Gefangen in der Gender-Falle

Laut aktuellem Gleichstellungsbericht des Weltwirtschaftsforums rangieren Frauen in der Türkei inpunkto Gleichberechtigung nur auf Platz 129 der 134 untersuchten Länder. Ayşe Karabat informiert über die Ursachen für diese ernüchternde Bilanz.

Symbolbild Frauenemanzipation in der Türkei; Foto: AP
In seinem "Global Gender Gap Report 2009"</wbr> stellt das Weltwirtschaftsforum der türkischen Gesellschaft und Politik ein Armutszeugnis aus.

​​Serpil Çakır, eine etwa 30 Jahre alte Türkin, tritt aufs Podium während eines Meetings des "Human Rights Education Program for Women". Sie beginnt zu sprechen und sagt, dass ihr Leben bisher "sehr schwierig" gewesen sei. Dann bricht sie in Tränen aus.

Die Zuhörer, darunter Vertreter der Presse, Repräsentanten verschiedener Frauenorganisationen, einschließlich mehrerer namhafter, für die Frauenpolitik des Landes zuständiger Staatsbeamter sowie die Organisatoren der Veranstaltung, ermutigten Çakır, ihre Tränen zu trocknen und weiter zu sprechen.

Gekommen sind viele Menschen zu dem Treffen, um mehr über "Women for Women. Human Rights New Ways" zu erfahren, eine Bürgerrechtsorganisation, die 1993 gegründet wurde und seitdem bereits mehr als 7.500 Frauen über ihre Rechte aufgeklärt hat.

Schwerer Stand für die Frau in der Türkei

Mit dem Gefühl, ein schwieriges Leben zu führen, steht Çakır nicht allein; viele Frauen empfinden ähnlich. Trotz der Trainingsprogramme, an denen Frauen wie sie teilnehmen, trotz der Bemühungen, die Kluft zwischen den Geschlechtern zu überbrücken, ist es in der Türkei noch immer schwer, eine Frau zu sein – einem Land, das eine Regionalmacht sein möchte und Ambitionen auf eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union hat.

Unterstrichen wurden diese Schwierigkeiten zuletzt durch den vom Weltwirtschaftsforum (WEF) veröffentlichten Gleichstellungsbericht ("Global Gender Gap Report 2009"), der die Türkei inpunkto Gleichberechtigung lediglich an 129. Stelle sah – und das bei insgesamt 134 untersuchten Staaten.

Nur Saudi-Arabien, Benin, Pakistan, Tschad und Jemen schnitten noch schlechter ab. Hinzukommt, dass die Türkei seit Jahren stetig schlechter abschneidet; so stand sie 2006 noch auf dem 105. Rang, ein Jahr später an 121. Stelle und 2008 bereits auf Platz 123.

Heirat minderjähriger Frauen

Çakır erzählt, dass sie in Kırıkkale geboren ist, etwa 70 Kilometer entfernt von Ankara entfernt und dass auch die Nähe zur Hauptstadt ihre Familie nicht davon abhielt, sie von der Schule zu nehmen und mit einem Cousin zu verheiraten, als sie gerade erst 15 Jahre alt war.

Tagung des Weltwirtschaftsforum; Foto: AP
In dem Gleichstellungsbericht des Weltwirtschaftsforums schnitten nach der Türkei nur Saudi-Arabien, Benin, Pakistan, Tschad und Jemen noch schlechter ab.

​​Die kürzlich gebildete Parlamentskommission, die "Gleiche Chancen für Männer und Frauen" genannt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass bei einer von vier türkischen Ehen die Braut noch nicht volljährig ist.

Das wohl bekannteste Beispiel hierfür dürfte die Ehe des Präsidenten Abdullah Gül sein, der seine Frau Hayrünnisa heiratete, als sie gerade einmal 15 war – und damit halb so alt wie er.

Ein Zusatz zum türkischen Zivilgesetzbuch, der im Jahr 2003 erlassen wurde, sieht vor, dass Minderjährige mit 17 Jahren heiraten dürfen, wenn sie die Zustimmung ihrer Eltern vorweisen können und mit 16 Jahren, wenn ein Gericht es erlaubt. Vor diesem Erlass war das schon mit 15 Jahren und elterlicher Zustimmung möglich.

Und doch: Oft zählt das Gesetz wenig und in vielen Gegenden, so vor allem im östlichen und südöstlichen Anatolien – aber nicht nur dort –, gibt es noch immer Heiraten mit minderjährigen Frauen, auch wenn diese nicht offiziell zugelassen sind.

