Der Weg zur arabischen Wissensgesellschaft

Die Diskussion über Bildung und Menschenrechte, die der Arab Human Development Report initiiert hat, geht weiter. Die Länder des Nahen und Mittleren Ostens brauchen Reformen, wenn sie den Anschluss an die Globalisierung nicht verpassen wollen. Ein Beitrag von Hans Dembowski

.

Syrischer Präsident Baschar al-Assad auf der IT-Messe in Damaskus, Foto: AP
Syrischer Präsident Baschar al-Assad auf der IT-Messe in Damaskus

​​„Unser Problem ist nicht einfach eine Wissenslücke – wir leiden unter einer Denklücke.“ Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds Universität in Jerusalem, bedauert, dass arabische Studenten in der Regel kaum wissenschaftliche Neugier zeigen. Sie besuchten Hochschulen nur, weil sie auf möglichst hoch bezahlte Arbeitsplätze hofften. Die jungen Leute seien gewohnt, Lehrstoff auswendig zu repetieren, aber kaum in der Lage, akademische Paradigmen kritisch zu hinterfragen oder neue Probleme kreativ zu lösen. Beide Fähigkeiten aber gelten als unabdingbar, um wissenschaftliche Leistungen zu bringen.

Nusseibehs düsteres Urteil über arabische Studenten teilen viele Fachleute. Zwischen Atlantik und Persischem Golf hat der zweite Arab Human Development Report eine lebhafte Bildungsdiskussion entfacht. Die Studie erschien Ende 2003 (Siehe E+Z, Nr. 12, 2003). Sie wurde vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) und dem Arabischen Fonds für soziale und wirtschaftliche Entwicklung (AFSED) herausgegeben und erteilt der gesamten Region schlechte Noten. Alle Länder des Kulturkreises laufen Gefahr, dass die Kluft zwischen ihnen und den Wissensgesellschaften des Nordens rasant weiter wächst – mit ernsten ökonomischen Konsequenzen.

Die Botschaft des Reports ist angekommen – beispielsweise bei der syrischen Regierung. Abdallah Al-Dardari, der Leiter der staatlichen Planungskommission in Damaskus, bestätigt, die schwindenden Ölvorräte könnten die ökonomische Zukunft seines Landes nicht mehr sichern. Syrien müsse sich in die Globalisierung integrieren und moderne Informationstechniken wie das Internet nutzen. Nur so könne „das riesige Potenzial des syrischen Individuums entfesselt“ werden, betont Al-Dardari.

Freie Entfaltung von Individuen gehört gleichwohl nicht zu den Themen, mit denen sich die autoritäre Regierungspartei Baath in Syrien in den vergangenen Jahrzehnten profiliert hat. In der Tat steckt im vermeintlich harmlosen Bildungsthema politischer Sprengstoff. Das bestätigte einmal mehr eine Konferenz Anfang Februar in Berlin, die InWEnt zusammen mit dem Entwicklungsministerium (BMZ) und UNDP über wissensgesellschaftliche Perspektiven in arabischen Ländern veranstaltete. Für Aufregung sorgt beispielsweise die These aus dem UNDP-Report, dass ohne Bürgerrechte und Meinungsfreiheit kritisches und kreatives Denken nicht zu haben ist.

Repression lähmt akademische Arbeit

Tatsächlich bieten die meisten Hochschulen im arabischen Kulturkreis keinen akademischen Freiraum, der Wissenschaftler vor Geheimdienst-Spitzeln schützen könnte. Universitäten gelten vielen Regierungen als gefährlich, weil dort „junge Leute ihre Ansprüche und gegebenenfalls ihre Wut artikulieren“. Das sagt Rima Khalaf Hunaidi, die Direktorin des UNDP-Büros für arabische Staaten. Strenge staatliche Kontrolle führe oft auch zur vorauseilenden Selbstzensur der Lehrkräfte.

