Bittere Wahrheiten für ein "blindes" Volk

Mit "Postlagernd: Algier" hat Boualem Sansal in seiner Heimat einen intellektuellen Mehrfrontenkrieg eröffnet: Der algerische Autor teilt in alle Richtungen aus und kritisiert sowohl die herrschende Klasse als auch die Islamisten. Beat Stauffer hat die Schmähschrift gelesen.

Boualem Sansal; Foto: Editions Gallimard
Anders als viele seiner Kollegen hat sich Boualem Sansal nicht ins französische Exil abgesetzt. In seinen Tiraden bleibt er seiner Heimat treu.

​​ Bitterere Wahrheiten über die einst so stolze Republik Algerien, noch bis in die 70-er Jahre als leuchtendes Beispiel eines Landes gefeiert, das sich dem kolonialen Joch durch einen heldenhaften Krieg entrissen hatte, lassen sich nur schwerlich finden.

Es ist ein Landsmann, der sie seinen Landsleuten vorhält; einer zudem, der es als wichtig erachtet hat, trotz Drohungen aller Art in seinem Land zu bleiben, statt sich in der ehemaligen Kolonialmacht zu etablieren. Boualem Sansal heißt der Autor, "Postlagernd: Algier" der schmale Band, den er im Jahr 2006 veröffentlicht hat und der nun auf Deutsch übersetzt worden ist.

Der "zornige und hoffnungsvolle Brief an meine Landsleute" – so der Untertitel – ist in einer schnörkellosen, lapidaren, direkten Sprache gehalten; einer Sprache zudem, die aus jeder Zeile eine tiefe Ernüchterung verströmt. Ohne Umschweife kommt der Autor zur Sache.

Das Schweigen über das, was in diesem "großen und schönen Land" wirklich geschehen ist und bis heute geschieht, diagnostiziert er als eines der größten Probleme Algeriens. "Und so kommt es, dass wir heute sind, wo wir sind", heißt es, "als Verstörte und Mittellose, Erstarrte und Verlegene, die nichts mehr zu leugnen oder zu lieben haben."

Schocktherapie und Weckruf

Ab el-Aziz Bouteflika; Foto: Wikipedia
"Ein Autokrat der schlimmsten Art": Boualem Sansal geht mit Algeriens amtierenden Präsidenten Bouteflika hart ins Gericht.

​​ Dieses folgenschwere Schweigen und die mentalen Blockaden aller Art, die mit ihm verbunden sind, aufzubrechen, ist denn auch das erklärte Ziel des schmalen Bändchens. Dabei setzt Sansal auf eine Schocktherapie, um seinen Landsleuten die Augen zu öffnen und sie aus ihrer tiefen Lethargie aufrütteln.

Gnadenlos zerpflückt er die "nationalen Konstanten" und "naturgegebenen Wahrheiten" – etwa das "Arabertum" des algerischen Volks –, unerbittlich analysiert er die Verbrechen und das Versagen der politischen Führer seit der Erlangung der Unabhängigkeit; "jener alten Krokodile, die ruhelos das Wasserloch umschleichen: mit offenem Rachen, unmenschlichem Auge, den Schwanz bereit zum Peitschenschlag".

Auch "Herr Bouteflika" wird dabei in keiner Art und Weise verschont. Für Sansal ist der algerische Präsident "ein Autokrat der schlimmsten Art" und trage "eine sehr große Verantwortung" für die Entwicklung, die Algerien genommen habe, erklärte der Autor in einem Interview mit der Schweizer Zeitung "La Liberté".

Viel Schatten, wenig Licht

​​In seinem Rückblick auf die mittlerweile beinahe 50-jährige Geschichte des unabhängigen Staates Algerien vermag Sansal, der über viele Jahre ein hohes Amt im Industrieministerium bekleidet hatte – er war Directeur Général de l'Industrie" – nur wenige Lichtblicke zu erkennen.

Der Kampf des algerischen Volkes um seine Unabhängigkeit sei noch am Tag der Feuereinstellung "privatisiert" worden von Akteuren, denen es in erster Linie um ihre Karriere und ihre Pfründe gegangen sei. Sansal scheut sich nicht davor, vom "Bankraub des Jahrhunderts" zu sprechen, begangen von Leuten, die sich benahmen "wie gewöhnliche Hühnerdiebe".

