Vertreibung, Hunger, Kälte - Stille Mörder in Afghanistan

Die Welt schaut auf die Afghanen, die es nach Europa schaffen. Aber in ihrem Heimatland, abseits aller Aufmerksamkeit, spielt sich ein viel größeres Drama ab. Nothelfer hat die humanitäre Krise unerwartet getroffen. Am schlimmsten geht es den Kindern. Von Christine-Felice Röhrs und Mohammad Jawad

Sias Kinder sind von draußen hineingekommen und drängen sich auf dem Boden zusammen vor dem Bunsenbrenner. Sie halten ihre Hände hoch, dem blauen Gasflämmchen entgegen. Einige Kinder sind barfuß, ihre Füße sind verkrustet mit eisigem Matsch. Der Brenner ist die einzige Heizung, die die Familie hat. Vor drei Monaten hat Sia (32) seine Frau und die acht Kinder aus der nordafghanischen Provinz Kundus in die Hauptstadt gebracht - eine von hunderttausendfachen, verzweifelten Fluchten durchs Land.

Sia war Bauer in Kundus. Aber dort, wo bis 2013 noch die Bundeswehr stationiert war, bekriegen sich radikalislamische Taliban und Sicherheitskräfte heute besonders bitter. Eine Tante von Sia ist ums Leben gekommen, Cousins sind tot, ein paar Kinder aus der Nachbarschaft auch, sagt Sia leise. Die Hauptstadt schien sicherer.

Aber ob seine Familie in Kabul überleben wird, das ist nicht sicher. Es gibt laute Mörder und leise. In Afghanistan haben zuletzt die lauten Mörder alle Aufmerksamkeit bekommen: radikalislamische Taliban, die vier Provinzhauptstädte belagern, Kämpfer der Terrormiliz IS, die sich inmitten einer friedlicher Demonstration in die Luft jagen, US-Jets, die Taliban beschießen und Zivilisten treffen - das waren nur einige der jüngeren Nachrichten aus dem Land, in dem sich Monat für Monat der Krieg wieder verschärft hat. Kälte, Hunger und Vertreibung töten stiller - oft in entlegenen Gegenden, die für Helfer schlecht erreichbar sind. Daher gibt es nur wenige Informationen.

Abseits aller Nachrichten über den Krieg oder jene Afghanen, die über die Landesgrenzen fliehen, zeichne sich in Afghanistan eine humanitäre Katastrophe ab, sagen Nothelfer. «Und viele Krisenfaktoren haben uns dieses Jahr kalt erwischt», sagt Will Carter von einer der größten Hilfsorganisationen im Land, dem Norwegischen Flüchtlings-Rat (NRC).

Seine Liste sieht so aus: Sehr viel mehr Afghanen als erwartet – 580.000 Menschen - seien in diesem Jahr vom Krieg aus ihren Dörfern vertrieben worden und nun im eigenen Land auf der Flucht. «Sie haben oft kein Dach über dem Kopf, wenig Essen, kaum Zugang zu Kliniken oder Schulen für die Kinder», sagt Carter. Zu Anfang des Jahres hätten die UN noch mit 250.000 Kriegsvertriebenen gerechnet.

Dazu kam, dass seit Januar unerwartet mehr als 670.000 Afghanen aus Pakistan zurückgekehrt sind. Die Spannungen waren zu groß geworden zwischen den verfeindeten Nachbarn, und die Afghanen, die nach der Flucht vor den Kriegen der 1980er und 1990er Jahre oft Jahrzehnte in Pakistan gelebt hatten, fanden sich plötzlich in Afghanistan in Krieg und Kälte wieder - oft ohne Haus, Feuerholz oder Einkommen. Teilweise gilt das für die Rückkehrer aus dem Iran: Denn auch der wirft afghanische Flüchtlinge hinaus. Rund 410 000 waren es bisher.

Mehr als eine Million Menschen in Not sind so plötzlich in diesem Jahr auf dem Radar der Nothelfer aufgetaucht - zusätzlich zu den 8,1 Millionen Menschen, die die UN noch im Januar als hilfsbedürftig eingestuft hatten. Die Vertriebenen sind die größte Gruppe.

«Am schlimmsten betroffen sind da die Kinder», sagt Danielle Moylan von der UN-Koordinierungsstelle für die Nothilfe, OCHA. «Sie machen die Hälfte dieser Menschen aus.» Um 15 Prozent ist die Zahl im Krieg getöteten oder verletzten Kinder dies Jahr gestiegen. Aber sehr viel mehr Kinder stürben, weil es kalt ist und sie krank werden, weil sie mit Fäkalien verseuchtes Wasser trinken oder nicht genug zu essen bekommen. Eine Million Kinder sind mittlerweile unterernährt, heißt es in einem Bulletin der UN. Mehr als 125.000 afghanische Kinder stürben allein in diesem Jahr daran. Vor allem unter jenen in Flüchtlingslagern habe die Unterernährung Notstandsniveau erreicht.

Weil die Krisen so unerwartet zugeschlagen haben und so groß wurden, ist den Helfern das Geld knapp geworden. Beim NRC überlegten sie nun, ob sie im kommenden Jahr alle zehn Provinzbüros offenhalten können, sagt Will Carter. Die UN mussten im Herbst einen Notruf um zusätzliche 152 Millionen Dollar absetzen. Andere Krisen, wie die in Syrien oder im Irak, haben das Spendenvolumen für Afghanistan deutlich verringert, während der Konflikt sich stetig verschärft.

Sia und seinen acht Kinder hat bisher noch niemand Hilfe angeboten. Tag für Tag steht Sia auf dem Gemüsemarkt, mit einer Schubkarre und wartet auf Arbeit. Manchmal verdient er ein paar Afghani. Nur eines seiner Kinder hat eine Jacke. Ein anderes hustet heftig. (dpa)