Glaube, Freiheit und Vernunft

Kann es islamische Menschenrechte geben? Sind die Gebote des Korans ewig gültig oder nach Maßgabe der Vernunft veränderbar? Diesen Fragen des modernen religiös-politischen Denkens im Islam widmet sich der iranische Geistliche Mohammad Shabestari.

Von Roman Seidel

Foto: R. Seidel
Mohammad Mojtahed Shabestari

​​Mohammad Mojtahed Shabestari, geboren 1936, begab sich bereits in jungen Jahren in die Stadt Qom, das Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit in Iran, um dort die Laufbahn eines Geistlichen einzuschlagen.

Das Studium an den theologischen Seminaren besteht bis heute vor allem aus den Fächern islamisches Recht, islamische Theologie, Mystik und Philosophie, wobei der Schwerpunkt in der Regel auf der Rechtswissenschaft liegt.

Shabestari gehörte zu jenen jungen Studenten, denen die einseitige Beschäftigung mit meist trockenen Rechtskompendien nicht genug war und die sich lieber den – von den meisten Rechtsgelehrten eher marginalisierten – Fächern Philosophie und Mystik zuwandten.

Es waren vor allem zwei Lehrer, die in jener Zeit diese Fächer vertraten und eine besondere Anziehungskraft auf die Studenten ausübten: einerseits der Philosoph und Verfasser eines hoch angesehenen Korankommentars Allameh Tabataba'i und andererseits Ayatollah Ruhollah Khomeini, der spätere Revolutionsführer und "Vater" der Islamischen Republik.

Vom Anhänger der islamischen Revolution zum Regimekritiker

Was Shabestari und viele andere Studenten an Khomeini, neben seinem Philosophie- und Mystikunterricht, beeindruckte, war dessen politisches Denken. Islamische Ethik war für Khomeini nicht nur auf den privaten Umgang der Menschen miteinander beschränkt, sie sollte sich auch in Staats- und Regierungsform niederschlagen, eine Ansicht, die Khomeini ab Anfang der 60er Jahre mit einer immer offeneren Kritik am Schahregime verband.

Dem Geiste der politischen Schia im Iran der 60er und 70er Jahre folgend, fühlte sich Shabestari auch dem Denken religiöser Intellektueller wie Jalal Al-e Ahmad und Ali Shariati sowie des politisch motivierten Geistlichen Morteza Motahhari verwandt.

Im Jahre 1970 übernahm Shabestari die Leitung des schiitischen Islamischen Zentrums der Imam Ali Moschee in Hamburg, die nach ihm der derzeitige iranische Staatspräsident Mohammad Khatami innehatte.

In seiner Hamburger Zeit setzte sich Shabestari sehr für den christlich-islamischen Dialog ein und erweiterte den Wirkungskreis der Moschee, indem er sie für alle Muslime öffnete. Außerdem lernte er Deutsch und konnte nun seinem schon in Qom gehegten Interesse an westlicher Philosophie und christlicher, vor allem protestantischer Theologie, intensiv nachgehen.

Er beschäftigte sich mit Theologen wie Paul Tillich, Karl Barth und Karl Rahner sowie u.a. mit dem Denken der Philosophen Immanuel Kant, Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer.

Als Anhänger Khomeinis und Verfechter der Islamischen Revolution kehrte Shabestari 1979 nach Iran zurück und wurde im Jahr darauf als Abgeordneter der Provinz Aserbaidschan ins erste Parlament der Islamischen Republik gewählt.

Allerdings zog er sich bald wieder aus der Politik zurück und begann der Ideologie der Islamischen Republik und ihrer Regierungspraxis mit zunehmender Skepsis gegenüber zu stehen.

Für einen kritischen Zugang zur Religion

In seinem Denken vollzog sich ein Wandel weg von einem 'Islam als Lösung' hin zu einem emanzipatorischen und ideologiekritischen Verständnis der Religion. Ein Wandel, der in ähnlicher Weise für führende religiöse Intellektuelle und Reformdenker, die allesamt überzeugte Anhänger Khomeinis und Fürstreiter der Islamischen Republik waren, geradezu paradigmatisch ist.

Seit 1985 hat Shabestari einen Lehrstuhl für islamische Philosophie an der Universität Teheran inne, wo er auch vergleichende Religionswissenschaft und Theologie lehrt. Bis heute organisiert er regelmäßig internationale Kongresse zum Thema christlich-muslimischer Dialog.

