Nationale Versöhnung auf Kosten der Opfer?

Ein neues Gesetz soll in Afghanistan den Weg zur nationalen Versöhnung ebnen und allen kriegsbeteiligten Gruppierungen der letzten 28 Jahre Immunität garantieren. Doch darüber ist im Land inzwischen ein heftiger Streit entbrannt. Von Ratbil Shamel

Ein neues Gesetz soll in Afghanistan den Weg zur nationalen Versöhnung ebnen und allen kriegsbeteiligten Gruppierungen der letzten 28 Jahre Immunität garantieren. Doch inzwischen ist darüber ein heftiger Streit zwischen moderaten Kräften und ehemaligen Kriegern entbrannt. Ratbil Shamel mit Einzelheiten

Milizen der Mujaheddin in Afghanistan; Foto: AP
Straffreiheit für Kriegsverbrecher? Der Gesetzentwurf zur nationalen Versöhnung steht in der Kritik bei Menschenrechtsaktivisten und moderaten Politikern.

​​Alles soll vergeben und vergessen werden: Die Zukunft, so die Initiatoren eines entsprechenden Gesetzes in Afghanistan, sei wichtiger als die blutige Vergangenheit. Nun müssen die zweite Parlamentskammer und der Präsident dem Gesetzesentwurf zustimmen. Doch so einfach ist die Sache nicht.

Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben, sagen viele Menschenrechtler in Afghanistan. Sie verlangen, dass allen Kriegsverbrechern in Afghanistan der Prozess gemacht wird.

Doch die Mehrheit der "ulusi jirga", die erste Kammer des afghanischen Parlaments, die fest in der Hand der ehemaligen Krieger ist, sieht das anders. Sie meint, dass das Land am Hindukusch ohne Immunität für alle Kriegsbeteiligten nie zur Ruhe kommen werde, der Bürgerkrieg nicht enden würde.

Im Zweifel für die Mujaheddin

Vor wenigen Wochen brachte eine Gruppe aus überwiegend ehemaligen Mujaheddin-Führern und heutigen Abgeordneten den Entwurf des neuen Gesetzes zur nationalen Versöhnung in die "ulusi jirga" ein. Vergangene Woche nahmen die Abgeordneten den Gesetzentwurf der "Nationalen Versöhnung" mit großer Mehrheit an.

Der Entwurf enthält elf Punkte. Der erste Punkt sieht vor, dass die ehemaligen Mujaheddin geehrt und aufgrund ihrer Verdienste um Religion und Vaterland vor allen Angriffen und Vorwürfen geschützt werden sollen.

Afghanische Abgeordnete in Kabul; Foto: dpa
Afghanische Abgeordnete während einer Parlamentssitzung in der Hauptstadt Kabul

​​Den am meisten umstrittenen, zweiten Punkt erklärt Saleh Registani, ein Abgeordneter der "ulusi jirga", folgendermaßen: "Alle Kriegsbeteiligten der vergangenen 28 Jahre sollen Immunität genießen. Darüber hinaus soll es keinem mehr möglich sein, eine bestimmte politische Gruppe aufgrund von Kriegsverbrechen vor Gericht zu zerren."

Dadurch kann, so Registani, dem Frieden im Land am besten gedient werden. Denn wenn sich niemand mehr vom Staat verfolgt fühlt, wird ihn auch niemand mehr bekämpfen.

Die Befürworter des neuen Gesetzes führen zwei weitere Argumente an: Da der Prophet Mohammed nach der Eroberung von Mekka allen seinen Gegnern vergeben habe, sollten es die Afghanen ihrem Propheten gleich tun. Und: Da Afghanistan ein Land der dritten Welt ist, soll es dem Beispiel Südafrikas folgen und keine Vergeltung üben.

Kriegsopfer nicht gefragt

Solche Argumente überzeugen jedoch nicht alle. Seit Tagen ist lautstarke Kritik zu hören. Farid Mutaqi, Sprecher der unabhängigen Menschenrechtskommission, sieht das afghanische Parlament rechtlich nicht in der Lage, über Kriegsverbrechen zu entscheiden:

Allein den Opfern der Kriege in Afghanistan stehe es zu, den Kriegsbeteiligten in ihrem Land zu verzeihen oder eben nicht, so Mutaqi: "Wir sollten jene Mütter und Väter befragen, die ihre Kinder verloren haben. Wir sollten jene Frauen fragen, die vergewaltigt worden sind, und jene Kinder, die ihre Familienmitglieder haben sterben sehen."

