"Besser miese Wahrheiten als schöne Lügen"

Im Interview mit Magdalena Suerbaum spricht der israelische Pressefotograf und Kriegsberichterstatter David Rubinger über die Magie guter Bilder, die Grenzen der Pressefreiheit und die Chancen auf Frieden in Nahost.

David Rubinger; Foto: DW/ Magdalena Suerbaum
Kriege und Friedensverhandlungen, jüdische Emigranten und hochrangige Staatsmänner, Freud und Leid: David Rubinger fotorafierte alle Facetten der Geschichte des Staates Israel.

​​ David Rubinger wurde 1924 geboren und emigrierte 15 Jahre später ins britische Mandatsgebiet Palästina. Nach seiner Teilnahme am israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 begann er, als professioneller Pressefotograf für Time/Life zu arbeiten. Rubinger portraitierte dabei alle Facetten Israels: Kriege und Friedensverhandlungen, jüdische Emigranten und hochrangige Staatsmänner, Freud und Leid angesichts der Geschehnisse, die das Land im Laufe des 20. Jahrhunderts erlebte.

Herr Rubinger, Sie haben im Grunde alle wichtigen Ereignisse in der Geschichte des Staates Israel auf Ihren Fotografien festgehalten. Welches Ihrer Bilder hat sie selbst am stärksten bewegt?

David Rubinger: Das ist, als wenn man jemanden fragen würde: Welches von deinen Kindern liebst du am meisten? Das ist sehr schwer zu beantworten. Eines der Bilder, die mich wirklich stark bewegt haben, war das des ägyptischen Präsidenten Sadat, der in Tel Aviv aus dem Flugzeug stieg, weil ihm dabei die israelische Armee salutierte, obwohl Israel und Ägypten zuvor vier Kriege miteinander ausgefochten hatten. Das war schon ziemlich aufregend.

Was empfinden Sie bei Ihrem berühmtesten Bild, das Sie im Sechs-Tage-Krieg von drei israelischen Soldaten an der Jerusalemer Klagemauer schossen?

Rubinger: Das Bild vor der Klagemauer wurde eine Ikone. Alle waren damals unglaublich euphorisch. Man fragt mich oft: Hast du wirklich geweint, als du das Bild gemacht hast? Ich sage dann: Ja, ich habe geweint, aber nicht weil ich irgendwelche religiösen Beziehungen zur Klagemauer habe.

Israelische Soldaten an der Klagemauer nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967; Foto: David Rubinger/dpa
David Rubingers wohl berühmtestes Foto: Israelische Soldaten erobern zum Ende des Sechs-Tage-Krieges 1967 die Klagemauer zurück.

​​Wir haben vor dem Sechs-Tage-Krieg drei Wochen lang in Todesangst gelebt. Wir waren überzeugt, dass wir Tausende von Menschen in diesem Krieg verlieren würden. Und dann war es nach sechs Tagen plötzlich vorbei und das auch noch mit einem totalen Sieg.

Da verfielen wir in eine Euphorie, die man nur damit vergleichen kann, wenn man zum Tode verurteilt am Strang steht, der Strick schon um den Hals liegt, und dann kommt plötzlich jemand und sagt: "Wir hängen dich heute nicht auf, stattdessen machen wir dich zum König!" Da wird man verrückt!

War Ihnen damals schon bewusst, was Sie mit diesem Bild auslösen würden?

Rubinger: Überhaupt nicht. Bis heute denke ich, dass das kein großartiges Foto ist. Ein ziemlich banales Foto, würde ich beinahe sagen. Aber die Ikone wird ja nicht vom Fotografen geschaffen, sondern vom Betrachter.

Die Menschen sehen in einem Foto etwas, was sie gerne darin sehen möchten. Ich dachte, ich hätte zehn Minuten später ein viel besseres Foto gemacht, als nämlich der Chefrabbiner der israelischen Streitkräfte mit den Thora-Rollen in der Hand in das Ramshorn blies und dabei von den Soldaten auf den Schultern getragen wurde. Ich dachte, das wäre das Bild.

Der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat steigt am 22. November 1977 in Tel Aviv aus dem Flugzeug; Foto: David Rubinger
"Eines der Bilder, die mich wirklich stark bewegt haben, war das des ägyptischen Präsidenten Sadat, der in Tel Aviv aus dem Flugzeug stieg, weil ihm dabei die israelische Armee salutierte, obwohl Israel und Ägypten zuvor vier Kriege miteinander ausgefochten hatten", sagt Rubinger.

