Im Zwielicht der Mehrheitsgesellschaft

Das politische Klima gegenüber Muslimen in Deutschland hat sich 2005 deutlich verschlechtert. Pauschal werden sie oft als Gefahr für den inneren Frieden beschrieben und unter Generalverdacht gestellt. Eberhard Seidel mit einem Rückblick

Das politische Klima gegenüber Muslimen in Deutschland hat sich 2005 deutlich verschlechtert. Recht pauschal werden sie als Gefahr für den inneren Frieden beschrieben und unter Generalverdacht gestellt. Eberhard Seidel mit einem Rückblick

Muslime in Deutschland; Foto: DW
Muslime unter Generalverdacht: Seit Beginn des Jahres 2006 müssen sie sich für die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit in Baden Württemberg einem fragwürdigen Gesinnungstest unterziehen

​​Lange Jahre konnte man den Bürgern in Deutschland vieles vorwerfen, nur nicht, sie seien islamfeindlich. Die Xenophobie der achtziger und der neunziger Jahre richtete sich nicht gegen Muslime. Sie traf (katholische) Angolaner, Roma und Sinti, Obdachlose, Angehörige von Subkulturen oder (säkulare) Türken ebenso wie Polen und Araber.

Die deutsche Spielart des Rassismus formierte sich entlang ethnischer und kulturalistischer Grenzziehungen. Lediglich beim Antisemitismus spielte die Religionszugehörigkeit eine Rolle.

Selbst nach den Schockereignissen vom 11. September 2001 stand in Deutschland das Werben um Toleranz in der Mehrheitsbevölkerung zunächst im Vordergrund. Anders als in England oder in den Niederlanden kam es hierzulande kaum zu Übergriffen gegenüber Muslimen.

Falls doch einmal islamfeindliche Stimmungen aufflackerten, waren Politik und Medien ein verlässliches Korrektiv. Die Bundesbürger waren in ihrem Bemühen, den Islam zu verstehen, bisweilen so blauäugig, dass sie die Herausforderung totalitärer islamistischer Bewegungen über Jahrzehnte kaum wahrnehmen wollten.

Debatte mit hysterischen Zügen

Heute ist vieles anders. Die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004 durch einen Islamisten führte nicht nur bei unseren Nachbarn zu einer "moralischen Panik", wie der niederländische Publizist Geert Mak die eruptive Verbreitung islamophober Einstellungen nennt.

Dem Entsetzen über die Tat folgte auch in Deutschland eine entgrenzte Debatte, die hysterische Züge trägt. Im Zentrum steht nicht so sehr das Interesse an mehr Kenntnissen über radikal-islamistische Gruppen, sondern allgemein der Islam.

Seit 2005 werden Muslime recht pauschal als Gefahr für den inneren Frieden beschrieben. Muslime, so scheint es, sind kein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft mehr, sondern ein Fremdkörper und ein Sicherheitsrisiko.

In schriller Tonlage wurde vielstimmig über Islam, Islamismus, EU-Beitritt der Türkei, Muslime, Zwangsheirat, Parallelgesellschaften, Frauenunterdrückung, islamisierter Antisemitismus und das Ende der multikulturellen Gesellschaft debattiert.

Die Erregung steigerte sich, als die junge Berlinerin Hatun Sürücü im Februar 2005 vermutlich von einem Bruder erschossen wurde. Die Tragödie in einer kurdischen Familie bewegt bis heute die Öffentlichkeit und wird eng mit dem Islam verknüpft.

Obgleich der Mord von der überwältigenden Mehrheit der Muslime und ihrer Organisationen klar verurteilt wird, fragen sich nun viele Deutsche: Wie kann es sein, das mitten in Deutschland Musliminnen im Namen der Ehre gefangen gehalten, misshandelt, zwangsverheiratet und getötet werden?

Unsinnige Vorwürfe

Schwere Geschütze werden aufgefahren. Der Bürgermeister aus Berlin-Neukölln, Heinz Buschowsky (SPD), macht zum Beispiel im März 2005 in einem Interview mit der rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" eine "Mafia der Gutmenschen" und "sozial-romantischen Multikulti-Träumer" für die gescheiterte Integration verantwortlich.

Unterstützt wird Buschkowsky unter anderem von der Soziologin Necla Kelek. Ihr Vorwurf: Die "liberalen Deutschen" hätten aus Angst, als Rassisten zu gelten, unhaltbare Zustände in den türkischen Gemeinden kritiklos hingenommen. Diese etwas schlichte Analyse erwies sich als Talk-Show-kompatibel und damit stilprägend.

