Muslime und Integration in Europa

Zafer Senocak, ein in Deutschland lebender türkischstämmiger Schriftsteller, und Abdelkader Benali, ein in den Niederlanden lebender Autor, der in Marokko geboren wurde, diskutieren im folgenden Briefwechsel über das Leben in zwei Kulturen und über Probleme der Migration und der Integration in Europa.

Berlin, 30. März 2006  

Lieber Abdelkader,

Zafer Senocak; Foto: dpa
Zafer Senocak

​​ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der die Religion eine große Rolle spielte. Mein Vater war in den fünfziger und sechziger Jahren der Herausgeber einer der einflussreichsten muslimischen Zeitschriften in der Türkei. Diese Zeitschrift, die schlicht und einfach "Islam" hieß, war eine intellektuelle Plattform für einen konservativen, theologisch, mystisch und philosophisch ausgerichteten, aber nicht politisch aufgeladenen Islam, wie er in der Türkei im Zuge der Reformen des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt worden war.

Meine Mutter dagegen, eine Volksschullehrerin, kommt aus einer säkularisierten Beamtenfamilie, ihr Vater war Richter, aus der ersten Generation von Juristen der türkischen Republik. In den Augen dieser Familie war der Islam eine Angelegenheit der Unterschichten, symbolisiert durch das Kopftuch der Bäuerinnen und Hausangestellten. Überhaupt war der Islam Hauptgrund für die Rückständigkeit des Landes.

Hatten nicht Jahrhunderte lang Hodschas mit ihren obskuren Rechtsgutachten jeglichen Fortschritt verhindert? Sogar die Einführung von Druckmaschinen hatten sie untersagt, aus Furcht, der heilige Koran könnte auf solchen Maschinen vervielfältigt werden. Atatürk aber hatte mit seinen Reformen die Frauen aus ihrer sozialen Gefangenschaft befreit, Wissenschaft und Forschung über die Erkenntnisse der Religion gestellt und einen Prozess der Aufklärung eingeleitet.

Zafer Senocak, geboren 1961 in Ankara, aufgewachsen in Ankara, Istanbul und München. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Erzählungen in deutscher Sprache und schreibt für die tageszeitung in Berlin. Zafer Senocak ist Mitherausgeber der mehrsprachigen Literaturzeitschrift "Sirene". Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien.

 

In einem solchen Umfeld war mein Vater mit seinen Ideen und religiösen Überzeugungen ein Außenseiter. Aber als ein solcher Außenseiter hat er mich immer fasziniert. Denn er war ein musischer Mensch und viel offener, als die strammen Kemalisten, wenn es um Fragen der Kunst und gesellschaftliche Konventionen ging. Für was kämpfte dieser Mann eigentlich? Für seine Rolle als Mann, für seinen Glauben, für seine Würde, für Demokratie und Menschenrechte?

Der so genannte Kampf der Kulturen ist also in meinem Falle eine innerfamiliäre Angelegenheit. Da ich Spannungen immer als Auslöser kreativer Energie wahrnehme, fand ich mich in der Rolle des Beobachters unterschiedlicher Welten und Werte durchaus gut zurecht, auch wenn ich immer wieder festgestellt habe, dass es einen Dialog in Glaubensdingen nur beschränkt gibt. Trotzdem sind der Aufklärer, der an die Mündigkeit des Menschen glaubt, und der Gläubige, der sich als Geschöpf Gottes wahrnimmt, aufeinander angewiesen. Der eine erinnert den Menschen an seine gestalterischen, kreativen Möglichkeiten, der andere an seine Endlichkeit. Der eine ohne den anderen führt zur Hybris oder in die Sklaverei.

Die Türkei der sechziger Jahre gibt es nicht mehr. Das Kopftuch ist nicht mehr ein Symbol der Unterschicht, sondern von Frauen, die studieren wollen, aber nicht dürfen, weil sie das Tuch tragen. Auch die Frau des Ministerpräsidenten trägt es. Deshalb darf sie auf offiziellen Empfängen des türkischen Staates nicht erscheinen. Ein Paradox: Das Regime, das die Frau aus ihrer Isolation befreien wollte, versperrt ihr nun den Zugang in die Öffentlichkeit. Muslimische Frauen empfinden das zu Recht als Diskriminierung. Was aber ist das für eine Religion, die Kleidervorschriften erlässt? Was hat Gott mit Sex zu tun? Warum muss der Mann vor den Reizen der Frau geschützt werden? Wird das Leben nicht schöner, wenn wir diese Reize (wir Männer?) in all ihrer Üppigkeit betrachten dürfen? Was haben Frauen davon?

Lange Zeit dachte man wohl, die Sache mit der Religion hätte sich erledigt. Spätestens seit der sexuellen Befreiung. Die ist aber in islamischen Gesellschaften nie angekommen, vor allem auch deshalb nicht, weil sie ein sehr christlich-abendländisches Phänomen ist. In der muslimischen Kultur muss man den Sex nicht vom Schmutz befreien, er ist einfach da, ein natürliches Bedürfnis. Aber er muss reguliert werden, wie überhaupt alles reguliert werden muss. Und er wird sehr schnell zu einer Angelegenheit der Ehre. Immer aus der Perspektive des Mannes. Dieser Ordnungswahn der muslimischen Gemeinschaft ist wirklich kaum zu übertreffen. Eigentlich etwas sehr deutsches. Aber seit dem Hitlerstaat wird der Ordnungswahn in Deutschland nicht mehr so exzessiv zelebriert.

