Ein hundertjähriger Waffenstillstand unter Feinden

Auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin erklärte jüngst der israelische Historiker und Journalist Tom Segev, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung viel pragmatischer im Umgang mit der Hamas sei als ihre derzeitige Staatsführung. Von Ariana Mirza

Tom Segev; Foto: Stephan Schmidt
Mit Glück könne man durch Verhandlungen zumindest ein Ende des Terrors erreicht werden, meint der Historiker und Journalist Tom Segev. (Foto: Stephan Schmidt)

​​Als Tom Segev seine historischen Forschungen begann, beherrschten zionistische Heldenlegenden die Geschichtsschreibung in Israel. Gemeinsam mit anderen so genannten "neuen Historikern" recherchierte Segev ab Mitte der 80er Jahre in den Archiven des jungen Staates und stieß dort auf Dokumente, die teils unbequeme Fakten zutage brachten.

Nicht nur die Vertreibung von Teilen der arabischen Bevölkerung aus Palästina wurde nun erstmals wissenschaftlich untersucht. Die "neuen Historiker" entzauberten auch etliche Mythen der Staatsgründung und zeichneten ein differenziertes Bild der damaligen politischen und militärischen Strategien.

In seinem 1986 veröffentlichten Buch "Die ersten Israelis", das nun erstmals auf Deutsch erschienen ist, korrigiert Segev unter anderem das Zerrbild, im jungen Staat Israel seien alle Juden gleichermaßen willkommen gewesen.

Er verweist hierbei auf Dokumente, die belegen, dass jemenitische Juden in Zeltlagern ausharren mussten, derweil polnische Juden vorzugsweise in Wohnungen geflüchteter Araber oder sogar in Hotels untergebracht wurden.

Rückkehrmythen

Auch den Mythos der freiwilligen, gar freudigen, Rückkehr nach 2000 Jahren Diaspora relativiert Segevs Forschung. "Die meisten der ersten Israelis wollten gar nicht nach Palästina." Den jüdischen Opfern von Pogromen und Verfolgungen sei einfach kein anderer Ausweg geblieben, als die Emigration nach Palästina oder später nach Israel, heißt es in Segevs Buch.

"Es ist gesünder, wenn man weiß, wie es wirklich war, als Legenden nachzuhängen", lautet das Credo des Historikers. Seit er und seine Mitstreiter ein neues Geschichtsbewusstsein in Israel etablieren wollten, sind zwei Jahrzehnte vergangen.

​​Dadurch dass in den 90er Jahren Fernsehsendungen die Ergebnisse der Recherchen aufgriffen, fanden die Erkenntnisse der "neuen Historiker" mittlerweile auch Eingang in israelische Schulbücher.

"Was im Fernsehen gezeigt wird, hat mehr Gewicht als das geschriebene Wort", meint Segev nicht ohne Schmunzeln. Der 62jährige Sohn deutscher Emigranten, die 1935 vor den Nazis nach Palästina flüchten mussten, hat seinen Humor bewahrt. Und dies, obwohl so vieles, was er und andere israelische Intellektuelle sich in den vergangenen Jahrzehnten erhofften, nicht eingetreten ist.

Ein dauerhafter Frieden in der Region scheint derzeit unvorstellbar, die Zwei-Staaten-Lösung ist in Ferne gerückt. Ebenso wie große Teile der israelischen Bevölkerung ist auch Segev enttäuscht von der Entwicklung seit der Räumung des Gazastreifens. "Ich bin heute viel zurückhaltender in meinen Erwartungen als vor 20 Jahren."

Zermürbender Terror und Hass

Dass die Fronten sich eher verhärten als aufweichen werden, ist nach Segevs Auffassung nach auch im Alltag spürbar. In Israel, berichtet der Haaretz-Journalist, werde es mittlerweile als legitim empfunden, die Palästinenser zu hassen.

Der zermürbende Terror, der keineswegs den Staat Israel, dafür aber tagtäglich den Einzelnen bedrohe, habe diesen persönlichen Hass großer Teile der jüdischen Bevölkerung auf alles Arabische genährt.

Andererseits, so Segev, seien die israelischen Bürger sehr viel pragmatischer als ihre derzeitige Staatsführung. "Ebenso wie ich selbst sind rund 70 Prozent der Bevölkerung für Gespräche mit der Hamas."

Wenn man Glück habe, könne durch Verhandlungen zumindest ein Ende des Terrors erreicht werden, so Segev. Seinen Informationen zufolge widerspräche ein "hundertjähriger Waffenstillstand unter Feinden" auch keineswegs islamischen Traditionen.

Um diese bescheidene Vorstufe eines Friedens zu erreichen, bedürfe es aber eines besseren "Konfliktmanagements" als beide Seiten ihn zurzeit böten.

Ariana Mirza

© Qantara.de 2008

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