Kriegsangst am Horn von Afrika

Nach 15 Jahren Anarchie in Somalia haben Islamisten die Kontrolle über weite Teile des Landes am Horn von Afrika übernommen. Doch der Vormarsch der "Union islamischer Gerichtshöfe" droht die ganze Region in den Krieg zu ziehen. Von Marc Engelhardt

Nach 15 Jahren Anarchie in Somalia haben Islamisten die Kontrolle über weite Teile des Landes am Horn von Afrika übernommen. Doch der Vormarsch der "Union islamischer Gerichtshöfe" und der Machtzuwachs von Extremisten droht die ganze Region in den Krieg zu ziehen. Von Marc Engelhardt

​​So etwas hatte Mogadischu seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Erstmals seit dem Sturz des Diktators Siad Barre war die somalische Hauptstadt in der Hand einer einzigen Gruppe, der "Union islamischer Gerichtshöfe". Ihr Führer, Scheich Sharif Achmed, feierte die Machtübernahme am 5. Juni als "Beginn einer neuen Ära".

"Ich bin froh darüber, dass ich wieder gefahrlos vor die Tür gehen kann", freute sich etwa die Marktverkäuferin Fatima. Auch Taxifahrer Mohammed lobte die neu gewonnene Einheit der zuvor unter Clan-Milizen aufgeteilten Stadt: "Es gibt keine Straßensperren mehr, an denen mir Schutzgelder abgepresst werden – das kenne ich gar nicht mehr."

Doch vier Monate nach der Machtübernahme des Bündnisses der nach Scharia-Recht urteilenden Gerichte ist die Freude verflogen. Die Vorkämpfer für Recht und Ordnung in einer bis dahin rechtlosen Gesellschaft erscheinen vielen Somaliern, die seit Jahrhunderten einen toleranten Islam pflegen, inzwischen als neue Unterdrücker.

"Wir wollen unsere Kinos zurück", stand auf einem der Transparente, mit dem Somalier Anfang Oktober in der Hafenstadt Kismayo gegen das Verbot protestierten, die beliebten Bollywood-Filme vorzuführen. Besonders radikale Führer hatten bereits während der WM verboten, Fußballspiele zu zeigen. Radiosender mit westlicher Musik sind inzwischen ebenso untersagt wie Qat, ein bei Somaliern beliebtes Rauschmittel.

In Mogadischu werden verurteilte Mörder wieder öffentlich hingerichtet. "Eine solche Furcht wie derzeit habe ich in Mogadischu noch nie erlebt", berichtet ein deutscher Entwicklungshelfer, der seit mehr als zehn Jahren regelmäßiger Gast in Somalia ist.

Aufmarsch der Extremisten

In den Monaten seit der Übernahme Mogadischus haben die extremistischen Kräfte innerhalb der losen "Union" immer mehr Macht gewonnen. Neben Scheich Scharif Achmed, der als liberaler Pragmatiker gilt, steht inzwischen gleichberechtigt Hassan Dahir Aweis an der Spitze der Bewegung – ein international gesuchter Terrorist, der der Dschihad-Bewegung zugerechnet wird.

Der Ton gegen die vor zwei Jahren unter internationaler Vermittlung eingesetzte somalische Übergangsregierung wird täglich schärfer. Deren Kabinett ist zwar von den UN anerkannt, kontrolliert aber nur die Stadt Baidoa, gut 200 Kilometer von Mogadischu entfernt. Beide Seiten wollen sich zwar immer noch Ende Oktober in Khartum zu Friedensgesprächen unter Moderation der Arabischen Liga treffen, doch an eine Einigung glaubt niemand.

Die Islamisten haben in Kismayo ihre Zusage gebrochen, die Eroberung neuer Gebiete auszusetzen. Die Übergangsregierung hat zu ihrem Schutz äthiopische Truppen nach Baidoa geholt, was sie zuvor ebenfalls ausgeschlossen hatte. Somalische Radiosender berichten von einem "unvermeidlichen Krieg" zwischen den beiden Lagern.

