Gegen den Diaspora-Nationalismus

Wenn sich Menschen türkischer Herkunft in Deutschland mit Staatspräsident Erdoğan und seinem autokratischen Kurs identifizieren, dann hat das nichts mit Diskriminierungserfahrungen zu tun. Es ist ein unkritischer Umgang mit der eigenen Geschichte, der zur Idealisierung von Macht und Stärke führt, meint Canan Topçu.

By Canan Topçu

Warum identifizieren sich Menschen türkischer Herkunft so sehr mit dem Herkunftsland? Warum sind sie Anhänger der AKP, der türkischen Regierungspartei? Und warum sind sie "Feuer und Flamme" für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan? Um Antworten auf diese Fragen bemühen sich derzeit viele Experten.

Gerade im Vorfeld des Referendums über die türkische Verfassungsänderung möchten viele verstehen, warum sogar Deutschtürken der dritten Generation sich mehr für die Politik im Herkunftsland ihrer Großeltern als für die Entwicklungen in Deutschland interessieren. Was ist falsch gelaufen, dass hier geborene und aufgewachsene Nachkommen türkischer Migranten in Erdoğan "ihren" Staatspräsidenten sehen? 

Schwer zu verstehen, ist das auch für Deutschtürken wie mich, die zwar auch eine emotionale Bindung zum Herkunftsland haben, aber mit einem nüchternen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei schauen. Wir, die Erdoğan-Kritiker, wissen es zu schätzen, in einem Rechtsstaat zu leben. Wir identifizieren uns mit Deutschland und haben Probleme damit, dass es unter uns etliche gibt, die einen Anti-Demokraten wie Erdoğan anhimmeln, weil er angeblich die Türkei wieder zu einem Land gemacht habe, auf das man stolz sein könne.

Fehlende Anerkennung ist keine Erklärung

Es gibt Sozialpsychologen, die dieses Verhalten mit Ausgrenzungserfahrungen und der fehlenden Anerkennung hierzulande erklären. Erdoğan-Anhänger selbst begründen es auch damit, dass sie ausgegrenzt werden. Diskriminierung und fehlende Anerkennungskultur reichen meines Erachtens aber nicht aus als Begründung für die Hinwendung zum Herkunftsland und die Begeisterung für den "büyük lider" – den großen Führer. Ich bezweifele diesen Kausalzusammenhang.

Es ist doch geradezu absurd, dass ausgerechnet diejenigen, die Rassismus in Deutschland beklagen, einen Staatsmann gutheißen, der Minderheiten und Andersdenkende kriminalisiert.

Man muss sich nicht als Opfer sehen und sich schon gar nicht in der Rolle als Erdoğan-Anhänger einrichten, weil man in Deutschland diskriminiert wurde! Denn auch wir, die Erdoğan-Kritiker, und alle diejenigen, für die die Türkei nicht das Paradies auf Erden ist und die den Staatspräsidenten nicht bewundern, sind in Deutschland nicht mit Samthandschuhen angefasst worden. Auch uns ist hierzulande nichts geschenkt worden; auch wir mussten uns immer wieder gegen Widerstände durchsetzen; auch wir sind auf die Hauptschule geschickt und von Mitschülern schikaniert worden; auch wir sind nicht als Gleiche unter Gleichen behandelt worden.

Minderwertigkeitskomplexe und Allmachtsfantasien

Daher frage ich mich ernsthaft, warum mein Rechtsempfinden stärker ausgeprägt ist und es mir gelingt, Demokratie von Despotie zu unterscheiden. Warum lasse ich mich nicht von einer allmächtigen Vaterfigur, wie sie Erdoğan offensichtlich für andere ist, vor den Karren spannen?

Antworten finde ich ebenfalls  in der Sozialpsychologie – und zwar in den Theorien, die den Diaspora-Nationalismus auf kollektive, nicht bearbeitete Gewalterfahrungen und auf die kollektive Verdrängung von Demütigungen zurückführen. Dieser Erklärungsansatz leuchtet mir ein, wenn ich mir das offizielle Geschichtsbild der Türkei und den Umgang mit ihrem historischen Erbe sowie historischer Schuld vergegenwärtige. Eine Nation, die aus den Trümmern des einst großen Osmanischen Reiches entstanden ist und die sich nicht mit dem Bedeutungs- und Machtverlust abfinden kann, leidet an einem Minderwertigkeitskomplex. Dieser Minderwertigkeitskomplex wird durch Allmachtfantasien kompensiert, die Erdoğan für seine Anhänger hierzulande und in der Türkei erfüllt.

Canan Topçu ist deustche Journalistin mit türkischen Wurzeln. Foto: Privat
Canan Topçu ist Journalistin und widmet sich seit vielen Jahren den Themen Migration, Integration und Islam. Sie lebt in Hanau und arbeitet für unterschiedliche Medien.

Gesellschaftliche Gruppen mit Minderwertigkeitskomplexen stellen nach dieser Theorie Selbstkritik mit Schwäche und Schuldeingeständnis gleich. Weil der Minderwertigkeitskomplex vererbt wird, kommt dieser Mechanismus auch bei den Nachkommen der türkischen Einwanderer zum Tragen. Daher würde eine Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft nicht viel bringen. Denn wer durch Minderwertigkeitskomplexe geprägt ist, sucht bei allen Erfahrungen, die er macht, nach einer Bestätigung für dieses Gefühl.

Die Opferrolle führt in eine Sackgasse

Zweifelsohne hat sich bei vielen Deutschtürken eine Menge negativer Migrationserfahrung angesammelt. Und auch eine Menge Frust. Der Weg aus diesem Frust ist nicht möglich durch die Idealisierung des Herkunftslandes und die Heroisierung eines Staatsoberhaupts, das Macht demonstriert und ausübt, sondern nur durch das Betrauern von Verlusten und nicht bewältigten Trennungen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte – auch der persönlichen – und den eigenen Wunden und Traumata könnte aus der Sackgasse der Opferrolle heraushelfen. Dafür bedarf es aber der Selbstreflexion.

Selbstreflexion wiederum lernen wir durch die Erziehung im Elternhaus. Wenn Erwachsene um einen herum dazu beitragen, die eigenen negativen Anteile abzuspalten sowie Schuld und Fehlverhalten zu externalisieren, dann ist der Weg zur Selbstreflexion mühsam. Es ist eben einfacher, die Schuld bei den anderen zu suchen und sich als Opfer der Verhältnisse zu verorten.

Canan Topçu

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