Aus diesem Grund plant die Parlamentskommission ein neues Gesetz, nach dem sich die Eltern von minderjährigen Ehepaaren der Beihilfe zur sexuellen Ausbeutung Minderjähriger strafbar machen.

Unzureichende Schulpflicht

Eine andere Option sieht die Verlängerung der heute achtjährigen Schulpflicht auf 12 Jahre vor (bis 1997 betrug die Dauer der Schulpflicht sogar nur fünf Jahre).

Selbst die fünfjährige Schulpflicht reichte jedoch damals nicht aus, um die Mädchen in der Schule zu halten. Im Bericht des WEF steht die Türkei hinsichtlich des Schulbesuchs von Mädchen nur an 110. Stelle. Eine von fünf Frauen in der Türkei ist des Lesens und Schreibens unkundig.

Laut Zübeyde Kılıç von der Lehrergewerkschaft Eğitim-Sen liegt die Schulbesuchsquote der Jungen bei 99,9 Prozent, die der Mädchen nur bei 95,7 Prozent, wobei allerdings viele Mädchen bereits nach der fünften Klasse die Schule verlassen, was sich in der offiziellen Statistik nicht unbedingt niederschlagen würde.

"Mehr als die Gesetze sind es wirtschaftliche Bedingungen und gesellschaftliche Vorstellungen, die einen negativen Einfluss auf die Mädchen haben", erklärt sie.

Mangelhaftes Bildungssystem

Kılıç betont außerdem, dass sich dieselbe Ungleichheit auch beim Lehrpersonal widerspiegelt: 40 Prozent der türkischen Lehrer sind weiblich, zudem finden nur sehr wenige von ihnen den Weg in leitende Positionen des nationalen Bildungssystems.

Demonstration von Frauenrechtlerinnen in der Türkei; Foto: AP
Widerstand gegen patriarchale Strukturen in Staat und Gesellschaft: Demonstration von Frauenrechtsaktivistinnen in der Türkei

​​Und noch einen weiteren Umstand macht sie für die Schwierigkeiten verantwortlich, mit denen türkische Frauen zu kämpfen haben: Laut Kılıç werde die Kluft zwischen den Geschlechtern durch das Bildungssystem, das zutiefst sexistisch sei, auch durch die verwendeten Lehrbücher noch verstärkt.

"So wird in den Schulbüchern noch immer streng zwischen männlichen und weiblichen Berufen unterschieden. Die klassische Einteilung der Arbeit in der Familie wird immer wieder neu als Norm dargestellt", fügt sie hinzu.

Als Frau, die ihre Schule für eine frühe Heirat verließ, wurde Çakır fünf Jahre später mit der Behauptung nach Hause geschickt, sie sei unfruchtbar.

"Mit 22 Jahren zwangen mich meine Eltern, erneut zu heiraten, was ich überhaupt nicht wollte. Ich heiratete einen älteren Mann, der bereits Kinder in meinem Alter hatte", erklärte sie.

Çakır bemerkte ferner, dass sie aus dieser Ehe einen Sohn mit Down-Syndrom hatte, der aber, da er ja behindert war, keinerlei Zuwendung von Seiten des Vaters bekam und schließlich verstarb.

"Ich begann ihn zu hassen, ließ mich von ihm scheiden und begann als Putzfrau in einem Krankenhaus zu arbeiten", sagte Çakır.

Nur 22 Prozent berufstätige Frauen

Dabei konnte sie eigentlich noch von Glück reden, überhaupt einen Job zu finden, denn im nationalen Durchschnitt sind nur 22 Prozent der türkischen Frauen berufstätig.

Abdullah Gül und seine Frau Hayrünnisa; Foto: AP
Das wohl bekannteste Negativbeispiel für die Heirat Minderjähriger dürfte die Ehe des Präsidenten Gül sein, der seine Frau Hayrünnisa heiratete, als sie gerade einmal 15 war – und damit halb so alt wie er.

​​Selma Acuner, Vorstandsmitglied der European Women’s Lobby und Frauenrechtsaktivistin, bemerkt, dass der geringe Anteil der Frauen im Berufsleben dafür sorgt, dass die Frauen ärmer werden, was wiederum dazu führt, dass sie auch einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung und zum Bildungssystem haben. "Kinder armer Frauen sind ebenfalls arm. Das ist ein Teufelskreis", so Acuners Fazit .

