Götterdämmerung der Despoten

Es gab nach den Ereignissen in Tunesien keinen Beobachter, der nicht gesagt hätte, in Ägypten sei dergleichen unmöglich. Und doch wusste jeder, der das Land und seine Menschen ein wenig nur kannte, wie überreif die Zeit war, wie verhasst der Diktator. Ein Essay von Stefan Weidner

Es gab nach den Ereignissen in Tunesien keinen Beobachter, der nicht gesagt hätte, in Ägypten sei dergleichen unmöglich. Und doch wusste jeder, der das Land und seine Menschen ein wenig nur kannte, wie überreif die Zeit war, wie verfahren die Situation, wie verhasst der Diktator. Ein Essay von Stefan Weidner

Demonstration gegen Hosni Mubarak am Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Der Anfang vom Ende des Regimes: "Zwar ist Mubarak formell noch an der Macht, doch was da Macht heißt, schwebt wie Major Tom fern von jeder Bodenkontrolle im freien Raum. Der Zug der Umwälzung fährt mit Volldampf voraus, und der Waggon des Präsidenten, in dem immer noch die Anrufe aus aller Welt eingehen, bleibt auf der Strecke liegen", schreibt Weidner.

​​Es ist gespenstisch. Es ist höhnisch. Gespenstisch ist die Diskrepanz zwischen dem, was nun am fünften Tag infolge vierzwanzig Stunden lang live auf al-Jazeera zu sehen und vor allem zu hören war, dem arabischen Satellitenkanal, der sich zum Nukleus des politischen Bewusstseins der Araber gemausert hat; und dann den Berichten im Stil des Staatsfernsehens, die uns die überforderten Korrespondenten von ARD und ZDF aus Kairo darbieten.

Höhnisch musste es in den ägyptischen Ohren klingen, als der einstige Welthoffnungsträger Obama Freitagnacht betonte, er habe gegenüber Mubarak den Ernst der Reformen angemahnt.

Am Sonntagmorgen sind neunzehn Privatflugzeuge mit dem Familien regierungsnaher Geschäftsleute von Kairo aus in die Golfstaaten gestartet. Seit drei Tagen ist keine Polizei auf den Straßen von Kairo gesehen worden. Niemand schränkt hier mehr die Demonstrationsfreiheit ein, es sind allenfalls die Demonstranten selbst, die zur Ordnung rufen, und gegebenenfalls die Armee um Hilfe dazu ersuchen.

Das komplette Verfehlen der Realität durch die westlichen Regierungen, und unsere Medien wird nur übertroffen durch das Verhalten der offiziellen politischen Kaste in Ägypten, die sich durch das Kappen der Internetverbindungen und seit Sonntag auch mit der Abschaltung der Satellitenübertragung von Al-Jazeera ohne Wiederkehr in ihrer eigenen Truman-Show eingesperrt hat.

Seit dieser "Präsident" 1981 die Herrschaft übernommen hatte, galt in Ägypten der Ausnahmezustand – man braucht kein Politologe zu sein, um zu wissen, dass die Ausnahme, wenn sie zur Regel wird, keine mehr ist und niemanden mehr schreckt.

Oh, es muss ein Mächtiger, von allen anderen Mächtigen weithin respektierter Mann gewesen sein, der da am Freitag eine Ausgangsperre ausrief, und, weil sich die Polizei unterdessen in Luft aufgelöst hatte, seine Armee zur Party auf die Straßen schickte. Es wurde die am konsequentesten ignorierte Ausgangssperre der Menschheitsgeschichte, und zugleich die auf allen Kanälen am besten als ignoriert dokumentierte.

Völlig losgelöst

Panzer in der Innenstadt Kairos; Foto: AP
"Menetekel des herrschenden Systems": Panzer als Graffiti-Flächen für regimekritische Parolen in Kairo

​​ Die schönen, neuen, sandfarbenen Schützenpanzer aber, die diese Ausgangssperre durchsetzen sollten, hatten über Nacht von dreisten Sprayern ein umgekehrtes Vorzeichen verpasst bekommen und trugen das Menetekel des herrschenden Systems an allen Kameras vorbei: "Nieder mit Mubarak!"