Doch gerade an die Opfer der vielen Kriege denkt die Mehrheit der Abgeordneten in der "ulusi jirga" offenbar nicht. Sie scheinen die Diskussion über Kriegsverbrechen in Afghanistan beenden zu wollen.

Für viele Beobachter ist das neue Gesetz eine Antwort auf die jüngsten Meldungen der Menschenrechtorganisationen zur Lage der Menschrechte in Afghanistan.

Die internationale Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" veröffentlichte im Januar dieses Jahres einen Bericht, in dem sie neben Talibanführer Mullah Omar und Terroristenführer Gulbuddin Hekmatjar auch Ministern der jetzigen Regierung sowie Parlamentsabgeordneten vorwirft, Menschenrechte zu missachten.

Karzai unter Druck

Doch mit solchen Attacken soll nun Schluss sein. Keiner soll in Zukunft die Mujaheddin kritisieren dürfen. Der Zeitpunkt für das neue Gesetz ist nach Ansicht des afghanischen Intellektuellen Qasim Achgar sehr gut gewählt.

Präsident Karzai brauche für seine neue Initiative die Unterstützung des so genannten "Rats der Sicherheit" zur Befriedung des Südens, die Unterstützung vieler Stammesführer und ehemaliger Mujaheddin, so Achgar: "Karzai weiß, dass er ohne diese Leute nicht im Süden gegen die Taliban agieren kann. Also muss er sich wohl oder übel ihren Wünschen beugen."

Präsident Hamid Karzai; Foto: AP
Heikle Situation für den afghanischen Präsidenten - Hamid Karzai muss sich die Unterstützung vieler Stammesführer sichern, die jedoch das umstrittene Gesetz befürworten.

​​Karzai ist in der Tat in einer schwierigen Lage. Die Lage im Süden und Osten des Landes ist alles andere als zufrieden stellend. Die Unruhen und der illegale Drogenanbau nehmen in diesem Teil des Landes von Monat zu Monat zu. Der afghanische Präsident erhofft sich Abhilfe durch seine neue Initiative.

Stammesführer und einflussreiche Lokalgrößen, darunter viele ehemalige Mujaheddin-Führer, sollen gemeinsam Auswege aus dem Konflikt mit den Taliban suchen. Hier ist Hamid Karzai auf die Zusammenarbeit mit der konservativen Mehrheit in der "ulusi jirga" angewiesen. Und genau diese verlangt von ihm, das neue Gesetz zur Nationalen Versöhnung zu unterschreiben.

Gesetz auf dem Prüfstand

Karzai hat in den ersten Tagen geschwiegen, nachdem das Gesetz die erste wichtige Hürde genommen hatte. Nachdem aber der öffentliche Aufschrei zu laut wurde, ließ er durch seinen Sprecher, Karim Rahimi verkünden, dass laut afghanischer Verfassung niemand einen echten Verbrecher begnadigen dürfe.

Rahimi erklärte weiter, dass der Präsident das Gesetz zwar nicht ablehne, es aber auch nicht unterschreiben wolle. Eine Experten-Gruppe sei von ihm beauftragt worden, die Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes zu prüfen. Dies kann erfahrungsgemäß Monate dauern.

Doch am Ende, sagen viele Beobachter, wird dem Präsidenten nichts anderes übrig bleiben, als das Gesetz anzunehmen. Er könne es sich in der jetzigen Situation gar nicht erlauben, die ehemaligen Mujaheddin auch noch gegen sich zu haben.

Die Sicherheit, wie der Verteidigungsminister Rahim Wardak vor kurzem sagte, sei wichtiger als die Demokratie. Und so denken mittlerweile viele in der afghanischen Regierung.

Wird das neue Gesetz aber tatsächlich verabschiedet, so könnten sich viele demokratische Kräfte enttäuscht von Karzai abwenden, befürchten Beobachter. Sie befürchten, dass die Folgen für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft in Afghanistan fatal wären.

Ratbil Shamel

© DEUTSCHE WELLE 2007

Qantara.de

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