Ich habe einen Filmausschnitt gesehen: Die Niederlande stellen sich darin den Einwanderern vor. Eine Frau war zu sehen, oben ohne. Das ist zumindest ehrlich. So ungefähr stellt man sich in islamischen Ländern den Westen auch vor. Eine mächtige Wirtschafts- und Sexmaschine. Doch will sich der Westen wirklich so sehen? Kann man, darf man den Körper von der sexuellen Begierde entkoppeln, und hat man dann wirklich ein freies Verhältnis zu sich selbst?

In Deutschland wird viel über schrumpfende Geburtenraten und den Zerfall der Familie diskutiert, überhaupt viel über Werte. Vor zehn Jahren hatte man gerade noch die Spaßgesellschaft ausgerufen. Party war angesagt. So schnell wechseln eben die Epochen. Es handelt sich nur um Zeitspäne. Vielleicht eine der Ursachen für die allgemeine Rat- und Orientierungslosigkeit. Der verstorbene Papst hatte sich erfolgreich hochgearbeitet auf der Skala der Popstars, mit Losungen wie: keine Verhütung, kein Sex vor der Ehe. Ja, auch das ist der Westen.

Manchmal habe ich das Gefühl, man beneidet die Muslime für ihre großen "intakten" Familien, überhaupt für ihren Gemeinschaftssinn. Dieser verstohlene Neid ist keine gute Voraussetzung, um Individualismus zu propagieren. Den muslimischen Zuwanderern will man die eigene, offene Gesellschaft schmackhaft machen, verlangt von ihnen mehr Respekt und Loyalität. Der Gedanke, dass der ganze Einwanderungsprozess eine erotische Komponente besitzt, leuchtet mir ein. Die Paarung kann doch nur gelingen, wenn eine gegenseitige Anziehung, eine gewisse Attraktivität da ist.

Zafer Senocak

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Amsterdam, 4. April 2006  

Lieber Zafer,

Abdelkader Benali
Abdelkader Benali

​​ich bin erstaunt, wie globalisiert unsere Welt in den letzten zehn Jahren geworden ist, dank Internet und billiger Flugtickets, aber auch wegen der gespenstischen Nähe, in die unterschiedliche Kulturen aufgrund von Ereignissen wie dem 11. September 2001 oder dem Golfkrieg zueinander geraten sind.

Ich selbst, Abdelkader Benali, kam im ärmlichen Norden Marokkos als Kind von Eltern zur Welt, die selbst kaum lesen und schreiben konnten (mein Vater ging in den 60er Jahren nach Europa und schlug sich als Gastarbeiter durch, bis er sich als Schlachter in Rotterdam niederließ) – und jetzt schreibe ich in Englisch und diskutiere mit einem deutsch-türkischen Schriftsteller über das Kopftuch, die Gegensätze von säkularem und religiösem Denken und darüber, wie sich Missverständnisse am besten vermeiden lassen.

Wir sind in Maastricht zusammengekommen, jener Stadt, in der der berühmte Vertrag unterzeichnet wurde, mit dem die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion entstand. Damals wurde diese Europa-Idee (wie de Gaulle gesagt hätte) von vielen hart arbeitenden Menschen als Bedrohung empfunden. Daraus würde nichts Gutes entstehen. Seither hat es viele Klagen darüber gegeben, dass die Welt, in der wir leben, so groß ist, und die politischen Führer traf Spott und Verachtung – nicht immer zu Unrecht. Trotzdem sieht es so aus, als wären inzwischen selbst die beharrlichsten Kritiker dieses Europas milde geworden, hätten ihre anfängliche Kritik zumindest abgeschwächt.

Abdelkader Benali, 1975 in Marokko geboren, lebt als Schriftsteller in Amsterdam. In deutscher Übersetzung ist 2000 bei Piper der Band "Hochzeit am Meer" erschienen. Der Roman wurde für den renommierten Libris Literaturpreis nominiert und mit dem Preis für den besten Debütroman des Jahres ausgezeichnet.

 

Heutzutage ist der Islam in Europa das Thema Nummer eins, und alles dreht sich darum, ob die Rechtsvorschriften, die Moral und die sozialen Formen des Zusammenlebens von Muslimen vereinbar sind mit den Werten der säkularen Gesellschaften, in denen sie als Minderheiten leben. Verunsicherung ist in dieser Diskussion spürbar und - nach dem Mord an Theo van Gogh in Amsterdam und dem Aufkommen einer rechten Regierung, deren politisches Programm eindeutig muslimfeindlich ist - auch Angst. Viele Menschen glauben inzwischen, dass von Muslimen nichts Gutes zu erwarten ist. Man hält sie für rückschrittlich und verweist auf das Kopftuch, das nicht nur eine Kopfbedeckung sei, sondern auch die muslimische Frau unterdrücke. Oder auf die rituellen Schlachtungen von Lämmern zum Opferfest. Oder auf die anti-westliche Phrasendrescherei der Muslime, wenn Themen wie die Globalisierung oder die Trennung von Kirche und Staat auf die Tagesordnung kommen.