Erzfeind Äthiopien

Zum ersten Mal in der Geschichte Somalias sprengte sich Ende September in Baidoa ein Selbstmordattentäter in die Luft. Übergangspräsident Abdullahi Jusuf entging dem Anschlag nur knapp. Seine Regierung hatte zuvor gemeinsam mit Äthiopien eine ostafrikanische Schutztruppe für Somalia gefordert. Äthiopien aber gilt den meisten Somaliern spätestens seit dem Ogaden-Krieg in den 70er Jahren als Erzfeind.

"Ich habe keinen Zweifel, dass unsere Truppen gegen die Äthiopier kämpfen werden", kündigt etwa der hochrangige Führer der "Union islamischer Gerichtshöfe", Moalim Hashi Mohammed Farah, an. "Wenn die Äthiopier sich nicht zurückziehen, marschieren wir bis nach Addis Abeba." Anfang Oktober erklärte ein lokaler Islamistenführer bereits einen "heiligen Krieg" gegen Äthiopien.

​​Äthiopiens Präsident Meles Zenawi lässt keine Woche verstreichen, ohne der "Union" zu drohen. Die traditionell christlich orientierte Nation fürchtet einen islamistischen Nachbarn, der die nach Unabhängigkeit strebenden ethnischen Somalier im Osten Äthiopiens unterstützen könnte.

Außerdem braucht das küstenlose Äthiopien Somalias Häfen: Mit Somaliland und Puntland im Norden Somalias hat Äthiopien deshalb schon seit Jahren Sicherheitsvereinbarungen getroffen. Wenn die Islamisten ihre Position im Süden weiter gefestigt haben, so glauben Analysten, wäre der semi-autonome Norden das nächste Ziel.

Dass Äthiopien im Kampf gegen die Islamisten eng mit den USA kooperiert, ist kein Geheimnis: Erst Ende September lobte US-Außenministerin Condoleezza Rice Äthiopien erneut als engen Verbündeten im "Kampf gegen den Terror".

Um die in Baidoa stationierten äthiopischen Einheiten zu verstärken, versucht ein prominenter Armeeführer derzeit zudem, zersplitterte Milizen in der Region gegen die nur noch dreißig Kilometer von Baidoa entfernten Islamisten zu einen, berichtet die Tageszeitung Xorriyadda.

Auch Uganda wäre wohl in einen potentiellen Krieg verwickelt. Mitte September wurden die Bewohner von Baidoa im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen, als ein ugandisches Militärtransportflugzeug auf der lokalen Piste landete. Ugandas Staatschef Yoweri Museveni hat wiederholt zugesagt, auf Anforderung der Übergangsregierung Truppen bereitzustellen.

Kampftraining in Zentralsomalia

Die "Union islamischer Gerichtshöfe" trainiert unterdessen in mehreren Lagern in Zentralsomalia 2000 neue Kämpfer, so die offizielle Zahl. Journalisten, die die Camps besuchen durften, berichten von Ausbildern aus Pakistan und Afghanistan.

Der wachsende Einfluss der Dschihadisten, so der US-Amerikaner Ken Menkhaus, gefährdet die Sicherheit in der gesamten Region: "Das ist ein Problem etwa für die Kenianer." Der Autor des Buchs "Somalia: state collapse and the threat of terrorism" denkt dabei etwa an die US-Einrichtungen in Kenia, die wie im August 1998 das Ziel von Terrorattacken sein könnten.

Dazu kommen die Flüchtlingsströme. Mehr als 25.000 Somalier sind seit Jahresbeginn in die Auffanglager im ohnehin unruhigen Norden Kenias geflohen, jede Woche kommen weitere 2.500 hinzu. Kenia, das dem ostafrikanischen Staatenbündnis IGAD vorsteht, hat sich inzwischen von der Beteiligung an einer Schutztruppe distanziert.

Zu groß, so heißt es, sei die Angst, im Mahlwerk widerstreitender Interessen die über Jahre erarbeitete Vermittlerrolle in Somalia zu verlieren.

Marc Engelhardt

© Qantara.de 2006

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