Die Barbaren kommen

Nach dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei plädiert der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun dafür, auch einen EU-Beitritt der Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien und Algerien in Erwägung zu ziehen.

Tahar Ben Jelloun; Foto: dpa
Würden sich Marokko, Algerien und Tunesien zusammenschließen, müsste sich die EU ernsthaft mit einem Aufnahmeantrag auseinandersetzen, meint Tahar Ben Jelloun

​​Die Menschen im Maghreb verfolgen mit großem Interesse die aktuellen Debatten zum Eintritt der Türkei in die Europäische Union. Das Ottomanische Reich ist der arabischen Welt nicht nur in positiver Erinnerung. Allein Marokko hatte sich der türkischen Herrschaft widersetzt und bezieht daraus einen gewissen Stolz.

Heute ist das alles so gut wie vergessen, und die Beziehungen zwischen dem Maghreb und der Türkei sind unauffällig. Es gibt nicht viele Kontakte. Man ignoriert sich mit ausgesuchter Höflichkeit, was sehr bedauerlich ist.

Die Maghrebiner empfinden eine große Entfernung zur Türkei, und das nicht nur geografisch. Sie ist ihnen fremd durch ihre Zugehörigkeit zu Asien, durch ihre jüngere Geschichte und auch durch die so verschiedene Mentalität.

Mustafa Kemal Atatürks Revolution, die 1923 eingeführte Trennung von Religion und Staat in einem islamischen Land, die 1928 erfolgte Einführung der lateinischen Schrift anstelle der arabischen, stört und missfällt manchen Nationalisten, die den Islam als unabdingbaren Teil der maghrebinischen Identität sehen.

Religion in der Türkei Privatsache

Das alles wurde als Bruch, als Schisma im Dar al-Islam, im Haus des Islams, empfunden. Die Türkei verließ damit dieses große Haus und wandte sich dem Westen zu. Heute leben etwa 25.000 Juden in der Türkei, und sie pflegen ziemlich herzliche Beziehungen zu Israel.

Die türkische Gesellschaft hat dem Islam als Kultur und Zivilisation keineswegs abgeschworen, sie hat nur einfach die Religion vom politischen Leben losgelöst. Religion wird als Privatsache ausgeübt, was den Bau von Moscheen und sogar die Entwicklung islamischer Bewegungen, die im Rahmen der Laizität agieren und den Terrorismus nicht fördern, keineswegs behindert hat.

In der Türkei konnte al-Qaida nicht Fuß fassen. In diesem Sinne verwirklicht die Türkei ihren Eintritt in die Moderne, was die drei Länder des Maghreb, Tunesien, Algerien und Marokko, zwar anstreben, doch erlauben sie nicht einmal eine Debatte über die Trennung von Religion und Staat.

Kandidatur Marokkos in den achtziger Jahren erwägt

Im Gegenteil: Die von den so genannten fortschrittlichen Ideologien enttäuschte Jugend wendet sich verstärkt der Religion zu. Unter Modernität verstehe ich die Anerkennung des Individuums, den Rechtsstaat und die demokratische Kultur, die Mann und Frau gleiche Rechte garantieren.

Tor in Casablanca; Foto: dpa
Die bleiernen Jahre in Marokko sind vorbei, es findet eine langsame Demokratisierung statt

​​Tunesien hat das ausgeglichenste Familienrecht der arabischen Welt, Algerien und Marokko haben das ihre geändert und den Frauen etwas mehr Rechte zugebilligt.

Die Perspektive einer Eingliederung der Türkei in die Europäische Gemeinschaft gibt einem Teil der maghrebinischen Elite zu denken. Sie möchten die Gelegenheit dieser außergewöhnlichen und besonderen Ausweitung nutzen, um eine Lanze für den südlichen Teil des Mittelmeerraums zu brechen.

Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts brachte König Hassan II. die Kandidatur Marokkos zum Eintritt in die EU ein. Die Presse außerhalb Marokkos machte sich über diese Initiative lustig und sah sich die Möglichkeit einer solchen Zugehörigkeit nicht einmal genauer an.

Doch Hassan II. war kaum je zum Scherzen aufgelegt und leistete sich auch keine ziellosen Provokationen. Er sah weit voraus und wusste, dass die Zukunft seines Landes früher oder später mit dem Schicksal Europas verknüpft sein würde. Für die Marokkaner hatte seine Geste symbolischen Charakter.

Das Ende der bleiernen Jahre

Marokko erfüllte vielleicht nicht alle Bedingungen und Kriterien für den Beitritt zu Europa, doch seine geopolitische Situation bestimmte es für eine besondere, bevorzugte Partnerschaft und mehr, je nach Entwicklung der Dinge.

Es war die Zeit, als Marokko wegen des Fischfangs Streit mit Spanien hatte, als die marokkanischen Zitrusfrüchte und andere Produkte es nur schwer bis auf die Märkte der europäischen Städte schafften, als Marokkos Image durch die Unterdrückung der Oppositionellen und eine willkürliche, Angst verbreitende Sicherheitspolitik befleckt war. Die Gefängnisse waren voll politischer Gefangener, es wurde gefoltert.

Jene bleiernen Jahre sind vorbei. Das neue Marokko entsteht auf der Grundlage eines demokratisierten politischen Lebens, wenngleich die Veränderungen nur langsam erfolgen und in homöopathischen Dosen.

Aufnahmeantrag ernsthaft in Erwägung ziehen

Dank Bourguiba hat Tunesien schon lange einen Hang hin zu Europa. Der heutige tunesische Präsident hat mit Repressionen reagiert, um das islamistische Abenteuer zu unterbinden, aber dadurch hat er jedwede Opposition zum Schweigen gebracht.

