Pakistanisch-indische Grenzverwischungen

Zwischen den Erzfeinden Indien und Pakistan, die zur gegenseitigen Abschreckung sogar den Aufbau eines Nukleararsenals für nötig hielten, scheint sich ein Tauwetter anzubahnen. Von Claudia Kramatschek

Zwischen den Erzfeinden Indien und Pakistan, die zur gegenseitigen Abschreckung sogar den Aufbau eines Nukleararsenals für nötig hielten, scheint sich ein Tauwetter anzubahnen. Der pakistanische Alltag freilich scheint schon ordentlich durchdrungen von der offiziell noch verpönten Kultur des Nachbarlandes. Von Claudia Kramatschek

Nach über 50 Jahren scheint das Eis endlich gebrochen zwischen Pakistan und Indien. Politiker beider Länder reisen hin und her, die Zeitungen berichten jeden Tag über das schwierige Gerangel hinter den Kulissen.

Doch das wichtigste Schlagwort ist vielleicht der "people-to-people-contact": der persönliche Kontakt zwischen Menschen dies- und jenseits der Grenze, um die alten lang gehegten Feindbilder zu durchbrechen.

Reist man dieser Tage durch Pakistan, entsteht freilich der Eindruck, dass die vermeintlich eiserne Mauer zwischen den beiden Staaten im alltäglichen Leben schon längst unterwandert wird. Die Mehrzahl der pakistanischen Haushalte etwa wird allabendlich einen der zahlreichen indischen TV-Kanäle auswählen, deren Einschaltquoten den pakistanischen Staatssender PTV vor Neid erblassen lassen.

Dort kann man - übrigens Seite an Seite mit amerikanischen Channels, die leicht bekleidete Damen zeigen - nicht nur Serien wie "Shri Krishna" bestaunen, sondern vor allem all die Hindi-Filme aus Bollywood konsumieren, die eigentlich seit Dekaden verboten sind - doch nunmehr für wenige Rupien auch in jedem der Videoshops angeboten werden, die noch in kleineren Städten allüberall zu finden sind.

Indische Filmdiven und Filmsongs sind somit längst Bestandteil der pakistanischen Alltagskultur; wo und wann immer etwa eines der rund 70 Millionen Handys in Pakistan klingelt, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit ein indischer Filmsong als Erkennungsmelodie ertönen.

Ein Nebeneffekt dieser Synergie könnte sein, dass sich die Nationalsprache Pakistans, das Urdu, wieder partiell mit dem Hindi vermischt, dessen Spuren einst am Anfang der nationalistischen Bewegung des frisch gegründeten Staates in einer Art Säuberungsaktion aus der Sprache verbannt wurden.

Verboten - und präsent

Wie mühelos gerade der Film - die derzeit weltweit wohl schärfste Waffe der Kulturnation Indien - die Barrieren überwindet, die seit 1947 beide Nationen zu trennen scheinen: Das konnte man dieses Jahr vor allem auf dem nunmehr vierten KaraFilm-Festival beobachten.

2000 als unabhängiges Filmfestival von einer Handvoll engagierter junger Filmemacher in Karachi initiiert, um dem nichtkommerziellen Kino in Pakistan - einem Land, dessen Kinos vom Aussterben bedroht sind - einen eigenen Platz zu bieten, hat sich das KaraFilm-Fest nunmehr einen eigenen Namen gemacht.

Dieses Jahr aber fiel die grosse Anzahl indischer Filme auf - obwohl indische Filme seit dem indisch-pakistanischen Krieg 1965 verboten und noch immer nicht offiziell erlaubt sind; eine der vielen Paradoxien Pakistans zwischen demokratischen Freiräumen und politischer Zensur.

Allein 9 der 21 Spielfilme, die im Wettbewerb von KaraFilm gezeigt worden sind, stammten von indischen Filmemachern - ganz zu schweigen von den Dokumentar- und Kurzfilmen, die ebenso zu sehen waren und allesamt politisch brisante Themen aufgriffen, sei das die Kaschmir-Frage, die Taliban oder auch die Versorgung mit Wasser dies- und jenseits der Grenze.

Doch genau diese Grenze scheint Pakistan und Indien als das jeweils Andere immer noch in einer Art Phantomschmerz zu verbinden: Die indische Filmemacherin Vinta Nanda etwa wählte das Festival und die Stadt Karachi für die Weltpremiere ihrer Filme - eine Hommage an die Stadt, in der sie einst aufgewachsen ist.

