Wer richtet über das Schicksal des Arabischen Frühlings?

Islamistische Proteste wollen nach der ägyptischen Revolution die öffentliche Meinung beeinflussen. Der Übergang zu einer nachhaltigen Demokratie kann aber nur gelingen, wenn demokratische Regeln Teil des politischen Lebens werden und zeitnah freie und faire Wahlen durchgeführt werden. Von Paul Salem

Bei den großen islamistischen Protesten auf dem Tahrir-Platz am Freitag, dem 29. Juli, waren stark religiös gefärbte Slogans zu hören, die ihren Widerhall in der ganzen arabischen Welt fanden und die Frage aufwarfen, in welche Richtung sich der Arabische Frühling weiter entwickeln wird: zu einer pluralistischen Demokratie oder zum islamistischen Autoritarismus.

Bis vor kurzem waren es vor allem pluralistische und demokratie-freundliche Slogans, die die Demonstrationen in Ägypten und andernorts beherrschten; islamistische Gruppen dagegen waren bemüht, nicht aus ihrer Deckung zu kommen. Doch inmitten von Spannungen über den Entwurf der neuen ägyptischen Verfassung entschieden sich die Islamisten zu einer Machtdemonstration, die die gravierende Trennungslinie zwischen den politischen Gruppen in Ägypten und anderswo in den arabischen Ländern offen legte. Welche Bedeutung kommt diesen Differenzen zu, und welche Konsequenzen könnte das für Ägypten und den Arabischen Frühling insgesamt haben?

Die bisherigen Erklärungsversuche unterscheiden sich schon darin, welche Bedeutung den Protesten vom 29. Juli beigemessen wird. Ohne Zweifel waren sie mit hunderttausenden Teilnehmern eindrucksvoll. Wenn diese aber – in einem Land von mehr als 85 Millionen Einwohnern – den Großteil der islamistischen Basis ausmachen, bilden sie doch nur eine Minderheit. Andererseits: Sollte dies nur die Spitze eines Eisbergs zeigen, wäre ihre Stärke geradezu übermächtig. Dies ist eine Frage, die letztlich nur in freien und fairen Wahlen – vorläufig für den kommenden November angesetzt – beanwortet werden kann. Die meisten Prognosen trauen den Islamisten zu, eine größere Minderheit im neuen Parlament bilden zu können, nicht jedoch, die absolute Mehrheit der Stimmen zu verbuchen.

Keine Geschlossenheit unter Islamisten

Auch das Medienecho der Proteste sollte genauer analysiert werden. Die live gesendeten "islamisch, islamisch!"-Rufe der Menge werden vermutlich in den Ohren der religiösen Bevölkerung Ägyptens und Arabiens großen Anklang gefunden haben. Andererseits dürften große Teile der öffentlichen Meinung vor dem Regierungsmodell und die Gesellschaft, die von den Islamisten gefordert wird, zurückschrecken: Scharia und Machtabgabe an die Geistlichen.

Islamistische Proteste auf dem Tahrir-Platz, 29. Juli 2011; Foto: dapd
"Die islamistischen Slogans werden, vor allem wenn sie anhalten und weiterhin aufmerksam in den Medien verfolgt werden, einen bedeutenden Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Entwicklung in anderen arabischen Ländern haben", meint Paul Salem.

​​Und doch lösten die Proteste vom 29. Juli einen sichtbaren Kampf um das Schicksal des Arabischen Frühlings aus. Die erste Phase war geprägt vom gemeinsamen Ziel, den Diktator zu stürzen. Nach anfänglichem Erfolg aber gibt es nun keinen Konsens mehr über die zweite Phase: Welches Regierungssystem und welche Gesellschaft soll das alte System ersetzen?

Aber auch die Islamisten sind untereinander zerstritten. Die Proteste waren ein Zeichen der Stärke, aber sie waren kein Zeichen von Geschlossenheit. Salafisten und Radikale könnten die Wahlchancen der gemäßigteren Islamisten geschmälert haben, indem sie die Demonstration für ihre eigenen Ziele vereinnahmten. Ein moderater und junger Flügel innerhalb der Muslimbruderschaft etwa liegt programmatisch gar nicht so weit entfernt von ihren pro-demokratischen und säkulareren Mitkämpfern, mit denen sie die Revolution wagten. Sie träumen von einer pluralistischen Demokratie, an der sie genauso teilhaben wie andere Parteien und für ihre Ideen werben können. Sie schauen auf das türkische Modell und wünschen sich, die Muslimbruderschaft würde sich zu einer Art ägyptische AKP entwickeln.

