Mit Musik neue Brücken bauen

Wenn in der Türkei über Rebetiko und Balkanmusik gesprochen wird, fällt unweigerlich der Name des virtuosen Akkordeonspielers Muammer Ketencoğlu. Der Volksmusikfoscher bringt jede Woche im Radio seine Hörer auf "die andere Seite der Donau"– erfolgreich. Ein Porträt von Tuba Tunçak.

Bild Muammer Ketencoğlu; Foto: muammerketencoglu.com
Muammer Ketencoğlu: ''Volksmusik ist die Art Musik, die den Menschen am nacktesten beschreibt.''

​​Muammer Ketencoğlu ist ein Musikreisender. Er bringt uns mit seinen CDs, Samplern und Konzerten mal zu einer Kleinstadt an der Agäis, mal nach Armenien.

Der Musiker belebt mit seinem "Zeybek Ensemble" türkischen und griechischen Zeybeks wieder und lässt uns an der Trauer der Vertriebenen teilhaben, die mit dem Völkeraustausch 1923-1924 ihre Heimat verlassen mussten – aber das wichtigste ist, dass er die fast vergessenen Volksmusikwerke in die Gegenwart holt.

Sein Leben als Musiker begann Ketencoğlu in den Blindenschulen in Izmir und Gaziantep, wo er seine ersten musikalischen Schritte machte. Besonders erinnere er sich an seinen charismatischen, in Griechenland geborenen Musiklehrer, der ihm durch griechische Lieder die Tür einer neuen Welt öffnete.

Während seines Studiums an der Bosporus Universität, die ein internationales Volksmusikarchiv hat, interessierte er sich zunehmend für die Volksmusik aus unterschiedlichen Ländern.

Musik war immer ein Teil seiner Familie: die Lieder, die ihm seine Mutter vorgesungen hat, sind ihm unvergesslich wie auch sein Onkel, der Chef der Stadtkapelle, der ein Akkordeon nach Hause mitbrachte, in das sich Ketencoğlu 1973 verliebte.

Die Musik der Agäis

In Ketencoğlus Musikreise spielte der Rebetiko die Rolle eines Zünders. 1993 gewann er bei der staatlichen Lotterie Geld, mit dem er sein erstes Album "Sevdalı Kıyılar" (Verliebte Küsten) aufnehmen konnte. Auf diesem Album interpretiert Ketencoğlu alte griechische Lieder, die er seit seiner Kindheit mit Leidenschaft hörte, sowie neuere.

Der Rebetiko gehöre nicht zu einem bestimmten Volk, sondern zu einem geographischen Gebiet, nämlich der Agäis, so Ketencoğlu. Dem Album folgten die zwei von ihm zusammengestellten Sampler "Rebetika" und "Rebetika I" und weitere Sampleralben mit Volksliedern aus Aserbeidschan, Georgien, Armenien, den mittelasiatischen Turkrepubliken und dem Kosovo. Ebenfalls als Herausgeber trug er eine Auswahl mit dem Titel "Die Vorreiter der Klezmermusik" zusammen.

Schlüssel der Weltkultur

Bild, Muammer Ketencoğlu mit seinem ersten Akkordeon (1975); Foto: muammerketencoglu.com
Muammer Ketencoğlu mit seinem ersten Akkordeon, 1975.

​​Ketencoğlu bemerkte bei seinen Sammeltouren durch die verschiedenen Länder, dass sich die Volkslieder näher als die Menschen sind. Die Volksmusik sei für ihn die Art Musik, die den Menschen am nacktesten beschreibe und der Schlüssel der Weltkultur.

"Der Teil der Frauen an der Weltkultur aber wird meistens außer Acht gelassen", meint Ketencoğlu. Um diesen Teil zu würdigen, hat er aus ganz Anatolien Frauenlieder in der türkischen, kurdischen, griechischen und armenischen Sprache gesammelt und präsentiert sie mit seinem Frauenchor.

