Die Kriminalisierung der Kritik

Vergangenes Jahr wurde der Schriftsteller und Friedenspreisträger Orhan Pamuk wegen einer kritischen Interviewaussage über den Genozid an den Armeniern in der Türkei vor Gericht zitiert. Dieser berühmteste Fall stellt aber nur die Spitze des Eisbergs dar. Von Günter Seufert

"Ich stamme aus eine Familie, deren gesamte Verwandtschaft 1915 von den Türken abgeschlachtet worden ist, ich habe gelernt, meine Herkunft zu verleugnen, und mir wurde beigebracht, dass es keinen Völkermord gegeben hat." Diese Worte stammen von der jungen türkischen Autorin Elif Shafak.

In ihrem Roman "Vater und Hurenkind" ("Baba ve Piç") legt sie den Satz einer Armenierin in den Mund, die in Istanbul aufgewachsen ist und heute in den USA lebt. Shafaks Buch ist eine Erzählung von Frauen in San Francisco und Istanbul, die trotz der leidvollen Geschichte ihrer Völker eine Beziehung zueinander knüpfen.

Der Maulkorb liegt bereit

Am 6. Juni wurde Shafak für diesen Satz in Istanbul vom Staatsanwalt verhört. Nationalisten hatten sie wegen Beleidigung des Türkentums verklagt. "In meinem Buch sind auch Figuren, die sich genau entgegengesetzt äußern", wehrt sich die Schriftstellerin und sagt, dass man Fiktion und Realität trennen müsse, denn wenn jemand einen Mord beschreibe, könne man ihn deswegen nicht einen Mörder nennen.

Wenn aber, wie das in der Türkei der Fall ist, der Staat seine Auffassung von Wirklichkeit absolut setzt, wird die Luft auch für Literaturschaffende dünn. Denn dann kommt, wer die Wirklichkeit von anderen - und sei es nur erzählerisch - neben die Wirklichkeit des Staates stellt, leicht mit ihm in Konflikt.

Das neue Strafgesetzbuch der Türkei ist wie geschaffen für Prozesse dieser Art. Es wurde im September 2004 auf Drängen der EU erstellt, die Ankara im Oktober dann bescheinigt hat, den politischen Kriterien von Kopenhagen zu genügen. Im Mai 2005 gründlich verschärft, zieht der Strafkodex heute Schriftstellern und Journalisten, Künstlern und Akademikern engere Grenzen als irgendwo in Europa.

Orhan Pamuk; Foto: AP
Orhan Pamuk wurde wegen"Öffentlicher Herabsetzung des Türkentums" angeklagt. Grund waren Äußerungen über den Genozid an den Armeniern.

​​Von Anfang 2005 bis Ende Juni 2006 wurden Prozesse gegen 49 Bücher und ihre Verfasser angestrengt, im Durchschnitt alle 11 Tage einer. Die vielen Verfahren gegen Journalisten tauchen in dieser Rechnung gar nicht auf, genauso wenig wie der Prozess gegen Orhan Pamuk, der sich nicht auf eines seiner Bücher bezog.

Unter den Vorschriften des Strafgesetzbuchs zur Abstrafung "falscher" Gesinnung ist der Paragraph über die Beleidigung von Türkentum, Armee und Republik die verlässlichste Keule. Doch auch harmloser klingende Artikel wie das Verbot der Volksverhetzung und der Schutz persönlicher Ehre sind auf eine Weise formuliert, die zur Kriminalisierung von Kritik einlädt.

Kaum Rechtssicherheit für Autoren und Verleger

Nicht weniger als zwanzig Paragraphen müssten geändert werden, damit Autoren und Verleger Rechtssicherheit genießen, so der Verband der türkischen Verleger, der auch die neueste Liste inkriminierter Bücher zusammengestellt hat.

Bis es so weit ist, werden Verfahren wie dasjenige gegen Abdullah Yildiz, Herausgeber von "Die Hexen von Izmir" ("Izmir Büyücüleri"), fortgesetzt. Das Buch, die türkische Übersetzung von "Oi Magisses Tis Smirni" der griechischen Anthropologin Mara Meimaridi, beschreibt das kosmopolitische Leben im Izmir des 19. Jahrhunderts, besonders dasjenige der Frauen der Griechen und Juden, der Türken und Armenier in der Stadt.

Wie beim Roman Elif Shafaks konzentriert sich die Anklage auch hier auf einzelne Passagen. Erneut lautet der Vorwurf auf "Beleidigung des Türkentums", diesmal weil türkische Frauen unvorteilhaft beschrieben werden. Dabei ist das Buch in der Türkei ein Bestseller, und türkische Sender verhandeln mit dem griechischen Kanal Mega 1 über die Übernahme einer Fernsehserie, gedreht nach Vorlage des Buchs.

