Akribische Notizen

In "Das Leben der Wörter" beschreibt Brigitte Giraud das Leben des französischen Mädchens Nadia, in dem es ein Geheimnis gibt: Ihre Mutter ist Algerierin. Von der traumatischen algerischen Familiengeschichte erfährt der Leser jedoch zu wenig, meint Volker Kaminski.

Brigitte Giraud; Foto: www.mairie-chambery.fr
Brigitte Giraud wurde 1960 im algerischen Sidi Bel-Abbès geboren

​​Lange Zeit waren deutsche Romanciers der Auffassung, beim Schreiben von Büchern ginge es nicht um Spannung und Plot. Es galt geradezu als verpönt, eine klar strukturierte Geschichte zu erzählen. Statt eine Handlung mitzuteilen, sollte sich der Autor auf detaillierte Beschreibungen konzentrieren, Reflexionen anstellen und sich der Innenschau überlassen.

Dieser modernen Erzähltradition, die inzwischen wieder von einem stärkeren Willen zur "Story" abgelöst wurde, scheint Brigitte Girauds Roman "Das Leben der Wörter" anzugehören.

"Ich lerne"

Der Romaninhalt wird mit dem französischen Originaltitel genauer auf den Begriff gebracht: "J'apprends" ("Ich lerne"). Nadia, die Ich-Erzählerin, lebt mit ihrer Familie in einer Vorstadtsiedlung von Lyon und beschreibt akribisch ihren Schulalltag.

Zu Beginn des Romans entziffert sie noch, wie es kleine Kinder tun, allerlei Wörter, auf die sie im Alltag stößt. Am Ende ist sie Gymnasiastin und hat ihren Lerneifer etwas gedrosselt. Dazwischen liegt eine schier endlose Anzahl von Schulstunden, für die der Leser sich nicht wirklich interessiert.

Mehr als einmal fragt er sich, weshalb ihm all die trockenen Details - uferloser Schulstoff - mitgeteilt werden, warum er erfahren muss, dass Nadia ihre Ringbücher perfekt führt und Lochverstärkungsringe darauf klebt.

Das Sprießen der ersten Pickel, die Zettelpost verliebter Mitschüler, das Mittagessen daheim - jede Einzelheit wird protokollartig festgehalten. Der Blick der Erzählerin ist unpersönlich und distanziert. Weder ihre Schwester noch ihr Halbbruder tragen im Text Namen, und man fragt sich, warum das so ist.

Riss durch die Familie

Brigitte Giraud, geboren 1960 in Sidi Bel-Abbès (Algerien), hat bereits ein recht umfangreiches Oeuvre vorgelegt (einige ihrer Romane sind auch auf Deutsch erschienen). Dass sie in "Das Leben der Wörter" die Ich-Perspektive eines braven Schulmädchens gewählt hat, scheint erzählerische Absicht zu sein.

Nadia hat ein Geheimnis; in ihrem scheinbar so normalen Leben ist etwas grundsätzlich nicht in Ordnung. Der blinde Fleck, der ihrer Selbstfindung im Weg steht und über den zu Hause nie gesprochen wird, betrifft ihre Herkunft: Nadias Mutter ist Algerierin. Ihr Vater hat sich früh von ihr getrennt und lebt zusammen mit einer anderen Frau und den drei Kindern.

Nun ist es keine Seltenheit, dass Kinder die Scheidung ihrer Eltern verkraften müssen, in Patchwork-Familien aufwachsen und Stiefmütter und Stiefbrüder haben. Der Riss, der durch Nadias Familie geht, scheint jedoch tiefer zu sein.

Nadia kann ihre Stiefmutter nicht annehmen, obwohl diese sich zu bemühen scheint. Und als müsste sie das immer wieder zum Ausdruck bringen, nennt sie sie im Text durchgängig "die Frau, die nicht meine Mutter ist".

Algerienkrieg im Hintergrund

Nadias Problem wird jedoch nicht wirklich klar, auch nicht dadurch, dass im Text das Thema Algerienkrieg hin und wieder eingestreut wird.

Das Verstörende in Nadias Existenz wird nicht spürbar, allzu brav und korrekt kommen ihre Aufzeichnungen daher. In ihrem Leben ereignet sich nichts Ungewöhnliches, täglich erledigt sie ihr Pensum, trifft sich mit Freundinnen und feiert sportliche Erfolge.

Das Leben der Familie wirkt absolut durchschnittlich und keineswegs problematisch, wie uns der Klappentext suggeriert, der die Schule als "willkommene Flucht (Nadias) vor ihrem Zuhause" bezeichnet.

Zwar scheint Nadias um ein Jahr ältere Schwester psychisch belastet, es wird angedeutet, dass sie zeitweise in einem Heim wohnt und nur vorübergehend zu Besuch kommt. Aber das Umfeld, in dem Nadia aufwächst, ist geprägt von unterschiedlichen Ethnien, in der Schule gibt es viele Einwandererkinder, so dass Nadia nicht isoliert ist.

Mystifizierung der Mutter

Es drängt sich bei der Lektüre der Verdacht auf, als stülpe die Autorin ihrer dürftigen Geschichte ein politisches Thema über, als projiziere sie Gefühle der Entfremdung und Einsamkeit auf ihre junge Heldin. In einem zentralen Satz kommt dies besonders zum Ausdruck.

Nadia notiert: "Meine Muttersprache ist eine mir fremde Sprache." Warum sagt Nadia das? Meint sie mit "Muttersprache" hier: die Sprache, die meine algerische Mutter spricht?

Aber Nadia kommt mit der arabischen Sprache nie in Berührung und sie kann sich kaum an ihre leibliche Mutter erinnern. Wie es scheint, wird die abwesende Mutter allzu sehr mystifiziert.

Nadia ist mit ihrer (französischen) Sprache jedenfalls durchaus vertraut und findet sich im "Leben der Wörter" gut zurecht. Dies tut auch der Leser in Girauds klarer, distanzierender Sprache.

Dennoch bleibt sein Interesse an Nadias Erzählung auf der Strecke - am Ende ist er enttäuscht, da zu wenig von der traumatischen algerischen Familiengeschichte ans Licht kommt.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2007

Qantara.de

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