Dabei offenbart ein kurzer Blick auf die Integrationsdebatten der letzten zehn Jahre sehr schnell die Unsinnigkeit solcher Behauptungen. Denn seit Anfang der achtziger Jahre wird in deutschen Medien anhaltend über Verwerfungen in der türkischen Gemeinde berichtet. Bis 2005 wurde allerdings nur in Ausnahmefällen auf den Islam als Begründungszusammenhang zurückgegriffen.

Die Rolle der Medien

Und noch etwas war neu in 2005. Kulturalistische und polarisierende Stereotypen wurden - anders als in der Vergangenheit - weniger von populistischen Politikern verbreitet, sondern vor allem von der so genannten Informationselite.

Nimmt man die publizierten Beschreibungen ernst, ergibt sich für Deutschland folgendes Bild: Das Land wird von Türken und Arabern bewohnt, die sich weigern, Lesen und Schreiben zu lernen, ihre Töchter zwangsverheiraten und mit Mord und Totschlag für die Errichtung eines Gottesstaates in ihren Parallelwelten kämpfen. Politisch, so wird nahe gelegt, kann es nur darum gehen, die Sache schnell in den Griff zu bekommen, bevor der offene Bürgerkrieg ausbricht.

2005 war kein gutes Jahr für Muslime in Deutschland. Nach jedem Anschlag islamistischer Terroristen erhöhte sich der Druck auf die Minderheit. Gebetsmühlenartig werden sie aufgefordert, ihre demokratische Gesinnung demonstrativer zu zeigen – egal ob sie mit dem Islamismus etwas zu schaffen haben oder nicht.

Obgleich alle wichtigen Dachorganisationen wie Milli Görüs, der Zentralrat der Muslime oder der Islamrat spätestens seit dem 11. September jegliche Gewalt im Namen des Islam verurteilen, klagte zum Beispiel Klaus Jansen, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, nach den Anschlägen in London: Die muslimischen Gemeinden tun zu wenig gegen Extremisten in ihrem Umfeld.

Und die "Welt" kommentierte: "Je mehr Attentate es gibt, desto zwingender wird ein klares Bekenntnis der hier lebenden Muslime zu Toleranz, Demokratie und westlicher Rechtsordnung. Das haben viele Muslime nicht begriffen."

Kultur des Ressentiments und des Verdachts

Das sind ungeheure Anwürfe an die "vielen Muslime". Sie unterstellen eine Mitwisserschaft und einen privilegierten Zugang zu den klandestinen Gruppen islamistischen Terrors qua religiöser Zugehörigkeit. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu Verschwörungstheorien und kulturalistischen Zuordnungen, aus denen es für Muslime kein Entrinnen mehr gibt.

Wie weit sich der Generalverdacht gegenüber einer religiösen Minderheit bereits in staatliches Handeln niedergeschlagen hat, zeigt der Gesinnungstest, dem sich Einbürgerungswillige seit dem 1. Januar 2006 in Baden Württemberg unterziehen müssen. Er ist auf Neubürger aus dem "islamischen Kulturkreis", wie die Herkunftsländer von Muslimen inzwischen immer häufiger genannt werden, zugeschnitten.

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kontakt@qantara.de Ein Auszug aus dem Fragekatalog: "Was halten Sie davon, wenn ein Mann in Deutschland mit zwei Frauen verheiratet ist?" Oder: "Sie erfahren, dass Leute aus Ihrer Nachbarschaft oder Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis einen terroristischen Anschlag begangen haben oder planen. Wie verhalten Sie sich?"

Die Debatten des zurückliegenden Jahres offenbaren eine zutiefst verunsicherte westliche Gesellschaft. Diffuse Ängste haben die rationale Auseinandersetzung mit terroristischer Gefährdung auf der einen Seite und real existierenden Integrationsproblemen auf der anderen Seite ersetzt.

Ein gefährlicher Prozess. Denn eine Kultur des Ressentiments und des Verdachts hat noch immer Repression und Gewalt der Mehrheit gegenüber der Minderheit zur Folge gehabt. Um dies zu verhindern, braucht der Dialog zwischen Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit wieder mehr Offenheit und Vernunft.

Eberhard Seidel

© Qantara.de 2006

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