Wie sollen Europas Imame der Zukunft ausgebildet werden?

Egal ob Frankreich, Deutschland oder die Niederlande, alle haben das gleiche Problem. Wie sollen die europäischen Imame der Zukunft ausgebildet werden? Der belgische Islamexperte Michael Privot hat eine Vision.

Der 45-jährige Belgier Privot redet konzentriert und voller Enthusiasmus, wenn er über sein Projekt redet. Der hauptamtliche Direktor des Europäischen Netzwerks gegen Rassismus (ENAR) hat sich viel vorgenommen. Er will einen Bachelor- und einen Masterstudiengang für die theologische Ausbildung von Imamen in Europa ins Leben rufen. Dieses Projekt verfolgt er ehrenamtlich.

"Derzeit treffen wir Interessierte von Universitäten oder muslimischen Organisationen in verschiedenen EU-Staaten, die sich vorstellen können, sich an dem Projekt zu beteiligen", sagt Privot. Er konvertierte vor 26 Jahren zum Islam. Der studierte Orientalist engagierte sich in einer der größten muslimischen Gemeinden in Belgien, in Verviers. Zum Freitagsgebet kommen zwischen 1.500 und 2.000 Muslime. "Wir waren die erste staatlich anerkannte Moschee in Belgien", sagt er. Die Moschee habe das Recht gehabt, drei Imame einzustellen. "Ich war damals im Vorstand der Moschee", so Privot. Rasch sei ihm damals klar geworden, dass es, im Gegensatz zu dem Beruf des Priesters, keine Standards oder Vorgaben für Imame gebe.

Zusammen mit dem Imam Tareq Oubrou aus dem französischen Bordeaux und dem Anthropologen Cedric Baylocq verfasste er 2009 ein Buch zum Beruf des Imam ("Profession Imam"). Darin stellen sich die Experten die Frage, wie eine Jobbeschreibung eines Imams in Europa aussehen könnte. "Es ist eine Art Reflexion über die Rolle des Imams in der Gesellschaft", sagt Privot. Die Standards, was von Imamen heutzutage erwartet werde, seien ähnlich wie die Ansprüche an Priester oder Rabbiner. "Traditionell war der Imam jemand, der vorgebetet hat", so Privot. Heutzutage sei er zudem aber auch Ansprechpartner für religiöse, moralische und soziale Fragen. Sein Aufgabengebiet in einer kleinen Gemeinde gehe weit über das Gebet hinaus, es gehe auch darum eine Gemeinde zu leiten und zusammenzuhalten.

Derzeit kommen viele Imame in EU-Staaten laut Privot aus Marokko, Syrien, der Türkei, Saudi-Arabien, Ägypten oder Bosnien und Herzegowina. Doch diesen Ländern gehe es laut Privot mehr um Deutungs- und Interpretationshoheit, als um die Entwicklung eines Islams, der an die Bedürfnisse europäischer Gesellschaften angepasst ist. "Im Unterschied zu den Gesellschaften in den Ausbildungsländern der Imame ist die Gesellschaft in den meisten EU-Staaten viel heterogener", so Privot. In muslimischen Gemeinden in Europa würden verschiedene Sprachen gesprochen, es gebe verschiedene ideologische Hintergründe, und Ehen zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen seien keine Seltenheit. "Zudem ist die Weltanschauung der Europäer anders", sagt er. Damit meint er das europäische Paradigma der Reflexionsfähigkeit und Kritik.

All diese Punkte sollen Beachtung finden in der Konzeption eines europäischen Studiengangs für Imame. "Wissen über Religion soll durch die Linse des kritischen Denkens vermittelt werden", sagt er. Wichtig sei ihm, dass das Institut "säkular" sei. Privot will, dass die Lehrenden aus verschiedenen Strömungen des Islams kommen, damit die Studierenden die gesamte Bandbreite des Islams kennenlernten. "Am Ende kann ein Student sich für eine konservative Form des Islams entscheiden, wichtig ist nur, dass er vorher die Wahl hatte und seine Entscheidung begründen kann", sagt Privot.

"Unser Ziel ist es, den Studenten das Wissen über die Tradition des Islams zu vermitteln sowie sie in die Islamwissenschaft einzuführen", sagt er. Wer das Studium durchlaufe, müsse nicht zwingend Imam werden, so Privot. Er könne auch Journalist oder Wissenschaftler werden. "Das Studium soll die Studenten mit einer guten Basis ausstatten, um den Beruf des Imams auszuüben", so Privot.

Das Institut hat Privot bereits gegründet. Doch bisher ist es nicht mehr als eine Adresse. Es gibt kein Gebäude. "Die Idee ist nicht, ein neues physisches Institut aufzubauen, sondern eine Koordinierungsstruktur zu schaffen", sagt er. Belgien, die Niederlande, Frankreich und Deutschland hätten bereits signalisiert, dass sie teilnehmen wollen. Für Deutschland ist Privot im Gespräch mit der "Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft" (AIWG). Auch die EU habe bereits Interesse gezeigt, den Studiengang über das Programm für Netzwerke europäischer Universitäten zu unterstützen.

Konkret könnte es so aussehen, dass die Studenten - sowohl Männer als auch Frauen - einige Kurse an einem Ort zusammen absolvieren. Länderspezifische Kurse wie etwa zum Verhältnis von Staat und Kirche könnten in den jeweiligen Ländern stattfinden. Wer Imame zulässt, ist von Staat zu Staat anders geregelt. Auch dieser Teil müsste weiterhin in den EU-Mitgliedstaaten geregelt werden. Als Startdatum für den Bachelorstudiengang war eigentlich September 2021 geplant. "Doch wir sehen auch, dass vieles länger dauert als erwartet", so Privot. Wann die ersten Imame den Bachelor und Master abschließen werden, ist also unklar.

Die Vision des Belgiers steht im Kontext eines größeren Ziels: der Entwicklung eines europäischen Islam. Doch bis die ausgebildeten Imame Einfluss in Europa hätten, könne es sicherlich noch etwa zehn Jahre dauern, so Privot. Der Islam-Experte sieht zudem in den kommenden Jahren einen zunehmenden Bedarf in Europa an Imamen. "Einige Imame werden in den Ruhestand gehen", sagt er. Derzeit seien muslimische Gemeinden meistens noch nicht bereit, für gut ausgebildete Imame mehr Geld zu zahlen. Doch Privot denkt, dass sich das in Zukunft ändern werde.

Und ist der Studiengang auch die Antwort auf die Terroranschläge, die in den vergangenen Jahren in Europa stattfanden? "Ja", sagt Privot. "Es ist nur ein Puzzleteil der Antwort darauf, dass der Islam für politische und gewalttätige Zwecke genutzt wird", sagt er. (KNA)