Solche Verfahren, bei denen man nicht weiss, ob man weinen oder lachen soll, werden oft von "privaten" Initiantengruppen losgetreten. Die bekannteste von ihnen ist die "Juristenvereinigung" des Rechtsanwaltes Kemal Kerinçsiz, der die Prozesse gegen Pamuk und den armenisch- türkischen Journalisten Hrant Dink in Gang gebracht hat.

Doch trotz den oft lächerlich anmutenden Vorwürfen greifen Richter und Staatsanwälte die Beschuldigungen auf, Prozesse ziehen sich über Jahre hin, und bei den Verhandlungen greifen Nationalisten die Angeklagten und ihre Rechtsbeistände tätlich an.

Die Kurdenfrage als heißes Eisen

Bei Büchern, welche die staatlich verkündete Wahrheit direkt in Frage stellen, wird die Justiz von sich aus tätig. So bei "Die Wahrheit macht uns frei" ("Gerçek bizi özgür klacak") des armenischen Historikers George Jerjian, das eine andere als die offiziöse Sicht auf die Ereignisse von 1915 wirft, und bei "Das Tagebuch von Izmir" ("Izmir Güncesi") von Doka Bakayan, das die Rückeroberung Izmirs durch türkische Truppen 1922 beschreibt.

Für beide Bücher steht Ragip Zarakolu vor Gericht. Der Inhaber des Belge- Verlags ist seit 1968 mit der politischen Justiz in der Türkei vertraut und hat wegen Veröffentlichung unliebsamer Bücher bereits vier Haftstrafen verbüsst.

Elif Shefek; Foto: privat
Die Schriftstellerin Elif Shafak wurde wegen Passagen ihres Romanes "Vater und Hurenkind" von der türkischen Justiz angeklagt.

​​Diesmal soll er wegen dreier Veröffentlichungen für mehr als 13 Jahre ins Gefängnis: Neben den erwähnten Titeln steht auch das bei Belge verlegte Buch "Verbrannte Dörfer" ("Bin yllarn miras yakld: yitik köyler") auf der schwarzen Liste des Gerichts. Es enthält eine Bestandsaufnahme der meist kurdischen Dörfer, die dem Kampf der türkischen Armee gegen die separatistische kurdische PKK zum Opfer gefallen sind.

Tatsächlich dreht sich die grösste Gruppe der inkriminierten Bücher, 18 von 49, um die Kurdenfrage. Darunter sind Verherrlichungen der PKK- Guerilla wie der Roman "Abteilung Wirbelsturm" ("Kasrga Taburu") und mitfühlende Berichte über die Odyssee und Festnahme des PKK- Führers Abdullah Öcalan.

Vor den Kadi gelangen jedoch auch Werke ausländischer Verfasser; so etwa die türkische Übersetzung von John Tilmans "Spoils of War" ("Savas Ganimetleri") von 1997, das die Verflechtung von Militär, Politik und Rüstungsindustrie in den USA und ihre Kooperation mit autoritären Regimen am Beispiel der Türkei beschreibt. Beleidigung der Republik, des Militärs und auch des Ansehens von Kemal Atatürk werden dem Buch vorgeworfen, das in den USA Furore machte. Sechs Monate geht der türkische Herausgeber, der 26 Jahre alte Fatih Tas, dafür jetzt hinter Gitter.

Viele Tabuthemen

Auf Bücher zur Armenierfrage hatte der Staat dagegen zehn Jahre lang fast nicht mehr reagiert. Die neuen Verfahren sind eine Reaktion auf den gestiegenen Druck im Ausland anlässlich des neunzigsten Jahrestages der Massaker, der im Jahr 2005 begangen wurde, und darauf, dass sich die Diskussion über das Thema auch in der Türkei selbst nicht länger unterdrücken lässt.

Nicht alle Angeklagten werden verurteilt. Die meisten Freisprüche betreffen Bücher, die wegen Unsittlichkeit vor Gericht gelandet waren, darunter Karikatur- sowie Gedichtbände und erotische Literatur wie die türkische Übersetzung der "Philosophie im Boudoir" des Marquis de Sade.

Ungefähr zehn der fast fünfzig inkriminierten Werke befassen sich direkt mit dem Staat, seiner Ideologie und der Armee, und die Verfasser zahlen dafür ihren Preis, auch wenn sie vorsichtig formulieren. Ein Beispiel dafür ist die "Geschichte zweier Städte" ("Iki Sehrin Hikayesi"), eine Sammlung von Seyfi Öngider, die das Verhältnis von Istanbul und Ankara behandelt. Für ein bis drei Jahre soll Öngider eingesperrt werden, weil er den Staatsgründer Atatürk als "maßlos ehrgeizig" bezeichnet und damit an einem weiteren Tabu der Republik gerüttelt hat.

Günter Seufert

© Neue Zürcher Zeitung 2006

Günter Seufert arbeitet als Journalist und Publizist. Seit fast 20 Jahren lebt er in Istanbul und war dort bis 2001 Leiter des Instituts der Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul

Qantara.de

Interview mit Elif Shafak:
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