Zum ersten Mal als Gruppe repräsentiert sah ich muslimische Immigranten in einem deutschen Film. Damals war ich noch ein Kind. Die Geschichte handelte von einer Gruppe türkischer Immigranten, die in einem Lieferwagen aus Anatolien nach Deutschland kommen, um dort als Gastarbeiter zu arbeiten. Sie schlafen und beten zusammen in dem Lieferwagen, sprechen aber wenig miteinander. In Berlin, dargestellt als Stadt der Sünde, landen sie schließlich in einer Sexshow. Sie sehen ein Paar nackt auf der Bühne kopulieren. Die Leute haben dafür bezahlt, dies zu sehen, und applaudieren, wenn der Mann gekommen ist. Sie applaudieren nie, wenn die Frau ihren Orgasmus bekommt. Meine Eltern haben mir diesen äußerst freizügigen Teil des Films immer vorzuenthalten versucht, aber irgendwie habe ich ihn doch zu sehen bekommen – und nie wieder vergessen. Muslimische Immigranten verabscheuen billigen Sex, diese Lehre habe ich daraus gezogen.

Und heute soll ich als Autor mit muslimischem Hintergrund der Gesellschaft und denjenigen, die das Zusammenleben in ihr verbessern möchten, erklären, wie mit dieser angeblich so homogenen Minderheit umzugehen sei. Wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, treibe ich immer gern ein bisschen Schabernack. Ich denke, Schriftsteller sollten solches Augenzwinkern beherrschen. Besonders jetzt, bei all dem Aufruhr. "Wie lösen wir das Problem mit den Muslimen?", werde ich gefragt. "Ich sehe da kein Problem", antworte ich. "Wie, du siehst da kein Problem?" "Was für ein Problem denn?" "Na, siehst du denn nicht, wie die zweite Generation von Marokkanern auf die westliche Kultur herabsieht? Sie sind eingefleischte Antisemiten, sie importieren ihre Frauen aus dem Herkunftsland und eifern dem traditionellen Lebensstil ihrer Eltern nach. Außerdem essen sie immer noch mit den Fingern." "Was ist denn schlimm daran, mit den Fingern zu essen?" "Du weißt schon, was ich meine." Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, bevor ich antworte.

"Hast du von dieser Umfrage gehört, die kürzlich in den Niederlanden gemacht wurde?", frage ich dann. "Forum, ein Institut, das Entwicklungen und Tendenzen in der multikulturellen Gesellschaft verfolgt, hat junge Muslime über ihr religiöses Leben befragt, aber auch über ihre Ansichten zu wichtigen Fragen des täglichen Lebens. Und dabei ist unter anderem herausgekommen, dass quasi niemand in die Mosche geht. Sie interessieren sich mehr für das neueste Prada-Design als dafür, auch tatsächlich in Richtung Mekka zu beten. Sie sind jung, und wie alle anderen Jugendlichen auch sind sie extrem. Denk doch mal an die 68er zurück, die sich Blumen in die Haare gesteckt, komische Musik angehört und die Weltrevolution ausgerufen haben. Wie viele von denen haben ihre Ziele schon tatsächlich weiterverfolgt?"

Aber so leicht kann ich mich nicht aus der Affäre ziehen. Wenn die Leute einmal einen niederländischen Schriftsteller marokkanischer Herkunft gefunden haben, der bereit ist, mit ihnen über alles zu diskutieren, vom Islam im südmarokkanischen Palmental bis hin zu Mahlers Fünfter Sinfonie, dann geben sie nicht so schnell wieder auf. "Aber der Ruf nach Liebe und Frieden ist doch etwas ganz anderes als der Ruf nach dem Dschihad und dem Tod der Ungläubigen. Diese Generation von Immigranten hat keinen Respekt mehr, vor gar nichts!" "Nun, vielleicht ist das nur typisch für die Zeit, in der wir leben. Keinen Respekt vor Bush oder Blair zu haben, die Dinge beim Namen zu nennen. Und über Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit zu sprechen oder noch einmal die Frage zu stellen, welche Bedeutung religiöser Glaube in säkularen Zeiten haben kann, das ist doch nicht nur jungen Muslimen ein Anliegen. Darüber wird allerorten gesprochen, das Spiel ist eröffnet." "Du meinst, sie sind also gar nicht anders." "Ich kann jedenfalls keinen großen Unterschied erkennen."

"Bis auf das Kopftuch." "Weißt du, es gibt Mädchen mit Kopftüchern, die Make-up tragen und Zigaretten rauchen. Das sieht aus wie ein Widerspruch, aber ich habe sogar einmal ein türkisches Mädchen mit Kopftuch gesehen (Türkinnen tragen das Kopftuch ganz anders als marokkanische Frauen), die einen Hund an der Leine hielt. Das ist ein Widerspruch in sich, sogar in der extremsten Form." "Du siehst also keine Bedrohung?" "Ich sehe sehr viele Hunde an der Leine." "Manche dieser Hunde beißen." "Manche dieser Hunde sind ganz harmlos." "Manche Kopftücher verlangen nach noch mehr Kopftüchern und werden von Männern mit Bärten kontrolliert." "Manche Kopftücher haben fantastischen Sex, auch wenn sie darüber vielleicht nicht sprechen, auch wenn sie es vor der Gesellschaft geheim halten. Brauchen wir vielleicht ein Kopftuch-Festival, so wie die Generation der 60er Jahre ein Woodstock-Festival brauchte, um zu zeigen, dass sie sich vollständig von allen Zwängen befreit und das existentielle Rätsel gelöst hatte, welches die Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Bann hielt?"

