleine liberale Teil der Bevölkerung fordert eine Bestrafung nach beiden Normen, ohne dass er jedoch das Verhältnis zwischen ihnen ausbuchstabieren kann.

Unklarer Rechtskodex

Und auf dem Land gilt überdies mit den zahlreichen nicht-kodifizierten Gewohnheitsrechten eine dritte Rechtstradition. Diese Rechte würden dann relevant, wenn weniger gravierende Kriegsverbrechen gesühnt und Opfer mit Tätern ausgesöhnt werden sollen.

Daraus ergibt sich ein kaum zu lösendes Problem für das von der AIHRC geforderte Sondergericht. Nach welchem Rechtskodex soll es verfahren? Und wie wirkt sich diese Entscheidung auf die Zusammensetzung des Sondergerichts aus?

Soll es nur von (noch auszubildenden) afghanischen Richtern gestellt oder international gemischt zusammengesetzt werden? Dabei dürfte in letztem Falle wohl kaum die Scharia als Rechtsnorm angewandt werden.

Und wie kann sichergestellt werden, dass die Urteile nicht als einseitige "Siegerjustiz" abgelehnt, sondern von der breiten (konservativen) Bevölkerung als "gerecht" akzeptiert werden?

Erschwerte Wahrheitssuche

Ein weiteres grundlegendes Problem stellt die Beschaffung von gerichtsrelevantem Beweismaterial dar. Im Aktionsplan ist ein eigener Prozess der "Wahrheitssuche" vorgesehen, in dem die Kriegsverbrechen sowie die Namen der Opfer, Zeugen und Täter dokumentiert und die erhobenen Daten in einem Zentrum gesammelt werden sollen.

Bundeswehr im Rahmen der ISAF in Afghanistan; Foto: dpa
Auch auf die Bundeswehr wurde in Nordafghanistan bereits ein Selbstmordanschlag ausgeübt

​​Doch sind in Afghanistan die Voraussetzungen dafür besonders ungünstig. Kriegsbedingt sind schriftliche Dokumente nur begrenzt vorhanden, so dass auf Zeugenaussagen zurückgegriffen werden müsste. Aber auch deren Aussagen werden manches nicht mehr erhellen können.

Beispielsweise lassen sich Befehlsketten vom Kommandanten hinunter zum ausführenden Kämpfer für manche Kriegsphasen kaum noch rekonstruieren. Das erhöht das Risiko, dass ein als Täter bekannter Angeklagter mangels eindeutiger Beweise freigelassen werden muss.

Deutsche Unterstützung für den Dialog

Schließlich ist ein sozio-politisches Hindernis zu nennen, das den Erfolg des Gesamtprozesses gefährdet. Die in Festtagsreden beschworene nationale Einheit besteht nicht:

Die afghanische Gesellschaft ist entlang ethnischer Trennlinien polarisiert und politisch gespalten in Anhänger verschiedener früherer Kriegsregime, die sich in dem 23-jährigen Krieg bekämpft haben.

Sie ist zudem sozial, wirtschaftlich und mental aufgesplittert in diejenigen, die im Land geblieben, und diejenigen, die aus dem Exil zurückgekehrt und oftmals besser ausgebildet sind.

Diese Trennlinien finden bereits in gruppenspezifischen Perzeptionen der Kriegsvergangenheit ihren Niederschlag. Die jeweilige sozio-politische Gemeinschaft schafft sich ihren eigenen "kollektiven Mythos" des Kriegsgeschehens.

Ausgehend von eigenen Erfahrungen kann Deutschland den Aufarbeitungsprozess in zweifacher Form stärken. Zum einen kann es den Dialog zwischen den entfremdeten Gruppen im Rahmen der Wahrheitssuche und Dokumentation fördern.

Und es kann zum anderen die Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens über die Fakten und die Bewertung der Kriegsvergangenheit unterstützen, indem es die Einrichtung einer unabhängigen afghanischen Historikerkommission befürwortet.

Citha D. Maaß

© Citha D. Maaß

Dr. Citha D. Maaß ist Politologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Qantara.de

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