Was der Konjunktiv aus den Menschen macht

Kein Pazifismus, aber Verhandlungsfähigkeit: Warum der israelische Schriftsteller David Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, erklärt Lothar Müller.

David Grossman; Foto: dpa
David Grossman setzt sich aktiv für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Dieses Engagement wurde bei der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausdrücklich gewürdigt.

​​ Selten dürfte in der Geschichte des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein Preisträger gekürt worden sein, dessen Herkunftsland weiter vom Frieden entfernt war, als es derzeit Israel ist, die Heimat des Schriftstellers David Grossman.

Ausdrücklich hat ihm der Börsenverein die Auszeichnung verliehen, weil er sich "aktiv für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt".

Und natürlich verknüpft sich mit dieser Wahl die Erwartung, dass David Grossman in der Frankfurter Paulskirche wiederholen wird, was er seit Jahren in Zeitungsartikeln und Interviews immer wieder über die einzig mögliche friedliche Zukunft seine Landes gesagt hat: dass sie nur im Rahmen einer Zweistaatenlösung möglich sein wird; dass Israel Land gegen Frieden tauschen und über 100 000 Siedler wird umsiedeln müssen; dass Jerusalem, seine Geburtsstadt, geteilt werden wird und die palästinensischen Flüchtlinge nach Palästina werden zurückkehren können.

Ja, David Grossman hat eben erst die israelische Militäraktion gegen die Schiffe, die vergeblich die Gaza-Blockade durchbrechen wollten, als "Torheit" und "Verbrechen" kritisiert. Aber er hat dabei die Erklärungen einiger "Friedensaktivisten" unter den Passagieren, in denen von der Zerstörung Israels die Rede war, nicht unerwähnt gelassen. Er hat nur hinzugefügt: "Meinungsäußerungen solcher Art werden, soweit bekannt, noch nicht mit dem Tod bestraft."

Die höchsten Standards

In diesem sehr kühl, sehr lapidar formulierten Satz steckt ein Grundmotiv der politischen Essayistik von David Grossman. Er misst Israel stets an den höchsten Standards, an denen der Demokratie, des Rechtsstaates und des Völkerrechts. Aber wie streng er dabei auch gelegentlich klingt, stets gilt dabei: Dies ist der Staat, in dem ich leben will.

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren, sein Vater war 1936 als Auswandererkind ins damalige Palästina gekommen, seine Mutter bereits dort geboren, als Kind einer aus Polen stammenden Familie. Der Holocaust in der Herkunftswelt der Eltern und Großeltern gehört zum a priori im literarischen wie im publizistisch-politischen Werk David Grossmans.

In dem Roman "Stichwort: Liebe" (1986, dt. 1991) ist einer der vielen Heranwachsenden, die durch seine Bücher ziehen, von Erwachsenen umgeben, die Tätowierungen tragen und in deren dem Kind oft unverständlichen Reden das Wort "Nazi-Bestie" alle anderen an der Leine zu führen scheint.

Es ist überaus charakteristisch, wie Grossman mit diesem Wort verfährt. Er macht es zum Sprachspiel des Kindes, das sich vorstellt, eine solche Bestie im Keller zu züchten, er macht die in der Vorstellung wuchernde Bestie zu etwas, in das man hineinschlüpfen kann, um zu erkunden, wie sie von innen aussieht. Er lässt das Kind zu einem Schriftsteller heranwachsen, der den Schattenriss des Holocaust aus der Perspektive der Nachgeborenen zeichnen will.

​​ Wortspiele tauchen im erzählerischen Werk David Grossmans immer wieder auf, wenn vom Hereinwachsen in die Welt die Rede ist, so auch in dem großen Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" (2008, dt. 2009), der nun in der Begründung für den Friedenspreis ausdrücklich als "Hauptwerk" gewürdigt wird.

Auch hier erprobt ein Kind, was man mit Worten alles machen kann, im Guten wie im Bösen. Dieses Kind, ein künftiger Soldat, gewinnt Gestalt in den Erinnerungen seiner Mutter. Sein Heranwachsen wird von ihr erzählt, während sie auf der Flucht ist, auf der Wanderung durch den Norden Israels, durch Galiläa.

Sie ist die Titelheldin des Romans, und die Nachricht, vor der sie flieht, ist eine Todesnachricht. Sie macht sich unerreichbar für den Fall, dass jemand ihr mitteilen will, ihr Sohn, der sich freiwillig für einen Sondereinsatz gegen palästinensische Terroristen gemeldet hatte, sei gefallen. Es ist kein Trick der Spannungserzeugung, dass David Grossman bis zum Ende im Unklaren lässt, ob diese Nachricht eintrifft.