"Du siehst also keine Bedrohung?" "Ich bin Realist. Ich finde, wir brauchen starke Sicherheitsdienste, die Anschläge auf die Zivilgesellschaft verhindern können. Aber ich glaube, die persönliche Freiheit des Einzelnen ist derzeit mehr in Gefahr als die so genannte Zivilgesellschaft." "Ich wünschte, du hättest Recht." "Und ich wünschte, mit Argumenten könnte man selbst den ängstlichsten Menschen, so er mit etwas Verstand gesegnet ist, dazu bringen, der Zukunft mit Zuversicht entgegen zu sehen und für sie zu kämpfen." "Du willst also die Bedrohung besiegen, die die Gesellschaft regiert." "Vielleicht." "Das wird dir nicht gelingen." "Warum nicht?" "Weil die Bedrohung keine Spiele spielt." "Das werden wir erst noch sehen."  

Abdelkader Benali

(Aus dem Englischen von Ilja Braun)

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Berlin, 11. April 2006

Lieber Abdelkader,

Zafer Senocak; Foto: dpa
Zafer Senocak

​​Du schreibst von der globalisierten Welt, in der wir leben. Gerade für uns Schriftsteller, die eine gewisse Langsamkeit brauchen, um arbeiten zu können, denn Schreiben ist doch nichts anderes als den Fluss der Sprache zu verlangsamen.

Um das Bedeutende zu gewinnen, stellt diese Welt eine Herausforderung dar. Aber sie eröffnet auch neue Spielwiesen, Kommunikationsräume. Ist es ein Zufall, dass wir uns jetzt über ein Medium austauschen, das genau zu dieser globalisierten Welt gehört? Das Gerede vom Scheitern der multikulturellen Gesellschaften ist aus meiner Sicht nichts anderes als der Ausdruck eines Scheiterns vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Und der Schlüsselbegriff dieses Scheiterns ist "Angst". Angst vor dem Verlust der gewohnten Wege, Ausdrucksmöglichkeiten, Zahlungsmittel. Jeden Augenblick kann sich das Bekannte in etwas Unbekanntes, Neues verwandeln. Diese permanenten Verwandlungen werden nicht als spannend und bereichernd empfunden, sondern als bedrohlich. Zumal sie oft mit ökonomischem und politischem Machtverlust verbunden sind.

Als man vor bald einem halben Jahrhundert die Gastarbeiter nach Europa holte, dachte sicher niemand an die muslimische Gefahr. Heute schreiben Autoren Bücher, in denen sie eine von Muslimen kontrollierte Welt voraussehen. Der muslimische Faschismus bedrohe den "freien" Westen. Diese Szenarien sind bestens geeignet, von den eigentlichen Problemen abzulenken. Jüngst habe ich eine Statistik gesehen, in der aufgezeigt wurde, dass es in den letzten Jahren sehr schwer geworden ist für Jugendliche türkischer Herkunft, einen Ausbildungsplatz in Deutschland zu bekommen. Ihre Zahl ist um fast ein Drittel gesunken, während die Zahl für die Deutschen zumindest gleich blieb und sich in einigen Landesteilen sogar verbessert hat.

Was wird aus diesen jungen Männern und Frauen? Welche Zukunftsaussichten haben sie? Ist es möglich, Menschen in eine Gesellschaft zu integrieren, die ihnen nicht einmal die Lebensgrundlagen sichert? Unsere Gesellschaft produziert "Outcasts" am laufenden Band. Viele dieser jungen Menschen haben mit Religion nichts am Hut. Es ist ihnen egal, ob der Muezzin zum Gebet ruft oder die Kirchenglocken läuten. In der Öffentlichkeit aber sind sie die Muslime, nicht integrierbar, potentielle Terroristen, Frauenfeinde, Schwulenfeinde usw. Ja, es ist richtig, es gibt eine Verrohung der Sitten, zum Teil auch eine Radikalisierung der Ansichten. Manche der jungen Männer wachsen in einem sehr traditionellen Umfeld auf, deren Normen und Werte leicht in Konflikt geraten mit den Werten einer freien, pluralistischen Gesellschaft. Doch dieses in erster Linie soziale Phänomen zu theologisieren, bringt uns keinen Schritt weiter.

In Deutschland leben um die 120.000 Iraner, die überwiegende Mehrheit von ihnen hat einen muslimischen Glauben. Doch in den Diskussionen über einen "gefährlichen" Islam tauchen sie fast gar nicht auf. Die meisten von ihnen kommen nämlich aus den Mittelschichten, einige sogar aus der Oberschicht. Die Türken dagegen, die man in den sechziger Jahren zu Hunderttausenden ins Land geholt hat, damit sie die Drecksarbeit erledigen, in den Kohlenminen und U-Bahnschächten schuften, bilden inzwischen eine millionenstarke Unterschicht mit geringen sozialen Aufstiegschancen. Die Arbeitsplätze, die sie einst besetzten, existieren nicht mehr. Sie werden schlicht und einfach nicht mehr gebraucht. Die allermeisten von ihnen sind schlecht bis gar nicht ausgebildet, die Kinder versagen in der Schule. Wer aus diesem Loch herauskriecht – und das sind nicht einmal so wenige -, hat tatsächlich etwas geleistet. Das ist der eigentliche Skandal, über den man sprechen müsste. Der intellektuelle Diskurs über den Islam aber ist eine Scheindebatte. Er erreicht die Leute, die er betrifft, gar nicht. Er ist eine feuilletonistische Angelegenheit.