Den Grund dafür, dass so wenige Frauen arbeiten, sieht sie in der Tatsache, dass es an ausreichenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung ebenso mangelt wie an Pflegeeinrichtungen für Senioren, so dass es in den meisten Fällen die Frauen seien, die diese Aufgaben übernehmen müssten.

Acuner zweifelt am Willen der Regierung, das Problem ernsthaft anzugehen. So werde zwar die Gleichheit zwischen den Geschlechtern propagiert, gleichzeitig aber verlange Premierminister Erdoğan von jungen Paaren bei jeder sich bietenden Gelegenheit, mindestens drei Kinder zu bekommen.

Aktionsplan für weibliche Beschäftigung

"Nur davon zu reden, dass Frauen am Wirtschaftsleben teilhaben sollten, reicht nicht aus; es müsste einen Aktionsplan für weibliche Beschäftigungsmöglichkeiten geben und dies sollte ein Plan mit einem dezidiert frauenfreundlichen Ansatz sein", betont Acuner.

Çakır sagte, dass sie eine glückliche Frau sein wolle; sie hat jemanden kennen gelernt und sich entschlossen zu heiraten und diesmal aus freien Stücken.

"Eine Zeitlang war es ganz ok, ich hatte eine Tochter. Doch nach einiger Zeit begann mich mein Mann zu verprügeln."

Und auch hiermit steht Çakır nicht allein da. Statistiken zeigen, dass jede dritte türkische Frau Opfer häuslicher Gewalt wird – und das unabhängig von Bildungsstand und sozialem Status.

Laut Zahlen des Justizministeriums wurden in den ersten sieben Monaten dieses Jahres bereits 953 Frauen getötet. Die Stellungnahme des Ministeriums macht auch deutlich, dass bereits gesetzliche Maßnahmen getroffen wurden, um Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen, etwa auch dadurch, dass der gewalttätige Ehemann von der Frau ferngehalten würde.

Fehlender Schutz vor Männergewalt

Und doch weisen Experten darauf hin, dass Frauen von keinem Schutznetz aufgefangen würden; das Gesetz verlangt zwar von den Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern, Schutzorte anzubieten, doch werden keine Sanktionen für die Fälle genannt, die dieser Auflage nicht nachkämen.

Vielleicht ist es auch nicht überraschend, dass die meisten türkischen Städte über keinen frauenfreundlichen Politikansatz verfügen, hält man sich vor Augen, dass Frauen nur in zwei der 81 Städte das Amt des Bürgermeisters bekleiden.

İlknur Üstün von der "Association for Education and Supporting Women Candidates" (KADER) betont, dass es einer von der Verfassung geschützten positiven Diskriminierung von Frauen bedürfe, bis die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter erreicht sei.

"Die Türkei braucht definitiv ein Quotensystem, um die Kluft zwischen den Geschlechtern in der Politik zu überwinden. Das Parteiengesetz muss außerdem derart ergänzt werden, dass die Frauen in den Parteien wirksam in die Entscheidungsgremien eingebunden werden", sagt İlknur Üstün.

Ihrer Ansicht nach sei das politische Leben in jeder Beziehung am Alltag der Männer ausgerichtet, in sehr patriarchaler Weise. Damit werde kein Umfeld geschaffen, die den Frauen eine echte Teilhabe an der Politik ermögliche.

Çakır hatte jede Hoffnung verloren – bis sie vom "Human Rights Education Program for Women" hörte und daran teilnahm.

"Ich lernte daraufhin viel über meine Rechte. Ich bestand fortan darauf, dass sich mein Mann von meinem Haus fernhält – ein Recht, von dem ich erst durch das Trainingsprogramm erfahren habe. Ich lernte dort auch, bestimmte Dinge besser zu kommunizieren. Und als wir uns dann besser verstanden, fand auch die Gewalt gegen mich ein Ende", berichtet sie.

63 Prozent der Frauen, die bisher am Trainingsprogramm teilgenommen haben, sollen nach Angaben der Teilnehmer danach nicht mehr unter häuslicher Gewalt gelitten haben. 54 Prozent nahmen ihre Ausbildung und 29 Prozent wieder eine Beschäftigung auf, 13 Prozent machten sich sogar selbstständig.

Und doch geht es hier nur um 7.500 Frauen und, wie Çakır es ausdrückt, als sie zum Ende ihres mit viel Applaus bedachten Vortrags kommt: "Jede Frau in der Türkei sollte an einem Programm wie diesem teilnehmen. Ihnen steht noch ein langer Weg bevor."

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2009

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Qantara.de

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