"Das türkische Militär hat zuviel Macht"

Die kurdischstämmige Rechtsanwältin Eren Keskin wurde mit dem "Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit" ausgezeichnet. Im Interview mit Petra Tabeling spricht sie über Menschenrechte und Militär in der Türkei.

Eren Keskin; Foto: www.aachener-friedenspreis.de
"Für ihren mutigen Einsatz für die Menschenrechte" erhielt Eren Keskin 2004 den Aachener Friedenspreis

​​Erfüllt die Türkei Ihrer Meinung nach die Kriterien für eine Aufnahme in die EU?

Eren Keskin: Die europäische Gemeinschaft ist zuerst einmal eine Staatengemeinschaft. Und natürlich wäre es wichtig für die Türkei, dass sie in diese Staatengemeinschaft aufgenommen wird, weil in Europa einfach eine ältere, eine gefestigte Demokratie besteht. Aber dazu muss ich bemerken, dass auch in Europa genug Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Ich persönlich glaube nicht, dass die Türkei in die europäische Gemeinschaft aufgenommen wird. Und das liegt nicht nur an den Menschenrechtsverletzungen, die in der Türkei begangen werden.

Sondern?

Keskin: Wir wissen doch alle, wie die europäischen Länder zur Einwanderungspolitik stehen, auch zur Einwanderungspolitik nach dem 11. September. Natürlich sehen sie die Gefahr, dass so viele Muslime potentielle Einwanderer werden könnten. Momentan ist die Türkei noch nicht reif für die EU. Auch weil das Militär zuviel Macht hat.

Lassen Sie mich das so sagen, das Militär in der Türkei ist nicht nur eine bewaffnete Kraft, sie ist auch eine Industriekraft. Das Militär betreibt 38 verschiedene Betriebe, Banken, Versicherungen, Hotels, Fabriken. Wenn so viel Macht in einer Hand liegt, ist das einfach sehr gefährlich.

Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Erdogan hat die Folter verboten und die Todesstrafe abgeschafft. Wie verlagern sich jetzt, Ihrer Beobachtung nach, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei?

Keskin: Darin liegt ja das eigentliche Problem, dass nicht der Ministerpräsident die Macht über dieses Land hat, und auch keine andere zivile Partei, sondern, dass jede Macht vom Militär ausgeht und das Militär einen gewaltigen Druck auf die Parteien ausübt.

Das geschriebene Gesetz und die Realität sind allerdings zweierlei. Die Folter ist verboten und trotzdem existiert sie. Die Todesstrafe ist abgeschafft und dennoch werden auf der Straße Menschen umgebracht. Seit acht Jahren verteidige ich Frauen, die in der Haft sexuellen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt waren.

In der letzten Zeit werden sexuelle Folterungen, aber auch Folterungen allgemeiner Art, so gehandhabt, dass sie wenig sichtbare Spuren hinterlassen. Die alten Foltermethoden sind immer noch aktuell. Es gibt eine Vielzahl von Entführungen. Jemand wird in ein Auto verschleppt, die Augen werden verbunden und er wird weg gebracht. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen, das alles ist inoffiziell, und somit kann diese Person später nichts beweisen.

Gibt es Gespräche zwischen Regierungsvertretern und Ihrer Menschenrechtsorganisation "Insan Haklari Dernegi", deren Vize-Vorsitzende Sie sind?

Keskin: Darin liegt das Problem. Wir treffen uns und wir sprechen, aber oft bleiben es leere Worte, weil das wirkliche Problem das Militär ist. Auf der internationalen Ebene tragen unsere Gespräche Früchte. Die internationalen Organisationen erhalten die Informationen für ihre Berichte von uns.

Sie haben im letzten Jahr den Aachener Friedenspreis erhalten, jetzt wurden Sie in Esslingen mit dem Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit geehrt. Wie wichtig ist die deutsche Öffentlichkeit für Sie?