Von einem konservativeren Flügel innerhalb der Muslimbruderschaft wird ein Mehrparteiensystem zwar akzeptiert, jedoch nur bei gleichzeitiger strikter Anwendung des Scharia-Rechts in der Verfassung und den Gesetzen. Auch unter den Salafisten finden sich Demokraten, doch lehnen radikalere Gruppen unter ihnen das Mehrparteiensystem und die Demokratie rundweg ab und wollen einen durch und durch islamischen Staat etablieren. Noch ist überhaupt nicht klar, wie es die Islamisten in Ägypten bei den kommenden Wahlen schaffen wollen, mit all diesen unterschiedlichen Fraktionen umzugehen.

Die Gefahren der Freiheit

Die Muslimbruderschaft als größte islamistische Gruppe Ägyptens trägt eine große Verantwortung, ihre Position in den kommenden Wochen zu verdeutlichen. Wird sie mit den Trends in den eigenen Reihen demokratisch und verantwortlich umgehen oder zu den alten autoritären und patriarchalischen Methoden zurückkehren? Und wird sie ein Teil der breiten politischen Koalition bleiben, die Träger der Revolution vom Frühling war, oder wird sie versuchen – jetzt, da der Diktator abgelöst ist – den Umsturz in ihr genehme Bahnen zu lenken?

Die islamistischen Slogans werden, vor allem wenn sie anhalten und weiterhin aufmerksam in den Medien verfolgt werden, einen bedeutenden Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Entwicklung in anderen arabischen Ländern haben. In Syrien leidet die Protestbewegung unter dem Zwist zwischen den Islamisten und pro-demokratischen Gruppen. Auch in Tunesien ist die künftige Rolle und der Einfluss der islamistischen Nahda-Partei noch alles andere gewiss.

Paul Salem; Foto: Carnegie Endowment
"Die erste Phase der Revolution war geprägt vom gemeinsamen Ziel, den Diktator zu stürzen. Nach anfänglichem Erfolg aber gibt es nun keinen Konsens mehr über die zweite Phase: Welches Regierungssystem und welche Gesellschaft soll das alte System ersetzen?", meint Salem.

​​Konservative Kräfte in der arabischen Welt, vor allem in der Golf-Region, mögen einen islamistischen Umsturz begrüßen, würde dieser doch die Welle der Demokratisierung brechen, indem der Nachweis geliefert würde, dass aller Aufruhr letzten Endes in die Islamisierung mündet. Außerdem würde dies islamistische Standpunkte gegenüber einem Vordringen säkularer Ideen in der Gesellschaft stärken. Und doch sollten die konservativen Kräfte in den Golfstaaten genau überlegen, was sie sich wünschen: Ein islamistisches Ägypten würde wahrscheinlich eine schwierige Zeit durchleben beim Versuch, seine strategischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu ordnen. Man kann wohl davon ausgehen, dass seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung in etwa der Pakistans entsprechen würde. Die Eliten der Golfstaaten sollten deshalb darüber nachdenken, ob sie sich eher ein neues Pakistan in ihrer Nachbarschaft oder nicht doch lieber eine neue Türkei wünschen.

Für den Westen aber bedeuten die Proteste des vergangenen Freitag die ernüchternde Aussicht, dass langwierige Phasen des Übergangs letztlich den radikalen Gruppen in die Hände spielen. Jetzt ist es andere Zeit, zeitnah freie und gerechte Wahlen durchzuführen: Diese werden jede Gruppe auf ihre tatsächliche Größe zurechtstutzen und den Slogans brüllenden Mob auf der Straße durch Debatten im Parlament ersetzen.

Das einzig wirksame Gegenmittel gegen die Gefahren der Freiheit ist mehr Demokratie.

 

Paul Salem

© carnegieendowment.org /Qantara.de 2011

Paul Salem ist Direktor des Carnegie Middle East Center in Beirut.

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de