Zurück zum Phänomen der Angst: Ich habe mir angewöhnt, manchmal die Perspektiven zu wechseln, wenn ich über dieses Phänomen schreibe. Ich bin also nicht derjenige, vor dem man sich fürchtet, sondern jener, der Angst vor mir hat. Ich stelle mir vor, ich bin einer von den seit Jahrzehnten im selben Stadtteil von Berlin ansässigen Deutschen. Ich arbeite in einem kleinen Betrieb, der von der Schließung bedroht ist. Ich gehe auf die fünfzig zu, und die Aussichten, einen anderen Arbeitsplatz zu finden, sind schlecht.

Jetzt soll eine Moschee in meinem Stadtteil gebaut werden. Fremd aussehende Menschen, die immer in Gruppen gehen, werden sich dort versammeln und ihre Gebete verrichten. Von den Medien habe ich erfahren, dass man in solchen Gebäuden nicht nur Gebete verrichtet. Überhaupt stören mich das fremde Aussehen, die befremdliche Kleidung und das gebrochene Deutsch dieser Menschen. Ich möchte in Deutschland unter meinesgleichen leben. Es ist doch schließlich mein Land. Was haben diese Fremden hier zu suchen?

Mein Nachbar erzählt mir, dass die meisten von ihnen von Sozialhilfe leben, auf unsere Kosten. Er sagt auch, dass wir Deutschen bald aussterben werden und diese "Kanaken" alles erben werden, was wir mühsam aufgebaut haben. Denn sie produzieren Kinder wie Karnickel. Nein, in gesitteten Talkrunden oder bei Lesungen, die ich abhalte, höre ich solche Argumente nicht. Da heißt es dann, die Türken wollten sich eben nicht integrieren. Und es seien einfach zu viele von ihnen da.  

Zafer Senocak

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Amsterdam, 26. April 2006  

Lieber Zafer,

Abdelkader Benali
Abdelkader Benali

​​diese Diskussion über Multikulturalismus, Globalisierung und Annäherung erinnert mehr und mehr an ein schlechtes Theaterstück. Wir sprechen gern über das Gute und das Hässliche, das Menschen für ihresgleichen bereithalten. Aber wenn gleichzeitig Nationen, Regierungen, demokratisch und auch weniger demokratisch gewählte Führer damit beschäftigt sind, Kriege vorzubereiten, Uran anzureichern oder unschuldige Länder zu bombardieren, dann klingt auch der positive Teil solcher Erwägungen der menschlichen Natur vor diesem Hintergrund ein bisschen hohl.

Poesie ändert überhaupt nichts, und ich würde hinzufügen: Romane, Kurzgeschichten und gelegentliche Essays ebenso wenig. Ich bin ganz Deiner Meinung, dass Schriftsteller zögerlich sein sollten, wo die Gesellschaft vorschnell urteilt und rasche Lösungen für Probleme verlangt, die zuvor vernachlässigt wurden. Ich liebe es, langsam zu schreiben und mich in Geduld zu üben, obwohl ich auch glaube, dass es dringliche Fälle gibt, in denen anderes geboten ist: dass man nämlich seine Stimme erhebt und sich auch zu aktuellen Themen der Zeit äußert. Wenn man selbst die Dinge klar sieht, die den anderen nur verschwommen vor Augen stehen, dann sollte man nicht zögern. Aber ich bin dessen auch ein bisschen überdrüssig geworden. Ich glaube, es ist falsch, von Schriftstellern zu erwarten, dass sie die Fundamente für die Zukunft legen, und sei es nur auf Papier. Und bloß weil es uns in die Wiege gelegt wurde, zwei unterschiedliche Kulturen gleichermaßen kennen zu lernen, können wir solche Erwartungen auch nicht besser erfüllen.

Die Zukunft ist immer unbekanntes Gebiet. Natürlich: Ich glaube an das Paar an sich, an zwei Menschen und ihre Bestimmung zum gemeinsamen Glück, ebenso wie ich an den gesunden Menschenverstand glaube, der die Menschen zusammenbringen und im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit vereinen wird. Aber wie in jeder guten Ehe, so können auch hier unvorhergesehene Dinge passieren. Der Ehemann kann sich in eine Andere verlieben, und wenn die Dinge ihren Lauf nehmen, erinnert das Ganze womöglich irgendwann an Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe".

Aber ich möchte Dir gern sagen, welchen Fehler unsere Regierungen meines Erachtens heute machen: Statt etwas gegen die reale gesellschaftliche Benachteiligung der Unterschichten zu tun, schieben sie die sozialen Probleme dieser Schichten auf die Religion ab. Die Franzosen müssen derzeit für diesen Fehler bezahlen, wie wir an den Unruhen in den Banlieues gesehen haben. Hinzu kommt, dass Europa ein Zusammenschluss von Einzelstaaten ist, die sich allesamt noch in hohem Maße als Nationalstaaten begreifen. In der Geschichte Europas haben gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten immer eine große Rolle gespielt: Frankreich ist anders als Deutschland, und deshalb können wir Krieg führen; England ist anders als die Niederlande, und deshalb führen wir lieber keinen Krieg.