Kunstvoll unreglementiert

Denn es geht ihm gerade um ihren Konjunktiv und was dieser Konjunktiv - dass die Nachricht eintreffen könnte - aus den Menschen macht. An diesen Menschen aber fällt wie an allen Romanfiguren Grossmans eines sofort auf: dass der Erzähler sie so ausführlich in direkter Rede zu Wort kommen lässt, in Dialogen wie in Monologen.
Dieses kunstvoll unreglementierte Sprechen ist - wie das Spielen mit den Worten - das vielleicht wichtigste Scharnier zwischen dem literarischen Werk und den politischen Überzeugungen des Schriftstellers David Grossman.

Es nimmt den verzweifelten Monolog eines Soldaten, der im Jom-Kippur-Krieg 1973 auf dem Sinai als Überlebender inmitten toter Kameraden in sein Funkgerät spricht, ebenso in sich auf wie die Phantasie der Mutter, der beim Zwiebelschneiden die Vorstellung durch den Kopf geht, Araber zu zerschneiden. Es könnte der palästinensische Taxifahrer darunter sein, der sie und ihren Sohn zur Sammelstelle der Sondereinheit zur Terroristenbekämpfung gebracht hat.

Als ein roter Faden zieht sich durch David Grossmans Essayistik von der Reportagensammlung "Der gelbe Wind" (1987), Frucht einer Reise ins Westjordanland, bis zu den Bänden "Diesen Krieg kann keiner gewinnen" (2003) und "Die Kraft der Korrektur" (2005) die Sorge um das sprachliche Fundament der Zivilgesellschaft: die zivile Sprache.

Das ist, wohlgemerkt, bei Grossman nicht die Sprache des Pazifismus. Das Israel, in dem er leben will, braucht eine starke Armee. Aber es ist die Sprache der Verhandlungsfähigkeit, die Sprache, in der auch mit dem Feind, der Hamas, gesprochen werden kann.

Was immer er schreibt, verfasst der Autor David Grossman als Anwalt dieser Sprache. Seine Sprachkritik ist, in eine Formel gefasst, Kritik der Unterordnung der Sprache unter die Interessen des Staates, und seien es auch die des geliebten, gefährdeten Staates Israel. Israel, so sein Credo, ist dann gefährdet, wenn es nur noch Staat ist, wenn es ihm angesichts des Konfliktes mit den Palästinensern die zivile Sprache verschlägt.

Der Autor hat sich geändert

Den Figuren im Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" geben die Kriege das genealogische Gerüst, immer neue junge Menschen erleben den Sechstagekrieg 1967, den Jom-Kippur-Krieg 1973, die Intifadas, bis hin zum Libanon-Krieg 2006, in dem David Grossman seinen Sohn Uri verloren hat, wenige Stunden vor Kriegsende, wenige Tage, nachdem er selbst einen Aufruf zum Waffenstillstand unterzeichnet hatte. Da war der Roman noch nicht fertig, und auf die Frage, ob er ihn danach habe ändern müssen, antwortete Grossman: Nein, nicht der Roman hat sich geändert, sondern sein Autor.

Uri Grossman; Foto: AP/Israeli Defense Force/HO
Schwerer Schicksalsschlag: Grossmans Sohn Uri starb in den letzten Tagen des Libanonkrieges 2006, nur wenige Tage nachdem sein Vater einen Aufruf zum Waffenstillstand unterzeichnet hatte.

​​ Dieser Autor ist ein regelmäßiger, wenn auch säkularer Bibelleser. Er liest sie nicht als Offenbarung Gottes, sondern als Grundbuch seines Volkes. Vor einigen Jahren hat er in dem Buch "Löwenhonig" (2006) die Geschichte von Samson neu gelesen.

Samson hat wie viele große Helden eine Schwäche, so wie Achilles seine Ferse und Siegfried seine Schulter. Wer ihm seine Locken abschneidet, nimmt ihm die Kraft. Grossman las den Bibeltext so, wie einst Albert Camus den Mythos von Sisyphos las: um den Helden gegen die Macht des Gottes in Schutz zu nehmen. Wir müssen uns, sagte er, Samson als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Seine Schwäche war die ihm auferlegte Stärke, der er nicht gewachsen war.

Das war eine vereinfachende Lektüre. Aber die Sorge, aus der sie entstand, ließ sich nicht überlesen. Nichts wünscht David Grossman mehr, als dass Israel ewig existiert. Nichts fürchtet er mehr, als dass es zugrundegeht. Und weil er die alten Mythen kennt, schließt dies die Furcht ein, dass Israel zu seinem Untergang durch die Art und Weise beitragen könnte, in der es versucht, ihn zu verhindern.

Wir gratulieren David Grossman zum wohlverdienten Friedenspreis .

Lothar Müller

© Süddeutsche Zeitung 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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