Wer Demokratie predigt...

In Ägypten schlägt nun für alle die Stunde der Wahrheit: Zwar sind die großen Probleme auch nach Mubaraks Sturz ungelöst, aber die Revolution auf dem Tahrir-Platz könnte eine neue Epoche einleiten. Der Westen müsste die neue Demokratie im Nahen Osten nur konsequenter fördern. Ein Kommentar von Rudolph Chimelli.

Jubelnde Demonstranten treten auf ein Mubarak-Plakat auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Erleichterung nach dem Sturz des Pharaos: "Was sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo abspielte, sah wie ein Happening aus, aber es wird als Revolution in die Geschichte eingehen", schreibt Rudolph Chimelli.

​​Dass der Nil von Süden nach Norden fließt, ist für die Ägypter in ihrem Jubel über den Sturz Mubaraks nahezu die einzige Sicherheit. Auch wenn sich der Alltag rasch normalisiert, wird die nächste Zeit schwer werden. Denn Ägypten ist ein Land ohne Reserven, in dem ein großer Teil der Einwohner weiterhin von der Hand in den Mund leben muss.

Was sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo abspielte, sah wie ein Happening aus, aber es wird als Revolution in die Geschichte eingehen. In der Euphorie wird leicht vergessen, dass der siegreichen Menge die Führer und die gemeinsamen Ideen fehlten, die ab morgen zu einem konstruktiven Neubeginn gebraucht werden. Und ob General Hussein Tantawi, einer der engsten Vertrauten Mubaraks, sich zum Hoffnungsträger eignet oder ob er einsprang, um zusammen mit dem Vaterland die Privilegien der Offiziere zu retten, muss sich erst zeigen. Trotzdem beginnt allein durch das Gewicht Ägyptens und die Ausstrahlung seiner Revolution eine neue Epoche im Nahen Osten.

Von einer zersplitterten Opposition, die seit Jahrzehnten geknebelt wurde, sollte in dieser Situation niemand erwarten, dass sie über Nacht mit fertigen Projekten antritt. Freiheit, mehr Gerechtigkeit, menschliche Behandlung der Getretenen wären schon gewaltige Errungenschaften. Die großen Probleme des Niltals und der Region bestehen fort. Sie heißen Verelendung, Arbeitslosigkeit, fehlende Aussichten für die Jugend, Umweltzerstörung. Die Präsidenten, Generale und Monarchen, die Ben Alis und Mubaraks der arabischen Welt, haben diese Plagen nicht geheilt. Wie könnten es ihre unerfahrenen Gegner von gestern, gestützt allein auf Reformsehnsüchte, umgehend besser machen?

Das islamistische Gespenst

Auf dem Tahrir-Platz wurde freilich auch gebetet. Denn der politische Islam ist die einzige strukturierte Kraft der bisherigen Opposition. Obwohl sie verboten waren, haben die Muslimbrüder ihr Netzwerk von Ambulatorien, Kindergärten und anderen Sozialeinrichtungen über das ganze Land ausgebreitet. Im Gegensatz zu den Funktionären des alten Regimes, die nicht alle in die Wüste geschickt werden können, stehen die Brüder nicht im Ruf, zu stehlen. Als sie sich zuletzt unter dem Etikett "Unabhängige" an Wahlen beteiligten, fielen ihnen trotz Behinderungen 88 der 424 Mandate zu. Wie stark sie künftig werden, hängt davon ab, wie viele Ägypter sie von ihrem gesellschaftlichen Leitbild überzeugen können. Eine Mehrheit dürfte es nicht werden.

Selber streben sie keine beherrschende Rolle an, sondern wollen sich am demokratischen Spiel beteiligen, so betonen ihre Sprecher. Für die kommende Präsidentenwahl stellen sie keinen Kandidaten auf. Der Frieden mit Israel soll respektiert werden. Vom politischen Leben sind sie nicht mehr auszuschließen. Auch das ist ein Novum.

Bisher hatte der Westen gegenüber Islamisten eine Art "Hallstein-Doktrin" praktiziert. Wie einst die alte Bundesrepublik die Anerkennung der DDR durch ihre Ausschließlichkeits-Diplomatie zu behindern suchte, behandelten Amerikaner und Europäer den Islamismus als ein Gespenst, das hoffentlich wieder verschwindet, wenn man nicht hinschaut. Als dieser Effekt jenseits des Mittelmeers ausblieb, weil dort bei den seltenen freien Wahlen islamistische Parteien gewannen, bot sich die Hilfskonstruktion "Islamist gleich Terrorist" an. Zwei ihrer Anwendungen lauten "Mit Hisbollah reden wir nicht, mit Hamas verhandeln wir nicht." Dass die Hamas die freiesten Wahlen der arabischen Welt unter dem Blick ausländischer Kontrolleure gewann, ersparte ihr nicht den Boykott.