Seit Anfang der 90er Jahre begann er vermehrt Artikel in liberaleren Tageszeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen, in denen er für einen neuen kritischen Zugang zur Religion argumentiert. Durch diese publizistische Tätigkeit sowie durch eine Reihe von öffentlichen Vorträgen an Universitäten und in anderen öffentlichen Foren nahm er aktiv am religiös-politischen Diskurs teil und wurde zu einem der bedeutendsten religiösen Intellektuellen des zeitgenössischen Iran.

Irans Reformerdenker und Regimekritiker

Das kritisch-intellektuelle Spektrum Irans ist alles andere als homogen. So finden sich säkulare MenschenrechtsaktivistInnen, die in ihren Argumentationen für mehr Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich auf einen Rückgriff auf die Religion verzichten und sich allein auf internationales Recht berufen.

Daneben gibt es AktivistInnen, die sich ebenfalls für eine umfassende Erneuerung des Rechtssystems gemäß internationaler Standards einsetzen, dies aber aus einem islamischen Selbstverständnis heraus tun.

Diese Gruppierungen, deren Vertreter nicht selten gemeinsam in Erscheinung treten, kämpfen im Kleinen, z.B. als Anwälte in Prozessen, für die freiheitlichen Rechte des Einzelnen. Die säkularistische Rechtsanwältin Mehrangiz Kar und die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi sind glänzende Beispiele für diese Strömung.

Eine etwas andere Rolle nehmen jene religiösen Intellektuellen, politischen AktivistInnen und PolitikerInnen ein, die auf verschiedenste Weise das System der Islamischen Republik – sei es aus pragmatischen Gründen oder aus Überzeugung – bejahen, sich aber für seine Erneuerung durch Reformen der Verfassung der Islamischen Republik Iran einsetzen.

Prominente Vertreter dieser Gruppe sind etwa der Publizist Akbar Ganji, Mohsen Kadivar und nicht zuletzt Staatspräsident Mohammad Khatami.

Mohammad Mojtahed Shabestari gehört, neben Abdol Karim Sorusch, zu den prominentesten Vertretern jener religiösen Intellektuellen Irans, die seltener konkret Bezug zur Tagespolitik nehmen oder für konkrete Reformen der Verfassung plädieren.

Besonders in die Diskussion um ein neues Verständnis der Staatsdoktrin der 'Herrschaft des (obersten) Rechtsgelehrten' ("velayat-e faqih") mischt sich Shabestari nicht ein, auch ist er eher vorsichtig, was die direkte Kritik an Vertretern des religiös-politischen Establishments angeht.

Dieser Haltung der Vorsicht mag er es auch verdanken, dass er bisher nicht in ernsteren Konflikt mit der iranischen Justiz geraten ist, die kritische Stimmen nicht selten durch hohe Gefängnisstrafen zum Verstummen bringen wollte.

Dennoch ist ein Großteil von Shabestaris Schriften politisch und im Kontext des aktuellen religiös-politischen Diskurses in Iran zu verstehen. Das zeigt sich nicht zuletzt in seiner Argumentation für die bedingungslose Anerkennung universaler Menschenrechte und der Demokratie, ohne sie auf den Islam zurückzuführen, aus ihm herleiten oder gar durch ihn einschränken zu wollen.

Historisierung und zeitgemäße Lesart des Korans

Menschenrechte und Demokratie sind Shabestari zufolge Produkte der menschlichen Vernunft, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben und noch weiter entwickeln. Sie sind als solche nicht bereits durch Koran und Sunna vorgegeben.

Vielmehr schweigt der Koran zum modernen Menschenrechtsverständnis, und dennoch steht dieses nicht im Widerspruch zur göttlichen Wahrheit, die der Koran enthält. Shabestari weist unter Rückgriff auf die moderne Hermeneutik jede Behauptung zurück, der Mensch könne unmittelbar in den Besitz der absoluten göttlichen Wahrheit gelangen.

Solch ein Anspruch käme der Verdinglichung Gottes gleich und ist somit ein Verstoß gegen das Prinzip des tauhid, der Einheit und Transzendenz Gottes. Das Wissen von Gott und seinen Geboten ist immer menschliches Wissen und als solches veränderlich und niemals absolut.

