Dem Islam der Moderne fehlt eine Philosophie

Die so genannte Versöhnung des Islam mit der Demokratie kann nicht nur an der Wahlurne stattfinden. Eine solche Versöhnung ist vor allem eine Denkleistung, meint Zafer Senocak in seinem Essay.

Als in der Türkei vor fünf Jahren mit der AKP eine Partei an die Macht kam, deren führende Politiker gläubige und praktizierende Muslime waren, gab es viele Fragezeichen. Wie demokratisch war diese neue Partei? Würde auch die Türkei in den Sog des sich ausbreitenden Islamismus' geraten? Waren Muslime nicht immer und ewig ihrem heiligen Buch Koran verpflichtet und somit bestenfalls Trojaner, die sich als Demokraten tarnen?

Im Koran gibt es eine ganze Menge Vorschriften zur Sozialordnung einer Clangesellschaft. Patriarchalisch ist das Verhältnis der Geschlechter, martialisch die Strafjustiz.

Das Buch der Muslime stellt eben nicht nur Glaubenssätze und ethische Prinzipien auf, es regelt auch den Alltag der Muslime und gibt der muslimischen Gemeinschaft Richtlinien vor, nach denen sie sich richten muss, wenn sie das Zusammenleben organisiert.

Mustafa Kemal, der Gründer der türkischen Republik, wusste das und schuf Klarheit: Mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, verfügte er die strenge Trennung zwischen Staat und Religion, politischem Leben und Glaubenswelt, nach dem Vorbild des französischen Laizismus.

Im Vergleich zum türkischen System ist Deutschland beinahe ein Gottesstaat. So etwas wie die Kirchensteuer ist in der Türkei undenkbar.

Andererseits ist der Staat keineswegs neutral gegenüber den Religionen. Er übt Kontrolle aus. Über den Islam durch eine staatlich gelenkte Religionsbehörde, über die anderen Religionen durch zahlreiche Restriktionen, die ihnen Leben und Missionieren schwer, wenn nicht unmöglich, machen. Das System ist stark reformbedürftig, dient inzwischen sogar als Fassade für einen nationalistisch instrumentalisierten Islam.

Ein Islam der Moderne

Vor gut sechzig Jahren endete die Einparteienherrschaft in der Türkei. Seitdem gibt es mehr oder weniger freie Parlamentswahlen. Und das Volk tendiert immer nur in eine Richtung.

Es schwächt das staatstragende, kemalistische Lager und bringt Kräfte an die Macht, die an die muslimischen Wurzeln des Landes erinnern. In der Türkei heißt mehr Demokratie auch immer mehr Einfluss für den Islam.

Doch was für ein Islam ist das? Es ist eben nicht der gleiche Islam, den die Mullahs in den Moscheen Pakistans, Irans und der arabischen Länder predigen. Manche sprechen von einem moderaten Islam. Doch besser wäre es, von einem Islam der Moderne zu sprechen, der den Anspruch erhebt, Demokratie, offene Gesellschaft, liberale Ideen und den islamischen Glauben zu versöhnen.

Dieser Anspruch ist in der Türkei so neu nicht. Schon vor achtzig Jahren gab es unter den Gegnern Mustafa Kemals moderate Reformer, die ein liberales Gesellschaftsmodell nach dem Vorbild Großbritanniens anstrebten. Das französische Modell war ihnen zu rigide, zu zentralistisch, untauglich für die heterogene, post-ottomanische türkische Gesellschaft.

Mustafa Kemal hat diese Opposition ausgeschaltet. Als Vorwand für sein strenges Regiment diente ihm damals das Treiben der Scharia-Anhänger, der Traditionalisten, die sich gegen jegliche Reform stellten.

Es fehlt eine Philosophie

Die Anhänger der Scharia sind in der Türkei inzwischen eine verschwindende Größe. Deshalb wirken die Warnrufe der Kemalisten nicht mehr. Der türkische Islam ist inzwischen in der Moderne angekommen, was vor allem den Frauen zu verdanken ist, die in der türkischen Gesellschaft immer präsenter werden.

Dem Islam der Moderne aber fehlt nach wie vor eine Philosophie. Zwar gibt es seit den späten achtziger Jahren eine Flut von Publikationen, die sich mit den Herausforderungen der Moderne aus religiöser Perspektive beschäftigen.

Aber die meisten dieser Publikationen sind wertlose Traktate, die in der einen oder anderen Frage Position beziehen - zum Beispiel für oder gegen das Kopftuch - ohne jedoch das Kernproblem anzugehen.

Das Kernproblem heißt: Kann ein Muslim sich jenseits des Koran und der koranischen Vorschriften gesellschaftlich und politisch orientieren? Und wie drückt sich eine solche Orientierung in seinem Privatleben aus?

Kann er sich zur Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, zur Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig von ihrer Glaubensorientierung bekennen, ohne islamische Prinzipien zu verletzen?

Er kann es eigentlich nicht. Bislang jedenfalls. Wenn er sich zu einer anderen Gesellschaftsordnung bekennt als der islamischen gibt es immer Erklärungsbedarf. Auch deshalb steht der türkische Ministerpräsident Erdogan, ein bekennender Muslim, unter Druck.

Islam als Privatangelegenheit

Doch weder er noch seine Partei können dieses Problem lösen. Eine Partei ist keine Denkschule. Die AKP islamisiert die Türkei nicht. Die Reformen, die diese Partei in die Wege geleitet hat, haben offenkundig mehr mit den Kopenhagener Kriterien der EU zu tun als mit den Rechtsnormen aus Mohammeds Zeiten.