Dennoch diagnostiziert der Autor einige Lichtblicke zu Zeiten "Boumediènes des Düsteren". Houari Boumediène agierte von 1965 bis 1978 als algerischer Staatschef. Er war mit Unterstützung der Armee durch einen blutigen Putsch an die Macht gekommen und vertrat einen am Islam orientierten Sozialismus.

In positivem Licht erscheint auch die Revolte der jungen Algerier im Oktober 1988; "der entscheidende antifaschistische Aufstand", der während kurzer Zeit ein Aufatmen, ja einen kollektiven Traum ermöglichte, der aber schon fünf Tage später durch die "totalitäre Maschine" des Staatsapparates niedergewalzt wurde.

Als Lichtblick wertet Sansal schließlich auch die kurze Amtszeit von Präsident Mohamed Boudiaf, der nach bloß sechs Monaten von einem Leibwächter ermordet wurde; ein politisches Verbrechen, das bis heute nicht lückenlos aufgeklärt ist.

Verschwendung der guten Jahre

Houari Boumediène; Foto: Wikipedia
Houari Boumediène, "der Düstere" - in den Augen Sansals stellt seine Regierungszeit einen Schritt in Richtung Moderne dar.

​​Abgesehen von diesen wenigen Momenten vermag Sansal in der Geschichte des unabhängigen Algeriens trotz den enormen Einnahmen, die durch den Export fossiler Brennstoffe ins Land strömten, kaum Positives auszumachen. "Wozu haben wir diese gesegneten Zeiten genutzt?", fragt sich der Autor. Seine Antwort ist bitterböse: zu nichts.

"Zu Krimskrams, Antennen zusammenbasteln, von Pontius zu Pilatus laufen, Visa ergattern, Zeug zusammenklauben, Ersatzteile, auch Schrott sammeln, Proviant für den Winter bunkern, uns alsdann übereinander lustig machen, das weltweite Durcheinander nachahmen (...), die Zeit totzuschlagen."

Keiner der algerischen Führer, so das Fazit Sansals, hat das Land wirklich weitsichtig gesteuert und das Schiff auf Kurs gebracht. Stattdessen wurden während Jahrzehnten hohle Politphrasen gedrechselt, wurde die Revolution glorifiziert und ein gewaltiger Führerkult betrieben, wurde schließlich ein System errichtet, mit dessen Hilfe sich alle Würdenträger nach Gutdünken am nationalen Reichtum bedienen konnten. Die "systematische Ausplünderung des Landes" durch die jeweiligen Machthaber ist denn laut Sansal auch eine der traurigen Konstanten in der jüngeren algerischen Geschichte.

Intellektueller Mehrfrontenkrieg

Sansal ist sich wohl bewusst, dass er seinen Landsleuten enorm viel zumutet, alle möglichen Empfindlichkeiten verletzt und zudem einen eigentlichen Mehrfrontenkrieg führt. Denn der Autor verschont weder die ehemalige Einheitspartei noch die Sicherheitskräfte und schon gar nicht die Islamisten, deren Gesellschaftsmodell er kategorisch ablehnt. Es ist zu befürchten, dass Sansal persönlich damit ein hohes Risiko eingeht.

Da alle seine Bücher seit der Veröffentlichung von "Postlagernd: Algier" in Algerien verboten aber sind, dürften seine Landsleute vorderhand nur auf Umwegen vom Inhalt der grimmigen Streitschrift erfahren. Für den europäischen Beobachter stellt sich die Frage, in welchem Maß Sansals Diagnose der algerischen Verhältnisse durch seine bodenlose Enttäuschung über den Gang der Dinge getrübt und in dem Sinn überzeichnet ist. Alles weist aber darauf hin, dass die tatsächlichen Zustände in Algerien sehr viel näher bei dieser Einschätzung liegen als bei den offiziellen Verlautbarungen.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2008

Boualem Sansal: Postlagernd Algier. Übersetzung: Ulrich Zieger, Merlin Verlag, Vastorf 2008, 55 S.

Qantara.de

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