Europäische nationale Identitäten waren immer in solchen Abgrenzungen begründet. Die Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs gaben ihr Leben für diesen absurden, aber wirkmächtigen Begriff von Differenz. Deshalb spricht die Idee eines vereinten Europas die Menschen auch nicht an. Es gibt nichts mehr, wofür man mit Waffengewalt kämpfen könnte, denn die Idee Europas ist die Idee des Friedens. Was ihr zugrunde liegt, ist ökonomisches Eigeninteresse. Ein Gleichgewicht, das bislang gut aufrechterhalten werden konnte.

Warum also hat Europa solche Probleme damit, Immigranten als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen? Weil dies bedeuten würde, sich von einer über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhaltenen Idee der Differenz zu verabschieden. Der Immigrant muss geradezu anders bleiben, um den nationalen Traum nicht zu beschädigen. Wenn er gleiche Rechte einfordert, so werden sie ihm zwar gewährt, im Einklang mit den Idealen der französischen Revolution. Aber im Grunde verträgt sich das schlecht mit der Idee der Nation.

Die Verdammten der Erde haben im 20. Jahrhundert eine Zuflucht im Sozialismus gefunden. Mit seinem universalistischen Anspruch, die Verdammten zu erlösen, hatte er eine große Anziehungskraft und schien zunächst auch zu funktionieren, doch dann kam mit dem Fall der Mauer ein heftiger Rückschlag. Der Sozialismus war plötzlich tot, und die streitenden Parteien richteten ihre Aufmerksamkeit auf die neue Mittelklasse, die sich aus der ehemaligen Unterschicht entwickelt hatte. Heute indes haben wir eine neue Unterschicht: all die Menschen unterschiedlicher Herkunft, die weder mit der Idee Europas etwas anfangen können noch mit dem "Dritten Weg" der so genannten "Neuen Mitte" Europas. Diese Menschen sind die neuen Waisen.

Eine Waise zu sein, bedeutet, zur Unabhängigkeit gezwungen zu sein. Wenn dem eigenen Schicksal von keiner Seite Interesse entgegengebracht wird, dann bleibt dem Subjekt schließlich gar nichts anderes übrig, als ein hohes Maß an Autarkie zu entwickeln. Dies ist zugleich eine Herausforderung, wie Du ja selbst schreibst. Für den Einzelnen liegt darin die Chance, zu einer einzigartigen, weit entwickelten Individualität zu gelangen. Aber die Gemeinschaft bleibt desorientiert zurück. Die neue Form des Islam spricht diese Waisen sehr an, und ich kann das gut verstehen. Sie wollen nicht dasselbe durchmachen wie die Figuren in "Szenen einer Ehe", sie wollen eine eigene Identität, auch wenn es vielleicht nur eine Sparversion von wirklicher Identität ist. Sie sehnen sich nach einer Stabilität, die dem Waisenkind, das in ihnen steckt, Schutz bietet. Sie möchten hören: Auch Du kannst gerettet werden, selbst wenn darin alle Klischees der so genannten dynamischen Religion mitschwingen.

Ob man sie nun grauenhaft findet oder Sympathien dafür hegt – auf jeden Fall entsteht daraus eine neue Realität, und die globale Gesellschaft wird sich damit auseinandersetzen müssen. Und um noch einmal auf die Globalisierung zurückzukommen: Ich stimme Dir zu – wo deren Folgen nicht richtig bewältigt werden, entstehen Angst und Abwehr, die ihre Wurzeln in provinziellem Nationalismus haben. Europa hat sich in seinem eigenen Wunsch verfangen, ein Hansdampf in allen Gassen zu sein. Das gelingt ihm gut, aber die Bürger dieses Europas bleiben seelenlos zurück. Darauf werde ich nächstes Mal ausführlicher eingehen. Mit besten Grüßen  

Abdelkader Benali  

(Aus dem Englischen von Ilja Braun)

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8. Mai 2006  

Lieber Abdelkader,

Zafer Senocak; Foto: dpa
Zafer Senocak

​​Du schreibst vom Kernproblem Europas, die Beziehung zu einem Anderen, von der Kultur als Hoheitsgebiet der Fremdenpolizei, wie sie in den Nationalstaaten zur Stützung eigener Identität entwickelt und gepflegt wurde. Tatsächlich glaube ich, dass es ohne eine Überwindung dieses ausgrenzenden und im Kern zutiefst rassistischen Denkens gar kein vereintes Europa geben wird, bestenfalls eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten, die sich um wirtschaftliche und strategische Interessen herum gruppieren.

Vielleicht ist allein das schon ein Erfolg, wenn man sich die von Kriegen und gegenseitiger Abschlachtung gebrandmarkte europäische Geschichte in Erinnerung ruft. Der Kontinent der Bürgerkriege hatte in den letzten sechzig Jahren einigermaßen Erfolg, Frieden zu sichern. Dieser Friede wird aber so lange bedroht bleiben, solange man nicht erkennt, dass die Migration nach Europa neue Spannungen schafft. Gerade, weil sich die Spannungen zwischen den Staaten abgebaut haben, sucht sich das Aggressionspotential ein neues, altbewährtes Feld: Die Beziehung zu Menschen anderer Religion, anderer Hautfarbe.