Ihre Wähler erwarten eine weitere Modernisierung der türkischen Gesellschaft, eine Öffnung des politischen Systems, die Etablierung eines Rechtsstaats, wirtschaftlichen Aufschwung. Sie erwarten nicht die Einführung der Scharia, sie leben mehrheitlich einen Islam, der Privatangelegenheit geworden ist.

Doch darf es, kann es einen solchen Freizeit-Islam überhaupt geben? Muslimische Theologen und Philosophen stehen schon ziemlich lange, nämlich seit dem Anbruch der Moderne vor über einem Jahrhundert, genau vor dieser Fragestellung.

In der Türkei ist sie von der Lebenspraxis längst überholt. Die hinterherhinkende Theorie aber sorgt für ein labiles, verschwommenes Bild.

Die Muslime in der Türkei befinden sich längst nicht mehr in der geschlossenen Gesellschaft, in der man sie vermutet. Nicht nur in Istanbul, auch in anatolischen Großstädten hat sich inzwischen eine Mittelschicht herausgebildet, deren Wertesystem raschem Wandel ausgesetzt ist. Die Welt der Aufsteiger ist immer krisenanfällig. Ohne das Wagnis des Neuen aber gibt es keinen Aufstieg.

Die Gesellschaft muss individualisiert werden

Von manchen Soziologen werden muslimische Frauen, die sich einem Rollenwandel aussetzen, als die Avantgarde der türkischen Modernisierung angesehen. Bildung und beruflicher Aufstieg sind inzwischen keine rein männliche Domäne mehr, sondern auch gängige Muster der sozialen Entwicklung. Aber Szenen einer "muslimischen" Ehe gibt es noch nicht, weder in Romanen, noch in anderen Kunstgattungen.

Die geschlossene Gesellschaft kann aber letztendlich nur durch eine Kultur der Individualisierung aufgebrochen werden. Dadurch wird die Gemeinschaft herausgefordert und transformiert.

Diese Transformation findet ihren Ausdruck früher oder später auch in der Kunst. Der türkische Roman, der türkische Film sind die Orte, an denen sich die Modernisierung der türkischen Gesellschaft manifestieren sollte.

Dabei geht es nicht darum einen "muslimischen" Roman zu schreiben. Dieser Versuch wäre ebenso wenig ergiebig wie alle anderen Versuche, Kunst im Namen einer Religion oder einer Ideologie zu schaffen. Wohl aber ist die mentale und psychische Topographie der Menschen, die einem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel ausgesetzt sind, ein wichtiges Thema.

Eine neue Art der Literatur ist gefordert

Die Spiritualität in einer postmuslimischen Gesellschaft etwa hat noch keinen originellen Ton. Orhan Pamuk und andere Autoren der ihm nachfolgenden Generation aber zeichnen bereits Stimmungsbilder auf, die nicht mehr mit einfachen, auf Polarisierung beruhenden Erklärungsmustern zwischen westlicher Moderne und orientalischer Tradition gedeutet werden können.

Längst gilt die moderne türkische Literatur nicht mehr nur als Abbild einer westlichen Zivilisation, sondern als Umschlagplatz zwischen dem osmanischen Erbe und der Gegenwart, in der die Nationalkultur aus der Gründerzeit der türkischen Republik durch den Globalisierungsprozess herausgefordert ist.

Das Potential dieses viel frequentierten und immer unter Spannung stehenden Umschlagplatzes ist längst nicht ausgeschöpft. Die Modernisierung der muslimischen Kultur wird nach und nach einen entsprechenden Diskurs schaffen, der ihre Neurosen und Widersprüche thematisiert.

Die so genannte Versöhnung des Islam mit der Demokratie kann somit nicht nur an der Wahlurne stattfinden. Eine solche Versöhnung ist vor allem eine Denkleistung. Auch die Kanzeln und die Lehrstühle sind Orte, an denen etwas geschehen muss.

Erfolg versprechendes türkisches Experiment

An der theologischen Fakultät in Ankara beispielsweise wird an einem reformierten Islam gearbeitet. An einem humanistischen Menschenbild etwa, das aus islamischen Quellen abgeleitet werden kann. Auch am Verhältnis zwischen Vernunft und Glauben.

Wer sich die Mühe macht und sich in die Denkleistungen der muslimischen Philosophen aus dem Mittelalter vertieft, wird erstaunlich üppig belohnt. Er entdeckt zudem, dass das christlich-jüdische Erbe Europas eigentlich ein christlich- jüdisch-muslimisches Erbe ist, bei dem die alten Griechen Geburtshelfer waren.

Ob diese elitären Denkübungen aus den türkischen Lehranstalten irgendwann mehr öffentliches Gewicht erlangen werden als die traditionalistischen Auslegungen der Gelehrten in Kairo und anderswo?

Die Antwort auf diese Frage wird über die Tragweite und die Nachhaltigkeit des bislang durchaus Erfolg versprechenden türkischen Experiments entscheiden.

Zafer Senocak

© Zafer Senocak 2007

Qantara.de

Zafer Senocak
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Zumindest in der Türkei gibt es sie schon: eine Elite, die zugleich grossstädtisch und muslimisch ist und Moderne und Islam verbindet. Demokratie eingeschlossen? Die islamische Tradition ist reicher, als Fundamentalisten uns glauben machen, sagt Zafer Senocak. Mit dem deutschen Autor türkischer Herkunft sprach Joachim Güntner.

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