Ethnisch-konfessionelle Ordnung im Libanon am Rande des Kollaps

Der Status quo sollte dem Libanon Zusammenhalt garantieren, doch das alte System steht vor dem Kollaps. Angesichts desolater Zustände rücken die Libanesen zusammen im Kampf gegen die ethnisch-konfessionelle Ordnung.

"Schweiz des Nahen Ostens" nannten sie es vor dem Bürgerkrieg. Ihre Hauptstadt Beirut galt als das Paris der Region, gleichermaßen Zentrum für Finanzgeschäfte wie mondäner Tummelplatz für Künstler und Weltenbummler. Nur mühsam erlangte das "Land der Vielfalt, Koexistenz und Demokratie" nach jahrzehntelanger Gewalt und Spaltung den Anschein einer Normalität zurück. Doch Altlasten, Kriegsnarben und offene Wunden bringen das windschiefe Haus Libanon und seine ethnisch-konfessionelle Ordnung an den Rand des Einsturzes.

Seit Mitte Oktober protestieren im Libanon die Menschen. Beinahe zum Schmunzeln scheint der Auslöser der überwiegend friedlichen Massenproteste: Eine "WhatsApp-Steuer" holte Zehntausende aus ihren Wohnzimmern, Cafes und virtuellen Realitäten auf die Straßen und Plätze. Sie kommen aus allen Regionen, Schichten und Religionen - jenen Bevölkerungsgruppen, deren Zusammenleben ein ebenso starrer wie stabiler Status quo bis dahin austarierte. Ihr gemeinsamer Protest richtet sich gegen eben dieses System.

Die Probleme des Libanon sind vielfältig und teils hausgemacht. Ein Drittel der im Land lebenden Menschen sind Flüchtlinge, die höchste Rate weltweit, und dies nicht erst seit Beginn des Syrienkriegs. Mit der Unabhängigkeit Israels 1948 kamen etwa 100.000 Palästinenser nach Libanon und bedrohten das Bevölkerungsgleichgewicht aus sunnitischen und schiitischen Muslimen, Drusen und Christen.

Heute leben rund 450.000 mehrheitlich sunnitische Palästinenser im Libanon: als Geflüchtete in Lagern, ohne Integration in die Gesellschaft, um die längst unwahrscheinlich gewordene Rückkehr in ihre Heimat zumindest als ideologisches Ideal aufrecht zu erhalten. Das Problem ihrer Präsenz schürte Ängste der Libanesen, als nach 2011 mehr und mehr Syrer und Iraker Zuflucht unter den Zedern suchten. Der anhaltende Konflikt mit dem nachbarlichen Feind Israel führte in den 80er Jahren zur Gründung der paramilitärisch-schiitischen Hisbollah, die seither aus ebendiesem Konflikt ihre Existenzberechtigung zieht und das Land polarisiert.

Bis heute verlaufen die politischen Fronten entlang einer antiwestlich-prosyrisch-schiitischen und prowestlich-antisyrisch-sunnitischen Demarkationslinie der großen Parteienbündnisse "8. März" und "14. März". Auch gegen diese Fragmentierung und Polarisierung wehren sich die Zehntausenden in den Straßen. Viel von der Gewalt während der Demonstrationen ging auf das Konto schiitischer Anhänger. Dass es insgesamt nicht zu mehr Gewalt gekommen ist, liegt laut Beobachtern vor allem daran, dass Hisbollah als "die zweite Armee des Libanon" bisher nicht zu Waffen gegriffen hat.

Die Akteure des Bürgerkriegs (1975-1990) haben sich das Land bis heute erfolgreich in Einflusszonen aufgeteilt, die sie in einer Form von Klientelismus regieren und ausbeuten. Korruption ist nach Einschätzung politischer Beobachter ein tief verwurzeltes Phänomen. Die ohnehin marode Infrastruktur - Strom- und Wasserversorgung, Straßenbau, Abfallbeseitigung - leidet unter der illegalen Bereicherung weiter Teile der führenden Klasse wie unter der Last der Migranten. Knapp 40 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, das Land ist pleite. In Sachen Pro-Kopf-Verschuldung des Staates rangiert Libanon an dritter Stelle weltweit.

"Wir sind in der Tiefe des Tals und müssen da wieder raus", formulierte es unlängst der maronitische Patriarch, Kardinal Bechara Rai - als wichtigster kirchlicher Amtsträger auch politisch eine bedeutende Figur - vor einer Delegation des kirchlichen Hilfswerks Misereor. Diese Erkenntnis eint die Menschen im Libanon über jede Grenze hinweg und erreicht damit etwas, was selbst dem mühsam ausgehandelten Status quo lange nicht mehr gelang. Oder, wie es der libanesische Autor und Intellektuelle Elias Khoury formulierte: "Wir fühlen uns zum ersten Mal seit langer Zeit als eine Nation."

Als Nation könnten die Libanesen dank einer "WhatsApp-Steuer" einen Weg gefunden haben, ihr Fundament zu konsolidieren. Nun muss es sich über das Momentum der akuten Proteste hinaus als tragfähig für den Wiederaufbau erweisen. (KNA)