Den Islamismus sehe ich nur als eine "orientalische" Variante des europäischen Nationalismus an. Das fremdenfeindliche Element, der Kulturalismus, die Gefangenschaft der Menschen in ihrer Gruppe, Sippe, Nation und Kultur sind dabei die übereinstimmenden Merkmale. Der Islamismus ist in diesem Sinne keine archaische religiöse Überzeugung, sondern eine durchaus moderne politische Strömung. Manche Kommentatoren sprechen dabei von der dritten totalitären Ideologie, nach dem Faschismus und dem Sozialismus, gegen die sich die freie Welt behaupten müsse.

Dieser oft kulturell interpretierte Kampf, da gebe ich Dir völlig Recht, ist in erster Linie eine Auseinandersetzung um materielle Ressourcen, Zukunftschancen, sozialen Status und Gerechtigkeit. Letzteres ist ein oft bemühtes Fremdwort der Menschheitsgeschichte. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass die Flucht in den Kulturalismus – Kultur dient dabei als alle Probleme erklärendes Muster - dadurch gestärkt wird, dass die Lösungsmöglichkeiten für soziale Probleme immer weiter in die Ferne rücken. Welche Chancen hat heute ein Migrantenkind in einer europäischen Gesellschaft, wenn es ohne Abschluss von der Schule geht? Und in Deutschland sind es nicht gerade wenige. Natürlich ist die Gesellschaft nicht an allem Schuld. Es gibt auch viel Lethargie und Desinteresse unter den Migranten. Aber die Waisenkinder, wie Du sie sehr treffend nennst, werden auch viel zu wenig angesprochen.

In den letzten Jahrzehnten hat man gerade im Ausbildungs- und Freizeitsektor sehr viele Mittel gekürzt, um zu sparen. Dass dieses Sparen am falschen Ende die Gesellschaft sehr teuer zu stehen kommen wird, kann man heute schon voraussagen, ohne ein Prophet zu sein. Wir Schriftsteller sind ja keine Sozialarbeiter. Wir sind auch keine Propheten. Aber dennoch haben wir eine Verwandtschaft mit diesen Berufen. Denn wir beschreiben menschliche Zustände und Befindlichkeiten, die im so genannten öffentlichen Diskurs oftmals verborgen bleiben.

Dass die Suche der "Waisenkinder" nach Autarkie auch eine starke ästhetische Dimension hat, wird man schwer bestreiten können. Diese ästhetische Dimension wird heute aus meiner Sicht von einer affirmativen Ideologie, dem Islamismus, bedient. Die Inszenierungen des Islamismus, die Videobotschaften der Selbstmordattentäter, die intensive Nutzung des Internets, die Medialisierung der Terrorfürsten als Popstars sind inzwischen eine Art Kunstersatz, schlechte Poesie sozusagen. Dem ein anspruchsvolleres, innovatives ästhetisches Programm entgegenzusetzen, ist eine wirkliche Herausforderung. Es geht dabei nicht darum, mit Büchern die Welt zu verändern, wohl aber darum, in der Welt zu sein, um sie aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Manchmal auch, eine Sprache für die Verlassenheit zu finden, die viele, die an keinen Staat, an kein Land, an keine Tradition mehr gebundenen sind, empfinden.

Es gibt auch etwas jenseits der Freizeitindustrie und dem Al-Kaida-Lager. Ich bin ja ein paar Jahre älter als Du. Und dieser Überdruss, von dem Du schreibst, der Brückenaufseher zwischen den Kulturen zu sein, ist mir allzu gut vertraut. Mit dieser Rolle, die einem automatisch zugeschrieben wird, zu leben, bedeutet aber auch, dass wir etwas daraus machen können. Bist Du nicht dankbar für die vielen wunderbaren Geschichten, die uns zur Verfügung stehen, gerade weil wir in mehr als nur in einer Kultur aufgewachsen sind? Ich begreife diese Tatsache inzwischen als ästhetische Herausforderung, so wie ich den Islam als ästhetische Herauforderung wahrnehme. Anders ist der Weg zur Autarkie nicht zu bestreiten.

Mit herzlichen Grüssen  

Zafer Şenocak 

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Lieber Zafer,

Abdelkader Benali
Abdelkader Benali

​​unsere Körper gehören uns nicht mehr. Sie werden in Beschlag genommen, aufgerissen, aufgefressen, besetzt, bombardiert, diskutiert, aufgeklärt, aufgeschnitten und in Augenschein genommen von neuen Gedanken, Einflüssen, Traditionen, Songs, Potpourris, Filmen, politischen Umständen und radikalen Ideen. Wir versuchen, sie davor zu schützen, dafür Sorge zu tragen, dass unsere Körper eine Brücke zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten bleiben, indem wir schöne Kleider tragen, Schwimmen gehen, Häuser bauen, die uns und unsere seichten Ideen umgeben. Wir verteidigen dieses sterbliche Fleisch, dass das unsere ist, gegen die Pfeile, die darauf abzielen, indem wir uns verkriechen, indem wir auf die dringlichen Fragen der modernen Zeit zu antworten uns weigern. Der Osten und der Westen, beide erheben sie Ansprüche auf unseren Körper, sie sagen: Zeig ihm die Welt, oder spreng ihn in die Luft, oder mach ihn zu etwas Frommen, verhülle deine Juwelen! Und so wird der Körper zum neuen Schlachtfeld des so genannten Kampfes um Herrschaft.