Der Weg zur Wissensgesellschaft führt deshalb nicht über partielle Reformen. Der ägyptische Professor Nader Fergany, der das Autorenteam des Arab Human Development Report leitete, sagt: „Der gesamte Aufbau der Gesellschaft steht zur Debatte.“ Die Durchsetzung von Bürgerrechten sei ebenso konfliktträchtig wie unverzichtbar. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die in vielen arabischen Ländern streng reglementiert sind, müssten ungehindert aktiv werden dürfen. Sie tragen zur Verbreitung und Verarbeitung von Information bei und können sich beispielsweise bei Alphabetisierungskampagnen als nützlich erweisen.

Neben brisanten Themen gibt es eine Vielzahl von Aufgaben, die politische Empfindlichkeiten weniger berühren. Angehörige der einheimischen Eliten sind sich schnell darüber einig, dass dazu eine bessere Lehrerausbildung, die Aktualisierung von Lehrplänen oder die systematische Pflege von Hocharabisch zählen. Fachfrauen betonen auch, dass alle Mädchen in die Schule gehen müssen, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.

Auf solchen Feldern bieten sich der deutschen Entwicklungspolitik reichlich Handlungsfelder für bilaterale Zusammenarbeit. Als viel versprechend gilt beispielsweise die Gründung der Deutschen Universität in Kairo. Ihr geistiger Vater Ashraf Mansur ist der lebende Beweis dafür, dass nicht alle ausländischen Absolventen des deutschen Bildungswesens aus den akademischen Netzwerken ausgeschlossen bleiben, wie ein gängiges Vorurteil lautet. Am Projekt der privatrechtlich organisierten Hochschule in der ägyptischen Hauptstadt sind die Universitäten Stuttgart und Ulm maßgeblich beteiligt.

Wo allerdings NROs – wie in vielen Ländern der Region – keine Spenden aus dem Ausland annehmen dürfen, können internationale Geber zivilgesellschaftliche Institutionen nicht unterstützen. Michael Hofmann, Abteilungsleiter im BMZ, fordert arabische Regierungen deshalb auf, solche Gesetze zu ändern.

Reformwünsche richten indessen auch arabische Intellektuelle an die Geberländer. Assia Ben Salah-Alaoui spricht beispielsweise das Thema Migration an. Die marokkanische Juraprofessorin klagt, die EU könne nicht Ingenieure aus armen Ländern abwerben, aber die Grenzen für ungelernte Arbeitskräfte verschlossen halten. Das führe zu Spannungen, die langfristig auch Europa schaden würden, und widerspreche obendrein dem Zuwanderungsbedarf der alternden EU-Gesellschaften.

Die Juristin lehnt es auch ab, wie die Weltbank das Augenmerk ganz auf Grundbildung zu richten. Arabische Staaten brauchten wissenschaftliche Kompetenz. „Massenhafte Alphabetisierung ist gut genug für Imitationsgesellschaften. Innovationsgesellschaften brauchen Hochschulstudien“, räsoniert Ben Salah-Alaoui. Sie hält es für sinnvoll, auf hoch qualifizierte Dienstleistungen zu setzen. So könnten nordafrikanische Länder chirurgische Zentren aufbauen, weil beispielsweise die Nachfrage nach kosmetischen Operationen in Europa das Angebot übersteige. In jedem Fall sei es entwicklungspolitisch wertvoll, Abnehmern in der reichen Welt anspruchsvollen Service anzubieten.

Demokratische Transformation

Der Arab Human Development Report ist ein Dokument, dessen Reformagenda Araber formuliert haben. UNDP-Direktorin Hunaidi betont, das Konzept sei nicht von außen aufgestülpt. Es zeige vielmehr, dass multilaterale Politik innenpolitische Themen aufgreifen könne, denen die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ohnmächtig gegenübersteht. Keine arabische Regierung hätte, auf sich gestellt, die Thematik auf die Tagesordnung gesetzt. Doch das internationale Echo auf den Bericht, dessen erste Ausgabe von 2002 mehr als eine Million Male aus dem Internet herunter geladen wurde, erzwinge nun die Diskussion über Bildung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.

Hans Dembowski

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Quelle: Entwicklung und Zusammenarbeit 3/2004