Zusammen leben, zusammen tanzen

Der 34-jährige Sidi Larbi Cherkaoui erhielt mit dem Kairos-Preis 2009 einen der angesehensten europäischen Kulturpreise, und überzeugt nicht nur die Kritiker: sogar Zuschauer, die mit der abstrakten Grammatik des Modernen Tanzes wenig vertraut sind, zeigen sich begeistert. Ein Porträt von Amin Farzanefar

Porträt Sidi Larbi Cherkaoui; Foto: &copy DW
Eines der Top-Talente des Modernen Tanzes: Sidi Larbi Cherkaoui

​​ Sidi Larbi Cherkaoui gehört neben Akram Khan zu den absoluten Top-Talenten des Modernen Tanzes. Dabei fand der zweisprachig aufgewachsene Sohn eines muslimischen Marokkaners und einer katholisch-flämischen Mutter, in Antwerpen geboren, auf unorthodoxen Wegen zu seiner Tanzbegabung: als 15-Jähriger über MTV-Clips (gegen den Willen des Vaters, natürlich). Mit 17 wurde er als Backgroundtänzer fürs Fernsehen entdeckt; von da an begann eine steile Karriere. Sich selber hat er einmal so beschrieben: "Ich bin ein Mann, ein Sohn, ein Choreograph, ich bin Belgier, homosexuell. Ich habe ein Tattoo, braune Augen, ich bin ein Gastarbeiterkind; ich bin Sidi Larbi Cherkaoui."

Das ist gewissermaßen das "Ausgangsmaterial" für seine tänzerischen Exkursionen, in denen sich häufig die konkreten Gegebenheiten der eigenen Biografie mit weltumspannenden Themen verbinden: oft sind es Kommunikationsprobleme und Sinnsuche in einer zwischen Tradition und Postmoderne eingespannten Welt, in der alte Kulturgrenzen in neue Bewegungen geraten: mal prallen sie aufeinander, mal scheinen sie überwindbar und dann schon nicht mehr gültig.

Ein kulturelles Amalgam

​​ Für sein Programm "Zon Mai" schaffte Cherkaoui 2007 mit dem Fotografen und Regisseur Gilles Delmas einen riesigen hausförmigen Würfel, auf dessen Wände in Video-Loops die Tänzerinnen und Tänzer in ihren eigenen Räumlichkeiten projiziert werden – eine assoziative Auseinandersetzung mit den Themen Heimat, Zuhause und Immigration. Die Arbeit "Myth" (2007) wiederum vergleicht die Mythen verschiedener Völker – Cherkaoui sieht im Kern dieser alten Geschichten nicht unsere herkömmlichen moralischen Kategorien von "richtig" oder "falsch", sondern Fallberichte über Konsequenzen und Folgen, Ursachen und Wirkungen von bestimmen Handlungen und Haltungen. So betrachtet "Myth" die Relativität menschlicher Wertungen und Urteile, die häufig von der Erziehung beeinflusst sind.

Cherkaouis Schaffensprinzip liegt darin, aus diese Mythen und Erzählungen unterschiedlicher Nationen und Kulturen neue Wahrheiten zu amalgamisieren. Einen statischen Kulturbegriff, wie er ihn in Europa weit verbreitet sieht, lehnt er ab. Immer aufs Neue sucht er die Begegnung mit unterschiedlichen Tanzkulturen und Kunstformen, bezieht Inspiration aus der Kooperation mit verschiedensten Talenten: beispielsweise dem britisch-bengalischen Wunderkind Akram Khan ("Zero Degrees", 2006) oder der Flamencotänzerin María Pagés ("Dunas", 2009).

Szene aus Cherkaouis Bühnenstück Sutra. Aufgeführt bei den Berliner Festspielen, Foto: © DW
Im Kung-Fu-Stück "Sutra" lässt Cherkaoui Shaolin-Mönche auf verschiedenste Weise in, an, auf oder um mannshohe Holzkästen herum tanzen.