Die einzige Möglichkeit, Souveränität über den eigenen Körper zu erlangen, besteht für ein vernunftbegabtes Wesen darin nachzudenken, Dinge zu reflektieren und zu schreiben und so aus der eigenen Wut heraus eine neue Form des Widerstands oder der Existenz zu entwickeln - in der reichen Tradition eines Abu Nawas, Voltaire, James Joyce, Albert Camus, Edward Said und ihrer Brüder und Schwestern. Genau damit sind wir derzeit beschäftigt.

Dabei kommt einem leicht die Metapher des Sisyphos in den Sinn, der unablässig einen großen Felsbrocken auf den Gipfel des Berges rollt. Dieses Bild, das mir sehr viel bedeutet, trage ich immer in mir, und stets fällt es mir ein, wenn ich über den Islam diskutiere, die Misere des Feminismus, des Terrorismus oder der sozialen Ungerechtigkeit. Solche Diskussionen scheinen immer gleich zu verlaufen, die Themen sind wohl bekannt. Nicht viele Menschen sind bereit, angesichts einer in ständigem Wandel begriffenen Wirklichkeit von ihren felsenfesten Überzeugungen abzurücken, und so komme ich mir vor wie Sisyphos, der wieder einmal seinen Berg erklimmt. Und den Felsbrocken benutze ich als Waffe – oder als Stil –, um mich selbst verständlich zu machen und klar auszudrücken. Auch der Körper von Sisyphos ist verletzlich. Eines Tages wird der Tod kommen und ihn hinfort nehmen. Übrig bleiben wird nur der Stein und auf einen jungen, neuen Sisyphos warten, der ihn wieder den Berg hinaufschleppt.

Die Herausforderung für Schriftsteller besteht darin, die Schärfe des Steins und die Unmittelbarkeit des Augenblicks zu bestimmen. Ich reise, benutze meine Augen und nehme meine Erfahrungen mit zurück. Genau wie Du fühle ich mich meinen Wurzeln verbunden und blicke der Zukunft gespannt entgegen. Das ist vielleicht eine karge Aussicht, aber lass uns doch die Kargheit lieben lernen! Eins ist sicher: Schriftsteller und Intellektuelle können das Denken der Menschen ändern, indem sie Fenster zu einer neuen Welt aufstoßen. Aber unter den Wahrheiten, die erzählt werden müssen, sind auch viele hässliche, und am besten erzählt man sie sanft und mit Geduld.

Sisyphos muss Geduld haben. Und wir müssen besser zuhören und uns darüber im Klaren sein, dass die höchste Form der Verantwortlichkeit manchmal darin besteht, überhaupt nicht verantwortlich zu sein. Wir müssen freimütig und offen sein, ja ein bisschen einfältig auch, wie Erasmus in seinem Meisterwerk "Lob der Torheit“, wenn wir ein wenig Licht in die absurde und deshalb auch ungerechte Lage bringen wollen, in der wir uns als Sterbliche befinden. Zu jeder Art von Unterdrückung müssen wir Nein sagen, immer und überall. Nur so können wir echte Universalisten werden.

Allzu oft vermeiden es die so genannten "großen Denker" unserer Zeit, ihre Kritik an der Religion und den staatlichen Institutionen öffentlich zu machen. Allzu oft haben die angeblich objektiven Kritiker der modernen Gesellschaft auf diesem Auge einen blinden Fleck. Aber das bleibt nicht ohne Folgen: Mehr und mehr Menschen begreifen allmählich, dass man nicht die Ungerechtigkeiten einer Kultur, der man selbst nicht angehört, verurteilen kann, wenn man nicht auch einen kritischen Blick auf die Laster wirft, die in der eigenen Gemeinschaft zur Blüte gelangen. Es ist nicht fair. Sisyphos darf dieses Spiel nicht spielen.

Diese Korrespondenz ist ein Anfang, und dabei sollte es nicht bleiben. In gewisser Weise habe ich mich im Laufe dieses Gesprächs selbst verändert. Ich habe angefangen, einige meiner Positionen neu zu überdenken und musste einige meiner früheren Argumente fallen lassen. Einzig und allein der Dialog ermöglicht Verständigung. In dem langen Kampf gegen Fanatismus ist er die einzige Waffe, über die wir verfügen. Das Problem unserer Zeit besteht aber nicht im Konflikt zwischen zwei Gleichen. Im Gegenteil, die Welt war schon immer ein Ort der Ungleichheit.

Das Problem ist, dass jeder Konflikt ein Konflikt Ungleicher ist. Immer tritt der Stärkere gegen den Schwächeren an, der Reichere gegen den Ärmeren, der größere gegen den kleineren Schurken. Wir haben guten Grund, unseren Verstand zu benutzen: Nur so können wir zu einem Verständnis jener eklatanten Ungleichheit und der verstörenden Bilder gelangen, die aus ihr entstehen. Vielleicht geht mir der Mythos des Sisyphos deshalb so nahe: Der schwache Mensch schiebt den schweren Stein. Der Stein wird die Absicht des Menschen immer wieder zunichte machen, aber eins hat der Mensch ihm doch voraus: Verstand.  

Abdelkader Benali  

(Aus dem Englischen von Ilja Braun)