Keskin: Das liegt wahrscheinlich daran, dass es hier einfach sehr viele türkisch- und kurdischstämmige Menschen gibt. Allerdings wurden jüngst in Deutschland kurdische Pressestellen geschlossen, weil das die türkische Regierung von Deutschland verlangt hat. Wenn es um die Menschenrechtsorganisation geht, haben wir mit den deutschen eine viel stärkere Bindung als mit den anderen Ländern. Amnesty International in Deutschland ist für uns wie eine Schwesterorganisation. Ich erwarte von den anderen Staaten nichts.

Die türkische Regierung hat bereits einige Zugeständnisse an die kurdische Kultur gemacht. Wie bewerten Sie diese?

Keskin: Das ist eine sehr schwierige Frage. Der Ministerpräsident hat gesagt, es gebe ein Kurdenproblem. Am nächsten Tag hat der Generalstabschef geäußert, es existiere ein Terroristenproblem, aber kein kurdisches Problem. Damit fängt alles an und damit hört alles auf – mit der Militarisierung der Türkei. Das Militär möchte auf jeden Fall sein Feindbild behalten. Erst wenn dieses zersplittert ist, kann man Probleme lösen.

Was bedeutet die derzeitig geführte Kopftuchdebatte in der Türkei?

Keskin: Auch das ist eine Machtausübung des Militärs. In der Türkei leben wir einen falschen Laizismus. Die Regierung wurde auch unter dem Gesichtspunkt gewählt, dass sie das Kopftuchverbot aufheben wollte, aber das können sie nicht, weil es das Militär nicht möchte und den islamischen Glauben als einen Teil seines Feindbildes sieht. Wenn Sie mich persönlich fragen, ich heiße es weder gut, wenn eine Frau zum Kopftuch gezwungen wird, noch finde ich es gut, wenn sie gezwungen wird, es abzulegen.

Was konnte die Menschenrechtsorganisation "Insan Haklari Dernegi" bislang seit ihrer Gründung in den achtziger Jahren erreichen?

Keskin: Die Menschenrechtsorganisation hat zunächst einmal in der ganzen Welt publik gemacht, dass in der Türkei kritisches Denken nicht erwünscht ist. Außerdem berichten wir darüber, dass Kurden in Kurdistan unterdrückt werden und über das Problem der Militarisierung in der Türkei. Und das ist ja auch unser Ziel, dass man darüber diskutiert und dass so etwas publik gemacht wird.

Wie gefährlich ist es für Sie, über diese Dinge öffentlich zu reden? Sie wurden mehrere Male inhaftiert, und nun wurde erneut eine Todesdrohung gegen Sie ausgesprochen.

Keskin: Ich rede in der Türkei über das, was ich auch hier sage. Ich bekomme Morddrohungen, schriftlich, per E-Mail, telefonisch, aber das muss man in Kauf nehmen. Wir haben gelernt, damit zu leben und wir haben auch mittlerweile einen gewissen Galgenhumor entwickelt. Man lernt, mit dieser Gefahr zu leben, so ist das.

Interview: Petra Tabeling

© Qantara.de 2005

Qantara.de

PKK und Kurdenpolitik in der Türkei
Mehr als nur symbolische Gesten
Nach den Anschlägen von PKK-Splittergruppen scheint eine schnelle Lösung der kurdischen Frage in weite Ferne gerückt zu sein. Dennoch war die jüngste Rede von Ministerpräsident Erdogan in Diyarbakir ein erster Schritt in Richtung türkisch-kurdischer Aussöhnung – zum Missfallen der nationalistischen Kräfte. Ömer Erzeren berichtet

Kurden in der Türkei
Rechte stehen nur auf dem Papier
Eine internationale Delegation sieht nach einer Reise in die Türkei das Land noch nicht reif für die EU. Die Kurdenfrage sei längst nicht gelöst, Verbesserungen gebe es nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis.

Demokratische Reformen in der Türkei
Der lange Marsch
Die türkische Regierung bemüht sich ernsthaft, die Menschenrechtssituation zu verbessern. In den Institutionen setzen sich die Reformen jedoch nur langsam durch. Von Ömer Erzeren

www

Insan Haklari Dernegi (engl./türk./kurd.)

Theodor-Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit

Aachener Friedenspreis