Straßenszene in Tozuer Tunesien; Foto: dpa
Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Islamismus wird in Tunesien jegliche Opposition zum Schweigen gebracht

​​Weil sich die Wirtschaft in Tunesien gut entwickelt, schließen manche europäischen Länder wie Frankreich und Italien die Augen, was dortige Menschenrechtsverletzungen betrifft.

Algerien wiederum leidet unter einem furchtbaren Bürgerkrieg, und eine dem Vorgehen Marokkos oder Tunesiens entsprechende Initiative in Richtung Europäischer Union ist von dieser Seite nicht bekannt.

Doch gesetzt den Fall, die drei Länder würden sich zusammenschließen und sich als geografische und wirtschaftliche Einheit darstellen - dann müsste Europa sich mit einem solchen Aufnahmeantrag ernsthaft auseinander setzen.

"Wer Europäer wird, trägt zur Kultur der Moderne bei"

Im 19. Jahrhundert sagte der große islamische Philosoph und Begründer des modernen arabischen Denkens, Jamal Eddin Afghani (1838 bis 1898), in Bezug auf die arabisch-islamische Welt: "Der Orient wird sein Heil nur finden, wenn er sich mit Vernunft und Wissenschaft versöhnt."

Diese Versöhnung hat nie stattgefunden. Sie wurde durch das Scheitern des arabischen Sozialismus und das Auftreten des Islams als Kampfideologie in der Politik vereitelt. Auch der Maghreb konnte sich dem nicht entziehen. Die Türkei jedoch scheint auf dem Weg zu jener Kulturrevolution zu sein.

Wenn sich die Tore Europas der Türkei öffnen, wird die Versöhnung mit Vernunft und Wissenschaft zur Realität, denn wer Europäer wird, trägt damit zur Kultur der Moderne bei, ohne die Werte seiner Zivilisation und Identität zu verleugnen. Europäer sein heißt, Grundwerte wie die Achtung der Menschenrechte zu vertreten, ohne seine Traditionen und seine Authentizität zu verlieren.

Aus diesem Grund wird die Türkei nicht darum herumkommen, ihr Geschichtsverständnis zu verändern: Sie kann sich nicht jedes Mal aufregen, wenn vom Genozid der Armenier die Rede ist.

In seinem Buch L'Etat criminel (Seuil, Paris 1995) beweist Yves Ternon, dass seit 1914 ein Plan zur Ausmerzung der armenischen Bevölkerung durch den von den Jungtürken geführten Staat existiert. Der Völkermord an den Armeniern ist eine historische Tatsache. Dies muss die Türkei endlich anerkennen.

Europa kann sich durch Türkei-Beitritt bereichern

Der Maghreb teilt seine Geschichte mit Frankreich, Spanien und Italien.

Tahar Ben Jelloun gilt als bedeutendster Vertreter der französisch-sprachigen Literatur des Maghreb. Er wurde 1944 in Fes, Marokko, geboren und lebt heute in Paris. 1987 wurde er mit dem Prix Goncourt für seinen Roman "Die Nacht der Unschuld" ausgezeichnet. Viele seiner Werke wurden auch ins Deutsche übersetzt. Wir im Maghreb ermutigen die Europäer, der Türkei einen Platz einzuräumen und sie aufzunehmen. Schließlich handelt es sich um eine große Nation und eine politische Macht mit einer geopolitisch interessanten Position.

Europa wird dadurch keineswegs seine Seele verlieren, wie die Gegner des Türkei-Beitritts behaupten. Im Gegenteil, es kann sich bereichern und stärken im Kontakt mit einer Kultur, in der Okzident und Orient ohne große Konflikte zusammenfinden.

Es wird kein "Aufeinanderprallen der Zivilisationen" geben, sondern eine Mischung von Kulturen, Farben und Gewürzen. Selbst Griechenland, das wahrlich keine idyllischen Beziehungen zu seinem türkischen Nachbarn pflegte, setzt sich heute für dessen Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft ein.

Gemeinsame Geschichte

Vor diesem Hintergrund sieht sich der Maghreb notwendigerweise als nächste Etappe: erst die Türkei, dann der Maghreb. Warum? Weil diese Region ein gemeinsames Stück manchmal schmerzlicher Geschichte mit mindestens drei europäischen Ländern teilt, nämlich mit Frankreich, Spanien und Italien.

Heute drückt sich diese Bindung in Politiken der kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit aus. In Marokko spricht man Französisch und Spanisch, man liest die europäische Presse, schaut europäisches Fernsehen, träumt von Europa, kämpft um Schengen-Visa, kultiviert die Zugehörigkeit zum Mittelmeerraum und vor allem:

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kontakt@qantara.de Man zählt auf die Festigung der Modernität, um der islamistischen Welle zu entgehen. In Algerien wie in Tunesien ist Zweisprachigkeit die Regel.

Die arabischen Länder haben es nicht geschafft, sich zusammenzutun und eine starke Einheit zu bilden. Europa kann dieses Scheitern nutzen, um diejenigen arabischen Länder zu integrieren, mit denen es eine gemeinsame Vergangenheit verbindet.

Ein Maghrebiner empfindet mehr Gemeinsamkeiten mit einem Franzosen oder Italiener als mit einem Bewohner der Golfstaaten. Oft verstecken sich sehr unterschiedliche Verhalten und Mentalitäten hinter der gemeinsamen arabischen Sprache (dem klassischen, von der Elite gesprochenen Arabisch) und der gemeinsamen Religion des sunnitischen Islams.

Tahar Ben Jelloun

© Tahar Ben Jelloun

Der Beitrag erschien in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 13. Oktober 2005

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