Vorannahmen und Erwartungen bzw. Fragen des Interpreten an den Offenbarungstext sind aber kein Manko, das das richtige Verstehen trübt, sie sind vielmehr notwendige Bedingung für jegliches Verstehen der Offenbarung überhaupt.

Erst der Interpret bringt durch seine Fragen und seine Haltung den Koran zum Sprechen. Es ist aber notwendig, dass der Interpret sich seine Vorannahmen so weit wie möglich bewusst macht.

Ein Rechtsgelehrter beispielsweise, der ein Rechtsgutachten erstellen will, muss sich mit dem Gegenstand des Gutachtens auskennen. Das setzt voraus, dass der Gelehrte auf das Wissen seiner Zeit zurückgreift, indem er die modernen Wissenschaften zur Kenntnis nimmt. Der Rückgriff auf traditionelle Rechtskompendien reicht dafür nicht aus.

Ebenso genügt es nicht, in Koran und Sunna nach Geboten und rechtsrelevanten Passagen zu suchen und sie aus dem Kontext gerissen als Antwort auf aktuelle Fragen zu gebrauchen. Denn die meisten Gebote, so Shabestari, sind Antworten auf gesellschaftliche Fragen der Zeit Muhammads, des Propheten des Islam, und nicht eins zu eins auf die Gegenwart anwendbar.

Shabestari spricht sich somit für eine Historisierung der Offenbarung aus. Sie ist ein geschichtliches Phänomen, das sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen ereignet hat.

Alle Verse des Koran und alle Überlieferungen des Propheten beziehen sich notwendigerweise auf die Zeit des Propheten und sind in ihrer wörtlichen Form auch nur für jene Zeit unumschränkt gültig.

Gerechtigkeit als ewiges Gebot

Es ist daher notwendig, zwei Aspekte der Offenbarung zu unterscheiden. Nämlich einerseits den Kern der göttlichen Botschaft und andererseits die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihr eine bestimmte Form gaben.

Es gilt somit von dieser Form zu abstrahieren, um auf die eigentlichen Ziele und Werte zu stoßen, die der prophetischen Botschaft zu Grunde liegen. Denn die Form der Botschaft – also die gesetzesartigen Texte im Koran und in den Prophetentraditionen – dienten lediglich dem Zweck, die eigentlichen Ziele zu verwirklichen.

Shabestari liefert keinen verbindlichen Katalog von Werten und Zielen. Häufig nennt er die Begriffe Freiheit und Verantwortung. Als vielleicht zentralen Wert führt Shabestari – an sich für islamisches Denken durchaus exemplarisch – das Prinzip der Gerechtigkeit an, dessen Beachtung den Menschen von Gott als ewiges Gebot auferlegt wurde.

Aus dem Koran lässt sich aber keine konkrete Herrschaftstheorie ableiten. Es obliegt vielmehr der menschlichen Vernunft, den Begriff der gerechten Herrschaft wie der Gerechtigkeit überhaupt immer wieder neu zu deuten.

Es stellt sich hier die Frage, ob das, was in Anbetracht dessen noch als ewiger und unveränderlicher Bestandteil der Offenbarung übrig bleibt, sich nicht auf ein dünnes Skelett abstrakter Begriffe beschränkt. Ist das aber nicht herzlich wenig, wenn man bedenkt, dass es sich beim Koran doch für alle Muslime um Gottes ewige Rede handelt?

In der Tradition der islamischen Mystik

Diesem Einwand hat Shabestari eine starke These entgegen zu setzen. Der Offenbarungstext als solcher ist nämlich für Shabestari nicht per se schon als ewige Rede Gottes zu verstehen. Die Rede Gottes ist er nur dann, wenn er im Rezipienten eine religiöse Erfahrung hervorruft. Diese Rede besteht demzufolge immer nur aktuell im Rezipienten. Und es ist die religiöse Erfahrung, die Shabestari als Kern des Glaubens betrachtet.

Der Glaube ist, so Shabestari, weder eine Überzeugung noch ein Wissen von etwas. Religiöse Überzeugungen, Meinungen, Theorien etc. können Ausdruck des Glaubens sein, sie sind aber nicht der Glaube selbst.

