"Wir haben zu wenig Einbürgerung"

Nicht der Migrationshintergrund ist die Ursache von Gewalt an Schulen, sondern die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, so Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration in Nordrhein-Westfalen. Mit ihm sprach Petra Tabeling.

Nicht der Migrationshintergrund ist die Ursache von Gewalt an Schulen, sondern die Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, so Armin Laschet, Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration in Nordrhein-Westfalen. Petra Tabeling sprach mit ihm über die Ereignisse an der Rütli-Schule in Berlin, über Zuwanderung und ein geplantes "Kopftuchverbot" an Schulen.

Armin Laschet; Foto: www.mgffi.nrw.de
Armin Laschet: "Integration hat zum Ziel, die Menschen, die bei uns leben, zu gleichberechtigten Teilhabern in unserer Gesellschaft zu machen.

​​NRW-Ministerpräsident Rüttgers hat in seiner Regierungserklärung im vergangenen Jahr den Fortbestand des dreigliedrigen Schulsystems angekündigt, will aber auch keine Restschule. Wie kann sich denn die Hauptschule, nach den aktuellen Ereignissen, noch als Schulform bewähren?

Armin Laschet: Die Diskussion um die Rütli-Schule in Berlin war von einigen Seiten her wenig sachgerecht. An dem Wochenende danach wusste auf einmal jeder, was nun alles zu passieren hat. Da finde ich die Forderung, dass man alle Schüler, die Probleme machen, abschieben soll, genauso falsch wie gleich eine grundsätzliche Debatte über das Schulsystem zu starten. Gewalt gibt es an vielen Schulen, nicht nur an der Hauptschule. Es käme niemand auf die Idee, den Erfurter Amokläufer mit dem Gymnasium in Verbindung zu bringen.

Unser Ansatz ist es, die Hauptschule besser zu machen. Und deshalb haben wir ein neues Schulgesetz im Landtag erörtert. Wir wollen keine neue Schuldebatte starten. Diesen Streit haben wir seit Jahrzehnten schon geführt. Man muss jetzt die Bildungsergebnisse verbessern. Es gibt zu wenige Ganztagsschulen unter den Hauptschulen, weil die bisher auf die Gesamtschulen konzentriert waren.

Deshalb hat sich die Schulministerin zum Ziel gesetzt, mehr Lehrer in die Hauptschule zu bringen, mehr Ganztagsangebote und auch andere Hilfen wie Sozialpädagogen anzubieten, um die Hauptschule eben nicht zur Restschule zu machen, sondern sie zu der Schule zu machen, in der praktische Begabungen stärker gefördert werden.

Und welche Begabungen könnten das Ihrer Meinung nach sein, vor allem für Schüler mit Migrationshintergrund?

Laschet: Das, was sich in Berlin ereignet hat, ist kein Problem von Zuwanderung, sondern es ist ein Problem von Perspektivlosigkeit. Wenn die Jugendlichen keine Perspektive für sich sehen, greifen sie unter Umständen zu Gewalt und zu anderen Formen des Protestes. Es gibt auch unter deutschen Schülern Gewalt.

Deshalb ist entscheidend: Kann man mit einem guten Hauptschulabschluss eine Chance haben, einen Ausbildungsplatz zu finden und ins Berufsleben einzusteigen? Ich glaube, da müssen wir ansetzen: Auch denjenigen mit praktischen Begabungen die Möglichkeit geben, einen Einstieg in die Arbeitswelt zu finden. Und da sind die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern gleichermaßen gefordert wie die Politik.

Sie haben gesagt, dass die Debatte um die Integrationspolitik nicht sachgerecht geführt wird. Wie erklären Sie sich das?

Laschet: Zum einen ist es ein ungewöhnlicher Vorgang, wenn eine ganze Lehrerschaft sagt: "Lasst uns die Schule schließen". Das habe ich noch nicht erlebt. Da ist meines Erachtens viel zu spät von der Berliner Senatsverwaltung reagiert worden. Solche Frustration der Lehrer muss man vorher bemerken. Das ist das eine.

Das andere ist, dass beim Thema Integration eine solche Sensibilität in den letzten Monaten entstanden ist, dass irgendwo etwas passiert und gleich von überall her plötzlich tausende Vorschläge kommen. Ob das der Karikaturenstreit in Dänemark ist, die Fragebögen oder die Hoover-Schule, die nichts anderes gemacht hat, als sich darauf zu verständigen, Deutsch in der Pause zu sprechen. Schon diskutiert die ganze Republik darüber.

