Hommage an ein vergessenes Volk

Bildband, historisches Dokument und ethnografische Nachhilfe in einem: Magnum-Fotografin Susan Meiselas hat jetzt ein umfassendes Werk vorgelegt, das dem Leser verschiedenste Aspekte kurdischer Geschichte und Kultur näher bringt. Von Élena-S. Eilmes

Bildband, historisches Dokument und ethnografische Nachhilfe in einem: Magnum-Fotografin Susan Meiselas hat unter Mitarbeit des renommierten Kurdologen Martin van Bruinessen ein umfassendes Werk vorgelegt, das dem Leser verschiedenste Aspekte kurdischer Geschichte und Kultur näher bringt. Élena-S. Eilmes stellt den Bildband vor.

​​ Die Kurden sind das weltweit größte Volk ohne eigenen Staat.

Ihr Siedlungsgebiet verteilt sich auf Iran, Irak, die Türkei und Syrien, mit kleineren Siedlungen im Libanon und dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Entsprechend bewegt ist ihre Geschichte, bunt ihr kulturelles Erbe. Susan Meiselas' Bildband, ein großformatiges, schweres und in Leinen gebundenes Buch, eröffnet sowohl dem Leser als auch dem Betrachter einen gänzlich neuen Einblick in die wechselvolle kurdische Geschichte der letzten 120 Jahre.

Facettenreiche historische Reise

Auf knapp 400 Seiten, unterteilt in sechs umfangreiche Kapitel, spannt Meiselas den Bogen von der Situation der Kurden kurz vor dem Ersten Weltkrieg über die darauf folgende Aufteilung des Nahen Ostens, die Islamische Revolution im Iran, die Militärputsche in der Türkei bis hin zu den Giftgasattacken unter dem irakischen Regime Saddam Husseins gegen Ende des Ersten Golfkriegs, denen tausende Kurden zum Opfer fielen.

Den drei Staaten, die das Hauptsiedlungsgebiet der Kurden ausmachen – nämlich die Türkei, Iran und Irak, wird gleich viel Aufmerksamkeit gewidmet.

​​ Die kurdischen Aufstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Türkei werden ebenso behandelt wie die Gründung und der Zerfall des bisher einzigen kurdischen Nationalstaats, der 1946 im Iran gegründeten "Republik Mahabad", und die aktuelle Situation im Nordirak, wo die von der UNO 1991 eingerichtete Sicherheitszone unter kurdischer Selbstverwaltung heute eine Quasi-Staatlichkeit ermöglicht.

Meiselas versäumt auch nicht, berühmte kurdische Persönlichkeiten vorzustellen, sei es Ali Agha, Oberhaupt des Dêbokri-Clans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem der persische Schah einen Titel verlieh.

Oder etwa Leyla Zana, die mit einem ehemaligen Bürgermeister der Stadt Diyarbakir verheiratete politische Aktivistin, die bereits zweimal für den Friedensnobelpreis nominiert worden war und derzeit eine Haftstrafe in einem türkischen Gefängnis verbüßt.

Interviews mit modernen Zeitzeugen

Meiselas hat in mühsamer Kleinarbeit historische Fotografien und Texte zusammengetragen. Die vielen Schwarzweißfotografien und handkolorierten Bilder werden ergänzt durch ihre eigenen Aufnahmen, die 1991 und später im Nordirak entstanden, wo sie unter anderem die Öffnung von Massengräbern fotografisch dokumentierte.

Historisches Kerngebiet der Kurden; Foto: GNU/DW
Die historischen Kerngebiete der ethnischen Minderheit der Kurden konzentrieren sich auf den heutigen Iran, Irak, Syrien und die Türkei

​​ Neben kurzen Interviews mit modernen Zeitzeugen verlässt sie sich in großen Teilen des Buches auf Tagebuchnotizen und Artikel früherer Reisender – Abenteurer wie Freya Stark, Missionare, Ingenieure und Ärzte, die es in kurdisches Siedlungsgebiet verschlagen hatte.

Die Kurden besitzen kein nationales Archiv – und überhaupt nur wenig Mittel und Sicherheiten, um Archive und Bibliotheken zu unterhalten. So kommt es, dass ein Großteil historischer Dokumente und Fotografien nicht etwa im kurdischen Siedlungsgebiet, sondern im Westen, in Universitäten und Privatsammlungen, erhalten geblieben ist.

Susan Meiselas' unermüdliche Suche hat sie auch hier fündig werden lassen, und so hat sie ihrem Werk diverse Zeitdokumente hinzufügen können.

Liebe fürs Detail

Auf jeder Seite spürt man die Liebe fürs Detail und das Engagement, die in dieses Projekt geflossen sind, was sich an vielen Kleinigkeiten bemerkbar macht. So ist beispielsweise die Einleitung im Anhang ins Türkische übersetzt worden sowie auch ins Soranî, eine zentralkurdische Sprache, die überwiegend im Iran und Nordirak gesprochen wird.

"Kurdistan: In the Shadow of History" ist nicht nur eine dekorative Augenweide, sondern darüber hinaus auch höchst informativ, da das Buch Zusammenhänge aufzeigt, die nicht nur das kurdische Volk, sondern den gesamten Nahen Osten betreffen.

Élena-S. Eilmes

© Qantara.de 2009

Susan Meiselas studierte visuelle Kommunikation in Harvard und hat sich seitdem als Fotografin einen Namen gemacht. Seit 1976 ist sie Mitglied der berühmten Fotoagentur "Magnum". Sie hat bereits mehrere Fotobände veröffentlicht. Ihre umfangreiche Sammlung historischer Fotografien und Dokumente mündete schließlich in der Veröffentlichung von "Kurdistan: In the Shadow of History".

Meiselas, Susan: Kurdistan: In the Shadow of History; University of Chicago Press, 2008

Qantara.de

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