Das Kalifat zerfällt - doch der IS bleibt weltweit eine Gefahr

Vor drei Jahren rief der IS in Syrien und im Irak ein «Islamisches Kalifat» aus. Es war der Höhepunkt seiner Macht. Doch jetzt steht die Terrormiliz vor entscheidenden Niederlagen in Mossul und Al-Rakka. Von Jan Kuhlmann

Es war nur eine von unzähligen Audio-Botschaften, die der Islamische Staat (IS) in den vergangenen Jahren über das Internet verbreitet hat. Doch diese eine im Sommer 2014 sollte bei den Sicherheitsfachleuten weltweit besonderen Alarm auslösen.

In den Monaten zuvor hatten die Dschihadisten nicht nur riesige Gebiete im Bürgerkriegsland Syrien eingenommen, sondern auch große Teile des Iraks überrannt. Dort erstreckte sich ihr Herrschaftsgebiet von der Millionenstadt Mossul im Norden über die Wüstengebiete im Westen bis kurz vor die Tore der Hauptstadt Bagdad im Zentralirak.

Und an diesem 29. Juni 2014 machte der - mittlerweile getötete - IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani in einer Audiobotschaft deutlich, dass die Terrormiliz noch größere Pläne hatte: Al-Adnani verkündete im melodiösen Ton eines Koran-Rezitators die Errichtung eines «Islamischen Kalifats», eines eigenen Staates. Wenige Tage später zeigte sich IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi, der neue «Kalif Ibrahim», bei einer Freitagspredigt in Mossul erstmals öffentlich.

Spätestens da hatte der IS dem Terrornetzwerk Al-Qaida den Rang abgelaufen. Doch zwischen dem Höhepunkt der Macht und dem Niedergang des sunnitischen IS liegen gerade einmal drei Jahre. Seit dem Beginn von Offensiven irakischer und syrischer Kräfte auf die Dschihadisten zerfällt das Kalifat.

In Mossul haben Regierungstruppen den IS in wenigen Vierteln der dicht bewohnten Altstadt eingekesselt. Von Kurden angeführte Einheiten drängen die Terrormiliz auch in der nordsyrischen Stadt Al-Rakka immer weiter zurück. Die internationale Anti-IS-Koalition unterstützt die Offensiven aus der Luft.

In beiden Städten dürfte ein militärischer Sieg gegen den IS nur noch eine Frage der Zeit sein. Als wollten sie ihre Niederlage eingestehen, sprengten die Dschihadisten vor Kurzem die Große Moschee Mossuls - also ausgerechnet den Ort, an dem Al-Baghdadi mit dem Auftritt bei der Freitagspredigt sein größter Propagandacoup gelang.

Auch von seinen wichtigsten Quellen ist der IS mittlerweile abgeschnitten. Ausländischen Kämpfern, die früher jeden Monat zu Hunderten ins «Kalifat» strömten, ist heute der Weg ins IS-Reich versperrt, nicht zuletzt weil die Türkei ihre Grenze zu Syrien geschlossen hat.

Die finanziellen Ressourcen dürften ebenfalls knapp werden. Der IS lebte nicht zuletzt von Steuern und dem Verkauf von Öl. Doch mit dem Verlust seines Gebiets versiegen diese Einnahmen.

Zuletzt kam erneut die Frage auf, ob IS-Chef Al-Baghdadi noch lebt. Schon mehrfach war der 45-Jährige für tot oder verletzt erklärt worden. Jetzt prüft Moskau Berichte, ob er bei einem russischen Luftangriff nahe Al-Rakka getötet wurde. Beweise dafür fehlen bisher. Doch selbst wenn er lebt, dürfte er sein Oberkommando nur mit größten Problemen ausüben können.

Der meist gesuchte Terrorist der Welt sei in den Untergrund gedrängt worden, wo er sich verstecken müsse, sagte der Vize-Kommandeur der Anti-IS-Koalition, Generalmajor Rupert Jones, in dieser Woche in einer Telefonschalte mit Journalisten: «Er ist nicht in der Lage, seine Kämpfer so zu führen, wie er das möchte.»

Dennoch ist es zu früh, einen Abgesang auf den IS anzustimmen. 2010 schien die Terrormiliz schon einmal besiegt, um später stärker als zuvor wieder aufzuerstehen. Mit Angriffen und Anschlägen in syrischen und irakischen Städten hat der IS zuletzt gezeigt, dass er sich wohl künftig auf eine Guerillataktik konzentrieren wird.

Beide Länder bieten große unübersichtliche Gebiete, in denen die IS-Kämpfer sich verstecken können. Oder sie tauchen einfach in der Zivilbevölkerung unter. Schon jetzt habe die Terrormiliz Schläferzellen in irakischen Gebieten, sagt der frühere irakische Offizier Safa al-Ubeidi.

Der IS bleibt auch deshalb eine Gefahr, weil die Probleme, die ihn stark gemacht haben, nicht gelöst sind. Syrien ist ein zerfallener Staat, der radikalen Gruppen viele Machtvakuen bietet. Im Irak fühlt sich die Minderheit der Sunniten noch immer von der Mehrheit der Schiiten diskriminiert. Der Konflikt dürfte sich sogar verschärfen, weil schiitische Milizen mit der Mossul-Offensive tief in sunnitisches Gebiet vorgedrungen sind - neuer Nährboden für den IS.

Das geistige Erbe Al-Baghdadis und des IS lebt zudem fort und dehnt sich weltweit aus. Generalmajor Jones glaubt zwar, dass der IS wegen des hohen militärischen Drucks in Mossul und Al-Rakka kaum noch Attentate in Europa oder anderswo anleiten kann. «Ihre Fähigkeit, Angriffe zu planen und zu steuern, ist sehr stark verringert worden», sagte er. Doch die Dschihad-Ideologie inspiriert weltweit weiterhin IS-Anhänger, wie Anschläge zuletzt in England zeigen. Längst hat der IS treue Ableger von Libyen und Ägypten über Afghanistan bis zu den Philippinen.

Darin sind sich die Sicherheitsfachleute einig: Die Terrorgefahr bleibt auch nach den sich abzeichnenden IS-Niederlagen in Mossul und Al-Rakka bestehen. Als Reaktion auf den Niedergang in Syrien und im Irak könnte die Miliz sogar verstärkt auf Anschläge setzen. (dpa)