Das ist eine Medienaufmerksamkeit, die der Sache vielleicht insofern nützt, als damit Integrationspolitik ernst genommen wird. Nur, das vergeht auch wieder in den Medien. Wichtiger ist, dass man dies kontinuierlich thematisiert und nicht erst, wenn wieder irgendwo etwas passiert ist, darüber diskutiert wird.

Sie haben in Interviews gesagt, Deutschland brauche Zuwanderung. Ein Standpunkt, der nicht unbedingt von anderen CDU-Parteikollegen unterstützt wird. Wie meinen Sie, können Sie diesen Gedanken in NRW umsetzen und Einfluss auf bundespolitischer Ebene nehmen?

Laschet: Bisher hat mich noch niemand in meiner Partei dafür kritisiert. Ich habe aber gesagt, wir brauchen mehr 'Einbürgerung', das ist etwas anderes als mehr 'Zuwanderung'. Die Zahl der Einbürgerungen geht zurück, und wir haben in der Fragebogendebatte so diskutiert, als hätten wir zu viele Einbürgerungen und müssten mit Fragebögen die richtigen noch herausfiltern. Die Realität ist: Wir haben zu wenig Einbürgerung. Und es bleiben zu viele in der Parallelgesellschaft und sagen nicht: "Ich bin bereit, Deutscher zu werden".

Das Zweite ist, dass man sich vom Zuwanderungsgesetz erhofft hatte, dass man die Besten der Welt gewinnt, dass die nach Deutschland kommen und hier auch arbeiten und unsere demografische Entwicklung abmildern. Da kann man vom Ergebnis her sagen, es kommen zu wenig. Die Menschen gehen lieber in die USA oder nach Großbritannien, sie kommen nicht nach Deutschland. Und insofern wird man beim Zuwanderungsgesetz in diesem Jahr sehen müssen, wo wir nachsteuern müssen.

Sie sind auch Vorsitzender des Bundesfachausschusses Internationale Zusammenarbeit und Menschenrechte. Wäre es denn nicht denkbar, in Deutschland geduldete Flüchtlinge (wie das Beispiel Spanien zeigt), anzuerkennen und einzubürgern? Immerhin erhalten nur zwei Prozent ein Bleiberecht in Deutschland ...

Laschet: Das ist eine Diskussion, die bereits stattfindet. Wir haben viele, viele Einzelfälle, wo hoch gebildete Schüler, die perfekt deutsch sprechen, kurz vor dem Abitur stehen und dann abgeschoben werden. Und andere holt man mühsam rein und bringt ihnen Deutsch bei. Da sehe ich eine gewisse Unlogik.

Und deshalb setzt sich Nordrhein-Westfalen für eine Bleiberechtslösung ein. Der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat ebenfalls angekündigt, dass er das zum Thema machen will. Ich glaube, in dieser Frage und im Amt wird er flexibler sein als sein Vorgänger. Ich hoffe, dass wir dieses Jahr eine Bleiberechtsregelung bekommen.

Was verstehen Sie unter einer "ernster gemeinten Integrationspolitik" - jenseits von einer Deutschpflicht auf dem Schulhof, Leitkulturdebatten und Fragebögen?

Laschet: Die Frage ist eher, welches Ziel hat die Integration? Integration hat zum Ziel, die Menschen, die bei uns leben, zu gleichberechtigten Teilhabern in unserer Gesellschaft zu machen. Sie müssen nicht alle deutsche Staatsbürger werden. Sie sollten aber die gleichen Chancen haben, hier zu arbeiten, einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt zu leisten und mitzuwirken in dieser Gesellschaft.

Integration ist, wenn sie nicht in Parallelgesellschaften verbleiben, sondern mit Kontakten zur Mehrheitsgesellschaft ihre kulturellen Eigenheiten pflegen, auch ihre Sprache pflegen, aber trotzdem nicht abgesondert sind.

Integrationspolitik versucht, dies zu stützen. Ministerpräsident Rüttgers hat in der Regierungserklärung gesagt: "An der Integrationspolitik entscheidet sich der Zusammenhalt der Gesellschaft." Wenn 25 Prozent der Menschen in Nordrhein-Westfalen Zuwandergeschichte haben, und sich nicht mit den 75 Prozent in eine gemeinsame Gesellschaft begeben, dann kann es jederzeit zu Ausbrüchen kommen, zu Gewalt, wie in Berlin oder in Frankreich. Man muss Integration zur Querschnittsaufgabe jeder Regierung machen.

