Die Herausforderung des Islamismus

Überall gewinnen die Islamisten an Einfluss. Um der Welt eine wirkliche Alternative zu bieten, müssen sie beweisen, dass sie die demokratischen Grundprinzipien respektieren, schreibt Ammar Ali Hassan.

Islamistische Gruppen und Organisationen in der arabischen Welt haben lange darauf gewartet, dass sich die Türen der Macht für sie öffnen.

Wenn es auch nicht immer um die alleinige Regierungsverantwortung oder auch nur um eine Regierungsbeteiligung geht, so hofften sie doch immerhin, dass sie ihre politischen Aktivitäten frei ausüben können, ohne Furcht vor dem harten Durchgreifen der jeweiligen Regierungen, die ständige Überwachung und die bewusste Marginalisierung ihrer Bewegungen, unter der sie in den letzten Jahrzehnten zu leiden hatten.

Die Anhänger islamistischer Ideologien und ihrer politischen Praxis waren schon immer der Meinung, dass sie sehr viel eher dazu berechtigt seien, eine Nation zu führen als die Vertreter anderer politischer Richtungen, die im letzten Jahrhundert in der arabischen Welt entstanden sind.

Schwindende Dynamik

Auch wenn viele von diesen aufgrund der breiten Zustimmung der Bevölkerung an die Macht gekommen sind, haben sie inzwischen doch meist viel von ihrer ursprünglichen Dynamik verloren und konnten ihrem Anspruch, die arabischen Völker zu einem nachhaltigem Aufschwung und Wohlstand zu verhelfen, nicht gerecht werden.

Statt dessen fielen diese nationalen Bewegungen in die Hände despotischer Herrscher, verloren jeden Bezug zur sozialen und politischen Realität und verstrickten sich zunehmend in Korruption, von der letzten Endes nur eine kleine, westliche Interessen bedienende Machtelite profitieren konnte.

Ihre Zeit sei gekommen, sagen nun die Islamisten und implizieren damit, dass die Zeit des arabischen Liberalismus endgültig vorbei sei.

Die Liberalen erlebten ihren größten Zuspruch zur Zeit des anti-kolonialistischen Unabhängigkeitskampfes, gerieten jedoch schon bald gegenüber den nationalistischen und linksradikalen Bewegungen immer mehr ins Hintertreffen.

Heute führen die Liberalen einen fast aussichtslos anmutenden Kampf, wenn sie versuchen, ihren einstmaligen Einfluss und ihr Prestige zurück zu gewinnen.

Popularitätsverlust der Liberalen

Von vielen werden die Liberalen als eine Art "Fünfte Kolonne" des amerikanischen "Projekts Naher Osten" angesehen, das den Arabismus nicht nur als politisches Ordnungssystem, sondern auch als Ausdruck kultureller Identität infragestellt. So kann es nicht verwundern, dass der Begriff "neo-liberal" heute zu einer Art Schimpfwort geworden ist.

Dies führt dazu, dass die solcherart Angegriffenen viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihre Reputation und Loyalität gegenüber ihren Nationen zu verteidigen, so dass sie es kaum noch schaffen, Menschen für ihre Ansichten zu gewinnen und Mitglieder für ihre immer brüchigeren politischen Parteien zu rekrutieren.

So verlieren die traditionellen Liberalen zusehends an Boden; eingeschlossen in den Elfenbeinturm, in den sie sich zurückgezogen haben, sind sie unfähig, der Anziehungskraft und dem Organisationstalent der nationalistischen und islamistischen Bewegungen etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen.

Die Islamisten wiederum halten auch die Zeit der arabischen Nationalisten für abgelaufen, weil jene es nicht vermocht hätten, die Erfolge und Gewinne, die sie zur Zeit der nationalen Befreiung verbuchen konnten, nachhaltig zu sichern.

Der Islam ist die Lösung – das Credo der Islamisten

Dabei steht es für viele Islamisten fest, dass ihnen die Macht nicht nur wegen des Versagens der anderen Ideologien und Bewegungen zusteht. Wie es schon ihre Losung "Der Islam ist die Lösung" versinnbildlicht, leiten sie ihr Recht zur Macht nicht nur von der politischen Entwicklung ab, sondern in vielerlei Hinsicht von einem göttlichen Plan.

Diese Deutung wird gestützt von der Indoktrination jüngerer Anhänger und durch die Schriften von Männern wie Saiyid Qutb, Mohammed Qutb und Anwar Al-Guindi.

Islamistische Gruppen verweisen bei ihrer "Werbekampagne" in der arabischen Welt auf mehrere Punkte. Sie sind es, so sagen sie, die nicht nur den Widerstand gegen die israelische Besetzung in Palästina, dem Libanon und den Golanhöhen aufrechterhalten, sondern auch gegen die Amerikaner im Irak kämpfen.