Auf seiner Musikreise, die in Anatolien begann und andere Kontinente erreicht, begegnet er nicht nur den verschiedenen Volksliedern, sondern auch den berühmtesten Musikern der jeweiligen Länder.

Die Kraft und Wärme der Musik

Einer von denen ist Mikis Theodorakis, der Friedensstifter zwischen Griechenland und der Türkei, dessen Namen Ketencoğlu zum ersten Mal in der Mittelschule hörte. Deswegen bedeute es ihm sehr viel, dass er 1996 zusammen mit dem großen Meister Mikis Theodorakis in Griechenland auf der Bühne stand.

Seit den 1990er Jahren hat Ketencoğlu nicht nur in den europäischen Hauptstädten wie Athen, Berlin, Paris und Wien Konzerte gegeben, sondern seine Musikreise hat ihn auch nach Brasilien und Israel geführt. Ende April 2008 war er auch in Holland und Belgien auf Tournee.

Der Musikreisende war ebenso zu Gast auf Zypern, das immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei führt. Wegen seiner friedlichen Haltung habe er trotz der politischen Konflikte bisher keine Probleme gehabt. Seine Mission sei "mit der Kraft und Wärme der Musik extremen Nationalismus, Hass, Verständnislosigkeit und Vorurteile in den Köpfen zu bewältigen".

"Izmir, die Stadt der Ungläubigen"

Von Ketencoğlu sind neben seinen Sampleralben bis jetzt fünf Alben erschienen. Sein letztes Album, das jetzt in dritter Auflage erscheint, lässt die Hörer nicht zwischen Ländern reisen, sondern eine Zeitreise nach Izmir vor 1922 machen, in dessen Straßen damals türkische, griechische und sephardische Lieder zu hören waren.

Auf dem Album sind Lieder wie "to Dervisaki" von Stelyo Berber in der Orginalaufnahme aber auch neue Aufnahmen alter Lieder zu genießen. "İzmir Hatırası - Andenken an Izmir" ist nicht nur eine musikalische Zeitreise, sondern auch mit seinem Booklet eine Sammlung von Belegen, Fotos und Erklärungen.

Coverfoto des Albums ''Andenken an Izmir''; Foto: muammerketencoglu.com
''Andenken an Izmir'' ist eine musikalische Zeitreise.

​​"Mit seinen Geräuschen und Gerüchen hat Izmir einen großen Platz in meinem Herzen", sagt Ketencoğlu. Er liebt die Stadt, in der er mit elf Jahren zum ersten Mal auf der Bühne stand. In seinem Werk teilt er den Hörern die reiche und vielschichtige Musiktradition von Izmir mit, die die Stadt ihrer kosmopolitischen Vergangenheit verdankt. Damit macht er auch ein Geschenk an diese Stadt.

Das kosmopolitische Izmir war im osmanischen Reich eine liberale und reiche Hafenstadt. Früher nannte man Izmir in Mittelanatolien, wie manchmal auch heute noch, "Stadt der Ungläubigen" – also nicht muslimisch.

In dem CD-Heft ist dazu eine Bemerkung von Ketencoğlu zu lesen: "Jetzt sind Sie dran, Ihr Herz dafür zu öffnen, was die Türken, Griechen und Juden erzählt haben, die hunderte Jahre zusammen lebten. Jetzt sind Sie dran, die Stadt der Ungläubigen zu umarmen."

Muammer Ketencoğlu erforscht die Volksmusik aus der ganzen Welt mit der Sensibilität eines leidenschaftlichen Musikliebhabers. In einer von populärer Massenkultur dominierten Musikwelt macht er die alten Volkslieder ausfindig. Dadurch und mit seiner vorurteilslosen Haltung gegenüber anderen Kulturen, baut er zwischen den Völkern neue Brücken.

Tuba Tunçak

© Qantara.de 2008

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