​​ Das begeistert aufgenommene Stück "Sutra" erarbeitete er 2008 gemeinsam mit jungen Shaolin-Mönchen, mit denen er mehrere Monate im Kloster verbrachte. Herausgekommen ist eine furiose Kung-Fu-Performance, bei der mannshohe kastenförmige Holzelemente auf der Bühne in minuziös-synchroner Choreographie verschoben, betanzt und betrommelt werden – mal dienen sie als Rampe, Mauer oder Ebene und mal werden sie als Ensemble von Särgen, Dominosteinen oder Booten genutzt. Das außergewöhnliche Bühnenbild entwickelt er des Öfteren mit dem Designer Antony Gormley – darauf bedacht, dass die Metamorphose, die er inhaltlich anstrebt, sich auch im Formalen niederschlägt.

Für "Babel" etwa, Cherkaouis jüngste Arbeit, ließ Gormley aus Aluminiumstangen fünf große Quader-Gerüste anfertigen, die im Raum immer wieder neue Barrieren und Interaktionflächen schaffen – als Telefonzelle, Büro, Zollstation, Käfig, als gekippt auf den Ecken rotierende und tanzende Würfel – bis sie sich unweigerlich himmelwärts auftürmen. Ausgehend vom Mythos des Turmbaus thematisieren Cherkaoui und sein Co-Choreograph Damien Jalet Grenzen und Übergänge in einer zunehmend globalisierten Welt, in der zugleich Unterschiede der Sprache, Kultur unüberbrückbar scheinen.

Was seine Ensemble-Mitglieder tanzen, brabbeln, pantomimisch vorführen, rund um diese Kuben, sind Szenen von Macht, Ohnmacht und Gemeinschaft: der Kampf ums eigene Territorium – auf Kosten anderer oder mit ihnen – das Nebeneinander von Individualismus, Egoismus und Verantwortung fürs große Ganze.

Missverständnis als Prinzip

Sidi Larbi Cherkaoui tanzend während einer Aufführung; Foto: Kirsten Haarmann/Alfred Töpfer Stiftung Presse
Das neueste Stück des Tanzkünstlers Cherkaoui ist "Babel": ein opulentes Werk, das ausgehend vom mythischen Turmbau die Missverständnisse im kulturellen Zusammenleben verbildlichen soll.

​​ "Babel" ist ein Figurenreigen von überbordender, fast zirkushafter Opulenz: Zwei Japaner reden sich in Rage – aber man weiß nicht so recht, worüber; eine Roboterfrau stakst kokett über die Bühne, und ahmt dann die Gestik einer Stewardess nach; ein fröhlicher Tumult formiert sich plötzlich zu dem auf den Leibern von Untertanen abgehaltenen Siegesszug eines despotischen Pharaos – oder ist es doch ein afrikanischer Warlord, oder ein Popstar?

"Babel" ist durchzogen von kommunikativen Fehlleistungen in Wort, Pantomime, Gestensprache und Akrobatik. Mit viel Humor vorgetragen, changiert das multilinguale Spiel der 13 Tänzer (aus 13 Nationen) zwischen Schöpfung und Zerstörung, Verzweiflung und Hoffnung, Isolation und Interaktion, Sinnsuche und Chaos. Und auch diese Sprachverwirrung ist wieder rückgebunden an Cherkaouis persönliche Erfahrung in Antwerpen: das Französisch, das seine Eltern zuhause sprachen, und das nicht ihre jeweilige Muttersprache war, das Flämische, das man offiziell in der Schule sprach. Für diese Verschränkung des privaten Miteinanders, der alltäglichen Dramen mit den großen weltanschaulichen Fragen findet er klare, schlichte Worte:

"Wir fragen: Was bedeutet Zusammenleben, was trennt Menschen voneinander, wie viel Raum gestehen wir uns gegenseitig zu? Lasse ich dich in meine Welt hinein oder nicht? Lasse ich zu, dass andere ein Weltreich aufbauen, was tut dieses Weltreich mit anderen?"

Seine nächste Arbeit, 2008 initiiert von der großen Pina Bausch, erarbeitet er gerade gemeinsam mit der britisch-bengalischen Tänzerin Shantala Shivalingappa: "Play" beschäftigt sich mit dem menschlichen Spiel – mit Verführen, Verbergen, Maskieren, mit Gewinnen, Siegen und Verlieren. Es bleibt spannend.

Amin Farzanefar

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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