Der Glaube ist vielmehr die völlige Hingabe in das Dasein Gottes, er ist die Geborgenheit in Gott und demnach ein innerer Akt der Begegnung zwischen Mensch und Gott. Shabestari stützt sich mit seinem Begriff des Glaubens auf die Tradition der islamischen Mystik, allen voran Ibn Arabis, sowie auf die Existenztheologie des protestantischen Theologen Paul Tillich.

Worauf es Shabestari hier ankommt, ist, den Glauben als Kern der Religion zugunsten eines legalistischen Religionsverständnisses zu rehabilitieren. Der Glaube als religiöse Erfahrung müsse Kerngedanke einer "Neuen Theologie" werden und die Überbetonung des Rechts einerseits und metaphysischer Aussagen über Gott andererseits ersetzen oder zumindest ergänzen.

Freiheit als Bedingung für wahren Glauben

Neben der spirituellen Dimension betont Shabestari noch einen weiteren Aspekt des Glaubens. Er beruht ihm zufolge nämlich auf einem freien Willen, der zu den Wesensmerkmalen des Menschseins gehört.

Zugleich aber ist der Mensch auch ein unvollkommenes Wesen, er ist weder allmächtig noch allwissend oder gar unsterblich. Der Glaube ist die Suche nach Erlösung der eigenen Unvollkommenheit in der Vollkommenheit Gottes.

Der Glaube ist eine bewusste Entscheidung für den Halt in Gott, die auf der inneren Freiheit des Menschen beruht. Hierbei handelt es sich nicht um eine einmalige Entscheidung, die auf Dauer Bestand hätte, vielmehr muss sie in Anbetracht sich stets verändernder Lebensumstände immer wieder erneuert werden.

Der oder die Gläubige muss daher immer wieder reflektieren, was zum Glauben gehört und was nicht. Das bedeutet, er oder sie muss sich bewusst machen, was auf seiner/ihrer freien inneren Entscheidung beruht und mit einer spirituellen bzw. religiösen Erfahrung einhergeht und was letztlich rein äußerliche Nachahmung von religiösen Handlungen und Floskeln ist.

Dafür ist es nötig, sich ernsthaft und offen mit der Kritik am religiösen Denken – ob von muslimischer oder nicht-muslimischer Seite – auseinander zu setzten. Shabestari verbindet somit einen hohen selbstkritischen und emanzipatorischen Anspruch mit dem Begriff des Glaubens.

Allgemeine Menschenrechte im Sinne des Islam

Der inneren Freiheit des Menschen muss auch eine äußere Freiheit entsprechen. Denn die innere Entscheidung für Gott kann dem Menschen nicht von außen aufgezwungen werden.

Sämtliche religiöse Dogmen, die dem Menschen vorschreiben, was er zu glauben habe und was nicht, sind daher keine Wegweiser zum wahren Glauben, sondern Barrieren, die die freie Entfaltung des Glaubens behindern.

Sobald eine Gruppe, zumal wenn sie über großen politischen und gesellschaftlichen Einfluss verfügt, das Unterscheidungsmonopol dessen, was im religiösen Sinne wahr und was falsch ist, für sich beansprucht und somit eine offizielle Lesart der Religion entsteht, wird die Religion instrumentalisiert und ihres Kerns, des Glaubens, beraubt.

Vor diesem Hintergrund wird Shabestaris Argumentation für die Anerkennung allgemeiner und universeller (eben nicht spezifisch islamischer) Menschenrechte durch die Muslime und sein Plädoyer für ein demokratisches politisches System verständlich:

Menschenrechte und Demokratie sind im Sinne des Islam, nicht weil sie bereits durch Koran und Prophetentradition vorgegeben oder durch die Scharia legitimiert sind, sondern weil sie eine vernünftige und zeitgemäße Deutung von gerechter Herrschaft sind.

Ihre Verwirklichung ermöglicht es, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen ein freier und mithin wahrhafter Glaube gefördert und nicht behindert wird. Demokratie und Menschenrechte dienen also dem Islam weit mehr als jedes "islamische" aber autoritäre System.

© Roman Seidel

Roman Seidel studierte Islamwissenschaft, Iranistik und Philosophie in Mainz, Bochum, Teheran und Berlin. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamwissenschaft der FU-Berlin und Koordinator des Interdisziplinären Zentrums "Bausteine zu einer Gesellschaftsgeschichte des Vorderen Orients".