Rakesh Sharma wiederum zeigte seinen mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm "Final Solution" und war, so sagte er, selbst neugierig, wie das muslimische Publikum auf seinen Film über die Ausschreitungen fanatischer Hindus gegen Muslime im Staat Gujarat reagieren würde - zumal er den Film nutzen wollte für eine Debatte über die fundamentalistischen Kräfte in Pakistan, die etwa 20 Prozent der politisch-religiösen Landschaft darstellen.

Diese fundamentalistische Bewegung mutet - bei aller ernst zu nehmenden Radikalität - umso fragwürdiger an, wenn man bedenkt, dass viele pakistanische Muslime, geschichtlich gesehen, konvertierte Hindus sind.

Heute leben noch rund 1,5 Prozent Hindus im 140 Millionen Menschen zählenden Staat Pakistan, zusammen mit etwa 2 Prozent Christen. Trotz spürbarer Diskriminierung dieser Minderheiten finden sich dennoch Momente religiösen Synkretismus und eines friedlichen Zusammenlebens.

In Karachi etwa existiert noch immer ein der Legende nach 3000 Jahre alter hinduistischer Tempel, und Ende November feierten rund 2.500 Hindus ein religiöses Fest namens Dhandiya Ras, das seinen Namen von einem scheinbar kämpferischen, sehr rhythmischen Tanz mit Stöcken bezieht, den die Männer eine lange Nacht hindurch aufführen.

Im südlichen Sindh wiederum, das schon immer stark von der Sufi-Kultur geprägt worden war, existieren noch heute Heiligtümer, die von Hindus und Muslimen zugleich besucht werden und wo der Koran zu Füssen der Götterbilder des hinduistischen Pantheons liegt.

Nicht zu vergessen ist dabei auch die Glaubensgemeinschaft der Sikhs, die im nunmehr pakistanischen Teil des Punjabs ihren Ursprung hat.

Die Feier zum Geburtstag des Religionsstifters Baba Guru Nanak - das wichtigste Fest dieser Religion, die sich aus muslimischen und hinduistischen Elementen gleichermassen speist - war im letzten Jahr besonders denkwürdig, weil rund 4.000 indische Sikhs in den pakistanischen Punjab reisen durften, um vom 24. November an drei Tage lang ihrem Guru mit Gesängen, Tanz und Gebeten zu huldigen; sehr zur Freude zahlreicher pakistanischer Hindus und Muslime, die ebenfalls anreisten, um teilzunehmen am farben- und sinnenfrohen Fest.

Diese Attraktion rührt vielleicht daher, dass der indische klassische Tanz in Pakistan noch immer verrufen ist - obwohl doch die Sufis, jene Mystiker des Indus-Tals, den Tanz als Weg ansahen, um sich mit dem Göttlichen zu vereinigen.

Doch die wenigen professionellen Tänzer Pakistans, die - wie Sheema Kirmani oder Faisur Rehman - den klassischen Tanz in Pakistan pflegen, sahen sich lange nicht nur dem Vorwurf ausgesetzt, indische Kultur zu propagieren - eine Art Staatsverrat -, sondern auch, im Bereich des Obszönen zu agieren.

Aus diesem Grund wurden übrigens erst Ende November erneut ein Dutzend Tänzer und Schauspieler von pakistanischen Bühnen weg verhaftet.

Subversive Kleidermoden

Ein Dorn im Auge der Mullahs dürfte auch der neueste modische Chic der Mittel- und Oberschicht sein: der Sari, der seit einiger Zeit von Indien aus Einzug hält in die pakistanische Modewelt - und weibliche Körperteile freilegt, die der klassische Salwar Kamiz, die traditionelle Kleidung pakistanischer Frauen, bis dato züchtig verborgen hat.

Ob er im gleichen Masse den Siegeszug antreten wird wie seinerseits einst der Salwar Kamiz in Indien - auch damals sehr zum Ärger der Hüter der Nation -, wird sich zeigen.

Begegnet man ihm in Pakistan, scheint die Trägerin jedenfalls noch immer sorgfältig darauf bedacht, so wenig Haut wie möglich aufblitzen zu lassen.

Das wiederum kann man nicht sagen von den Frauen der ganz jungen Generation, die nunmehr in Grossstädten wie Karachi am Samstagabend im geschützten Ambiente der durch und durch westlich gestylten Shopping-Malls zu beobachten sind:

Während die westliche Besucherin, züchtig gekleidet im Salwar Kamiz, in einem Musikgeschäft ergriffen der melancholisch altmodischen Stimme der pakistanischen "Nachtigall" Noor Jehan lauscht, wandert wenige Zentimeter weiter ein amerikanisches Video in die Henna-verzierten Hände dreier knapp bekleideter junger Mädchen.

Claudia Kramatschek

© Neue Zürcher Zeitung, 3. Januar 2005