Indem sie das islamistische Gespenst an die Wand malten, verschafften sich arabische Despoten jahrzehntelang Nachsicht und eine gute Presse. Das falsche Argument: "Ich oder die Bärtigen" zog immer. Was jetzt schon über die Diktaturen in Ägypten und Tunesien offenbar wurde, was verschreckten westlichen Augen in anderen Araber-Staaten noch bevorstehen mag, sollte Anlass sein, sich von der bisher geübten Heuchelei abzuwenden. Das Ende der Illusionen ist nahe. Nie sollte man auf dem Fehler beharren, seiner eigenen Propaganda zu glauben. Dafür sind die Lehren der Geschichte zu eindeutig.

Mit Wunschdenken ist nichts zu gewinnen

Zunächst ging es gar nicht um Demokratie oder Diktatur. Ein brutaler Gewaltherrscher wie der Pakistaner Zia ul-Hak hatte seinerzeit wenig Probleme, weil er antikommunistisch war und sich der amerikanischen Weltordnung einfügte. Saudi-Arabien, die Urheimat des islamischen Fundamentalismus und auch dessen Geldautomat, lebt bis heute in gutem Einvernehmen mit seinen laizistischen Waffenlieferanten. Selbst der Ausbund des Islamismus, Osama bin Laden, durfte zusammen mit der CIA afghanische Freischärler ausrüsten, als die Russen noch der Feind waren. Nicht durch Schleierzwang für Frauen, nicht durch die Strafen der Scharia machte sich ein Regime zum Pariah, sondern durch sein Bestehen auf nationale Unabhängigkeit.

Unter dem Schah war Iran ein Pfeiler des amerikanischen Bündnissystems im Nahen Osten, so wie es bis heute Ägypten ist. Manchmal macht der historische Zufall seine Sache erstaunlich gut: Gerade am Tage von Mubaraks Rücktritt feierten die Iraner den Jahrestag ihrer Revolution. Kaum hatten sie vor 32 Jahren gesiegt, kündigten die neuen Herren in Teheran den USA den Gehorsam auf. Hier liegen sämtliche Hunde der persisch-amerikanischen Beziehungen begraben, damit begann der große Krach. Alle sachlichen Probleme bis hin zum Atomstreit hätten sich lösen lassen.

In Ägypten schlägt nun für alle die Stunde der Wahrheit. Mit Wunschdenken und Phrasen ist auch für den Westen nichts mehr zu gewinnen. Wer Demokratie predigt, muss sich mit den Verhältnissen arrangieren, die aus freien Wahlen hervorgehen. Die Amerikaner haben den irakischen Diktator Saddam Hussein geschlagen. Das von ihnen sicher nicht gewünschte Resultat dieses Krieges ist, dass ein mit Iran befreundetes Regime schiitischer Islamisten den Irak beherrscht.

Der Westen würde sich noch unglaubhafter machen, wollte er an anderer Stelle weiterhin zwei Ziele verfolgen, die sich gegenseitig ausschließen: Demokratie und gefügige Regime. Ähnliches wie im Irak kann sich wiederholen, wo immer die Völker zwischen Atlantik und Golf ihre politischen Wünsche verwirklichen können. Denn fast alle Araber verabscheuen ihre Obrigkeit. Aber nach der Vertreibung Ben Alis und Mubaraks fürchten sie sich weit weniger vor ihr.

Kairo ist nicht Tunis und nicht Sanaa. Was am Nil geschieht, wirkt beispielgebend. Hier schlägt das Herz der arabischen Welt, hier leben viele ihrer Vordenker. Vor allem aber ist Ägypten der Nachbar Israels. Die Strategien für Frieden oder Konfrontation werden hier entworfen. Sie bestimmen zugleich das Verhalten der zerstrittenen palästinensischen Brüder Hamas und Fatah. Schon in seinen ersten Stunden steht der neue Nahe Osten im Zeichen der Realpolitik vor Problemen, die nicht kleiner werden.

Rudolph Chimelli

© Süddeutsche Zeitung 2011

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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