Warum braucht NRW ein Kopftuchverbot? Wie sinnvoll kann ein Verbot sein, das nur eine Minderheit betrifft?

Laschet: Das ist ein Gesetzesvorschlag der Koalitionsfraktionen. Ich halte es für richtig, dass man deutlich macht, dass wir von einer Lehrerin eine besondere Neutralitätspflicht erwarten. Wenn fünf Mädchen in der Klasse sind und drei tragen Kopftuch und zwei nicht, ist häufig auf diejenigen der Druck groß, die es nicht tragen. Die Lehrerin hat da eine Vorbildfunktion.

Insofern finde ich es durchaus vertretbar, dass man ein Gesetz macht, das diese Neutralitätspflicht des Lehrers festschreibt. Es geht nur um Lehrerinnen und nicht um den öffentlichen Dienst. Es geht schlichtweg um die Frage: Hat eine Lehrerin eine besondere Neutralitätspflicht? Ein Lehrer oder eine Lehrerin dürfte nicht mal einen Sticker mit Angela Merkel tragen, weil er die Neutralität damit verletzen würde.

Mir hat Alice Schwarzer einmal gesagt, sie würde sich sogar wünschen, dass das Kopftuchgesetz ausgedehnt wird auch auf Schülerinnen, um Mädchen den Freiraum zu geben, selbst irgendwann zu entscheiden: will ich es tragen oder nicht. Die Tendenz, dass das Kopftuch immer früher getragen wird - inzwischen von sieben- oder achtjährigen Mädchen - hat es vor zehn oder zwanzig Jahren so noch nicht geben. Ich glaube, da kollidieren Frauenrechte mit kulturellen Traditionen, die nicht unbedingt religiös begründet sind.

Wie wichtig ist Ihnen der Dialog und die Kooperation mit Verbänden wie dem Zentralrat der Muslime, DITIB und ähnlichen Einrichtungen? Fordern Sie einen gemeinsamen Dachverband als Ansprechpartner? Die Unionsfraktion im Bundestag bekundete kürzlich, dass sie unter muslimischen Verbänden in Deutschland derzeit keine geeigneten Ansprechpartner für den Staat sehe.

Laschet: Wir haben uns zum Ziel gesetzt, dass wir den Religionsunterricht einführen. Aber im Moment fehlt uns der Ansprechpartner, mit dem wir verbindlich über Lehrinhalte sprechen können. Insofern ist unsere Aufforderung an die Verbände, sich auf eine einheitliche Vertretung zu einigen. Das ist nicht so einfach. Es gibt z.B. DITIB, die sehr eng an den türkischen Staat geknüpft sind, die eigentlich ein guter Ansprechpartner wären, aber wir können nicht mit einem anderen Staat über Religionsunterricht bei uns in Deutschland sprechen.

Ich glaube aber, dass wir langfristig zu einer Lösung kommen. Wir haben insgesamt eine große Chance, dass Integration gelingt. Die türkischen Muslime, die bei uns leben, kennen die Trennung von Staat und Religion und sind vielleicht eher mit der westlichen Welt versöhnt als manch andere.

Interview: Petra Tabeling

© Qantara.de 2006

Qantara.de

Bildungschancen für Migranten
Generation Null?
Viele Jugendliche aus Migratentenfamilien haben keinen Schulabschluss. Ein Ausbildungs- oder Arbeitsplatz rückt damit für sie in weite Ferne. Über die Hintergründe berichtet Petra Tabeling.

Integrationsdebatte in Europa
Liberales Selbstdementi
In den Einbürgerungstests, die von Stuttgart bis Wien, von Den Haag bis Frankfurt groß in Mode sind, wird eine Laissez-Faire-Kultur postuliert – und ihr Gegenteil vollzogen, meint Robert Misik in seinem Kommentar.

Muslime in Deutschland
Integration bedeutet nicht Assimilation
Experten beklagen, dass Integrationsfortschritte von Muslimen in Deutschland kaum wahrgenommen würden. Stattdessen überwiegen in Medien und Öffentlichkeit Negativbilder von Migranten-Ghettos oder schlechten schulischen Leistungen türkischer Kinder. Vedat Acikgöz berichtet

www