Und fast ist das Ziel erreicht. Zwar ist Mubarak formell noch an der Macht, doch was da Macht heißt, schwebt wie Major Tom fern von jeder Bodenkontrolle im freien Raum. Der Zug der Umwälzung fährt mit Volldampf voraus, und der Waggon des Präsidenten, in dem immer noch die Anrufe aus aller Welt eingehen, bleibt auf der Strecke liegen.

Das einzige, was diese Regierung noch vermag, ist, den Ägyptern das Chaos auf den Straßen zu überlassen und ihnen so ihre Unbotmäßigkeit heimzuzahlen. Wollen wir doch mal sehen, mögen sich die sogenannten Verantwortlichen gesagt haben, ob das Volk wirklich so reif ist, wie es behauptet.

Unverblümt haben sie die ägyptischen Städte zur Plünderung freigegeben. Angefangen hat es am Freitag mit dem wichtigsten Museum Afrikas, einem der bedeutendsten der Welt, dem sonst festungsartig geschützten Nationalmuseum.

Bis sich das Sakrileg bei den Demonstranten herumsprach und Bürgerwehren zum Schutz des Museums gebildet wurden. Schließlich übernahm die Armee. Ein paar Vitrinen wurden zertrümmert, einiges wird verloren sein. Das schlimmste aber konnte vorläufig verhindert werden.

Das Regime hat, wie wir alle, die Selbstorganisationsfähigkeit und Disziplin der Ägypter unterschätzt. Bis Samstagabend haben sich in allen Vierteln die Bürgerkomitees zusammengetan, Straßensperren und Kontrollpunkte errichtet. Wer sie zur Hilfe rufen will, kann die neu eingerichtete Rufnummer 19614 wählen.

Die Zeit ist reif

Demonstrantin hält in Kairo Plakat mit der Aufschrift Freiheit hoch; Foto: AP
Aufschrei für Freiheit und ein Ende der Herrschaft Mubarak: Demonstration am "Tag des Zorns" am zentralen Tahrir-Platz in Kairo

​​Das Zeitfenster für die spontanen Plünderer oder, man weiß es nicht, organisierten Banden, schloss sich in der Nacht zum Sonntag bereits wieder. Aber keine Feuerwehr löscht das seit Freitag brennende Hochhaus der Regierungspartei. Nur das Innenministerium – die ägyptische Stasizentrale – wird von Scharfschützen der Präsidentengarde noch verteidigt. Die Zahl der Todesfälle betrug bis Sonntagmittag 102. Das sind, wir müssen es sagen, wenige gemessen an dem, was hätte passieren können und vielleicht noch passiert.

Es gab nach den Ereignissen in Tunesien keinen Beobachter, der nicht gesagt hätte, in Ägypten sei dergleichen unmöglich. Und doch wusste jeder, der das Land und seine Menschen ein wenig nur kannte, wie überreif die Zeit war, wie verfahren die Situation, wie verhasst der Diktator. Was für ein schlauer Fuchs, dieser Mubarak, dachte man trotzdem.

Er ließ sogar einen populären Schriftsteller wie Alaa Al-Aswani gewähren, der in seinem Erfolgsroman "Chicago" die erbarmungsloseste Satire auf einen aktiven Herrscher in der ganzen zeitgenössischen arabischen Literatur vorlegte.

Gab es nicht doch eine Art Meinungsfreiheit in Ägypten, wenn dieses Buch dort erscheinen konnte und der Autor unbehelligt blieb? Doch es war keine Meinungsfreiheit als Recht, sondern eine aus der Überheblichkeit der Herrschenden. Am letzten Dienstag, auf der ersten großen Kundgebung am zentralen Tahrir-Platz, wo al-Aswani teilnahm, wurde er aufgefordert, vor der Menge zu sprechen. Viel wollte er gar nicht sagen, aber darunter den Satz: "Es ist Zeit, dass wir endlich wie Menschen behandelt werden!"

Weltpolitische Sonnenwende

Mit dem 74-jährigen al-Sulaiman als Vizepräsident gilt Mubaraks Geheimdienstchef und Chefdiplomat, von den USA und Israel hoch geschätzt, als potenzieller Nachfolger. Wenn er es zum Präsidenten der Übergangszeit schafft, zur Organisation einer neuen Präsidentenwahl unter neuen Wahlgesetzen – nach den alten sind freie Wahlen unmöglich – wird er mehr erreicht haben, als wir ihm zugetraut hätten.