Unter dem Schirm der Al-Qaida sei es ihnen gelungen, den Kampf ins feindliche Lager zu tragen. Terroristische Operationen im Ausland hätten den Westen in die Defensive gezwungen und so, in den Augen einiger muslimischer Gruppen, dazu beigetragen, die Versuche des Westens zur Spaltung der Region zu vereiteln, die arabischen und muslimischen
Staaten zu einen und damit ihren Ruhm und das Ansehen wiederzubeleben.

Außerdem machen sie auf den immer größeren Zuspruch aufmerksam, den "moderate" Islamisten beim arabischen Wahlvolk bekommen, wovon die Erfolge zeugen, die sie in den letzten Jahren bei Parlaments- und Kommunalwahlen erzielen konnten, etwa in Kuwait, Jordanien, Marokko, Bahrain, Saudi-Arabien und Ägypten.

Aber auch anderswo in der arabischen Welt erhalten Islamisten immer größeren öffentlichen Zuspruch, ganz egal, ob sie im Untergrund oder über legitime Kanäle arbeiten.

So wird die Muslimbruderschaft in Syrien inzwischen als stärkste Oppositionskraft angesehen und hat somit im Falle eines Regimewechsels wohl die besten Aussichten, an die Macht zu gelangen.

Nicht zuletzt als Opfer politischer und manchmal auch religiöser Verfolgung haben es die Islamisten vermocht, Sympathien zu gewinnen. Diese Einschätzung wird gestützt durch entsprechende Zahlen in internationalen Menschenrechtsstudien zur politischen und religiösen Verfolgung in den arabischen Ländern.

So können sie durchaus argumentieren, dass, weil sie den größten Preis im Kampf gegen tyrannische und totalitäre Regime zahlen, es auch ihnen zufällt, diese Regime zu beerben, wenn deren Ende gekommen ist.

Vages Demokratieverständnis

Einige Islamisten haben jedoch im besten Fall ein sehr vages Bild von Demokratie und demokratischen Methoden. Wenn sie öffentlich auch deren Prinzipien vertreten mögen, so widerspricht dem doch ihr Glaube, dass ihnen allein die Vertretung des politischen Willens in den arabischen Ländern zufällt.

So nimmt es nicht Wunder, dass viele Menschen ihnen keinen Glauben schenken, wenn sich islamische Gruppen und Organisationen zu den Prinzipien von Pluralismus und wechselnden Regierungsverantwortungen bekennen.

Hinzu kommt, dass ein wichtiger Teil der islamistischen Bewegung demokratische Prozesse offen bekämpft, wovon viele fundamentalistische Schriften in der arabischen Welt ein beredtes Zeugnis abliefern.

Es sei daran erinnert, dass die Nummer Zwei der Al-Qaida, Ayman Al-Zawahiri, die Muslimbruderschaft jüngst scharf dafür kritisierte, dass diese an den Parlamentswahlen in Ägypten teilnahm.

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Islamisten momentan die stärkste Oppositionskraft in vielen arabischen Ländern bilden und ihren Einfluss in der Bevölkerung stetig verstärken und verbreitern konnten.

Auch ihr Anspruch, den Wohlstand breiter Schichten der Bevölkerung zu verbessern und das Recht zu erhalten, sich hierfür politisch zu betätigen, kann nicht in Frage gestellt werden, vor allem vor dem Hintergrund, wie sehr sie sich inzwischen als nationale Kraft etablieren konnten.

Und doch: Wenn es ihnen tatsächlich ernst damit ist, für den Fortschritt in den arabischen Ländern zu wirken und wenn sie ihnen weitere Katastrophen ersparen wollen, müssen sie ihre politische Vision radikal verändern.

Sie müssen die Ungeduld ablegen, mit der sie versuchen, an die Macht zu gelangen, sie müssen Beweise dafür liefern, dass sie es ernst meinen mit politischem Pluralismus und müssen schließlich auch die Welt davon überzeugen, dass sie willens und in der Lage sind, konstruktiv mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten.

Doch vor allem müssen sie ein durchdachtes und durchführbares Konzept vorlegen, mit dem die arabische Welt vor einem weiterem Niedergang und weiterer Fragmentierung bewahrt werden kann.

Auch müssen sie sicherstellen, dass ihr Machtantritt wirkliche Erneuerungen mit sich bringt und nicht nur die äußere Fassade sattsam bekannter Strukturen politischer und sozialer Unterdrückung verändert.

Ammar Ali Hassan

© Al Ahram Weekly 2006

Der Autor ist Direktor des "Cairo Centre for Middle East Studies and Research".

Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol

Qantara.de

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