Spätestens danach, wenn nicht schon in den kommenden Wochen und wider Willen, wird auch er Vergangenheit sein. Unvermeidlich wird diese weltpolitische Sonnenwende auf den Nahostkonflikt übergreifen.

Mohammed ElBaradei; Foto: AP
Der Hoffnungsträger der ägyptischen Opposition, Mohammed ElBaradei, rief inzwischen zum Generalstreik auf und brachte sich als politische Alternative zum verhassten Präsidenten ins Gespräch.

​​Nicht in Form einer offenen Bedrohung Israels; aber doch in einer Gestalt, die die wenig kompromissbereite israelische Politik der Gegenwart als sinnlos erweist. Ein auch nur halbwegs vom Volkswillen gelenktes Ägypten wird seine Grenzen zum Gazastreifen öffnen. Wenn aber die Isolation der Hamas ein Ende hat, werden die palästinensisch-israelischen Karten neu gemischt. Dringend nötige Bewegung wird in den komplett festgefahrenen "Friedensprozess" kommen.

Die Alternative zum Mubarak-Regime schien lange allein der politische Islam. Staunend sehen wir jetzt, mit welcher Wucht die Zivilgesellschaft die Initiative übernommen hat. In letzter Minute, nämlich am Freitag erst, sind die Muslimbrüder auf den Revolutionszug aufgesprungen. Immer noch sitzen sie im letzten Waggon, und dort mögen sie bleiben.

Die Prediger in den Moscheen, sämtlich eingesetzt und kontrolliert vom Religionsministerium, sind vorerst ihrer Verantwortung gerecht geworden und haben am Freitag verkündet, dass Allah die freie Meinungsäußerung und den Protest erlaubt, das Chaos und die Gewalt aber verbietet.

Der taumelnde Pharao

Der hier und da aufgekommene Vergleich mit der iranischen Revolution von 1979 verbietet sich aber auch deshalb, weil von einem ägyptischen Khomeini nichts zu sehen ist. Der einzige aus dem Ausland heimkehrende Oppositionspolitiker heißt Mohammed ElBaradei, der ehemalige Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde, ein Friedensnobelpreisträger.

Die tunesische Lektion, so grausam wie unvergesslich, dass eine Selbstverbrennung mehr bewirkt als Selbstmordanschläge, lässt sich aus dem arabischen kollektiven Gedächtnis nicht mehr streichen.

Unsere, des Westens Ungläubigkeit angesichts dessen, was geschieht, spiegelt aber in Wahrheit noch nicht einmal das Überraschende der neuen Wirklichkeit wider, sondern allein den noch in den stotternden Mündern unserer Korrespondenten aufklingenden Subtext, dass die Araber, so unterwickelt und muslimisch wie sie sind, doch nicht und noch nicht die Reife zur Selbstbestimmung besitzen. Endlich haben sie die Gelegenheit, uns das Gegenteil zu beweisen.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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Aufstände in Ägypten
Tage des Zorns
Mit der Rückkehr El-Baradeis, den massiven Protesten nach dem Freitagsgebet und der Einschränkung des Internetzugangs durch das Regime stehen die Zeichen in Ägypten auf Sturm. Die ägyptische Zeitung Al-Masry Al-Youm erläutert die Tragweite der Proteste.

Proteste gegen die Regierung Mubarak in Ägypten
Genug ist genug!
Ägypten erlebt eine Welle des Protests, die für die Republik am Nil neu ist: Während Mubaraks 30-jähriger autoritärer Herrschaft hat das Land noch nie solche massiven Unruhen erlebt. Die Botschaft der Ägypter ist klar: "Kefaya!" – "Es ist genug!" Aus Kairo informiert Amira El Ahl.

Menschenrechtssituation in Ägypten
Notstand als Normalzustand
Erstmals haben die USA auf einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf ihren langjährigen Verbündeten Ägypten aufgefordert, das seit 1981 in Kraft befindliche Notstandsrecht endlich aufzuheben und die Menschenrechtslage im Land am Nil zu verbessern. Von Andreas Zumach