​​Aber ich kam dann nach Haus, um die Filme zu entwickeln, und meine Frau zeigte auf das andere Foto: "Schau mal, das ist ein schönes Bild." Ich sagte: "Das ist doch gar nichts, nur drei Soldaten, die da stehen." Dann habe ich von den drei Negativen, die beinahe identisch sind, eines runtergeschnitten.

Ich hatte damals bei der Armee eine privilegierte Stellung. Ich konnte überall hin, wohin ich wollte. Ich hatte Freiheiten, die nicht viele Fotografen hatten. Da habe ich mich dankbar gezeigt und eins von den drei Negativen der Armee geschenkt. Die haben es dann dem israelischen Presseamt gegeben. Das Amt wiederum hat es vervielfältigt und für etwa 50 Cent an jeden verkauft, der es wollte. Und die Leute wollten es.

Für die Agentur AP muss es das billigste Titelbild gewesen sein, das sie je gekauft hat. Und es gab Fotografen, die sich die Abzüge gekauft und hinten ihren eigenen Stempel draufgedruckt haben. Durch diesen Diebstahl wurde es in der ganzen Welt verbreitet. Wenn das nicht passiert wäre, dann wäre es auch nicht auf einer halben Seite im Time-Magazin erschienen. Das wäre das Ende gewesen, so dass ich heute allen Dieben in Dankbarkeit sehr ergeben bin.

Israelische Soldaten im Yom-Kippur-Krieg; Foto: David Rubinger.
Israelische Soldaten im Yom-Kippur-Krieg: "Es gibt kein Bild, das ein Menschenleben wert ist", sagt David Rubinger.

​​Sie haben in dieser Zeit mehrfach als Kriegsberichterstatter gearbeitet. Was war Ihre Motivation, mit in den Krieg zu ziehen und diesen zu fotografieren?

Rubinger: Was ist die Motivation eines Pressefotografen? Dabei zu sein. Es gibt kein Bild, das ein Menschenleben wert ist. Wie viele Fotografen sind umgekommen, weil sie ein Bild machen wollten in Bagdad oder irgendwo anders. Es gibt nur zwei Arten von Helden. Vollidioten und solche, die sich schämen. Ein Fotojournalist schämt sich, wenn alle anderen Journalisten da hinlaufen und er selbst nicht. Also läuft er auch hin. Das ist die ganze Motivation eines Fotografen, der in den Krieg geht und sich für ein Bild in Gefahr begibt. Aber nochmal: Es gibt kein Bild, das ein Menschenleben wert ist.

Wie ist es möglich, Fotos zu machen, wenn gleichzeitig um einen herum so viel Leid geschieht?

Rubinger: Menschen missverstehen eine Sache: Im heutigen modernen Krieg fotografiert man eigentlich nicht den Krieg selbst, sondern seine Resultate. Die Verwundeten, die Toten, die brennenden Panzer. Es gibt ja heute keinen Krieg mehr, in dem die Menschen mit Bajonetten aufeinander losgehen. Man bekommt als Fotograf an der Front eigentlich gar keine Bilder mehr. Das ist mir im Yom-Kippur-Krieg passiert, am ersten Tag, als ich ganz an der Spitze der Truppen war. Wir sind um vier Uhr nachts raus, und bis drei Uhr nachmittags habe ich kein einziges Bild gehabt, das überhaupt was wert gewesen wäre. Erst als ich vom Panzerwagen runtergestiegen und etwas hinter der Front zurückgeblieben bin. Da bekommt man dann Bilder. Die Sterbenden, die Toten, die Verbrennenden, die brennenden Panzer und die Verwundeten, die gepflegt werden. Das sind die Bilder, die man im Krieg sieht. Fliegende Kugeln lassen sich nicht fotografieren.

Wie sind Sie mit den schrecklichen Kriegsbildern umgegangen?

Rubinger: Man gewöhnt sich daran. Es klingt schrecklich hart, aber erst fotografiert man Leichen und dann geht man frühstücken oder öffnet eine Büchse Konserven. Leider muss man sich daran gewöhnen. Der Mensch könnte nicht leben, wenn er jedes Unglück an sich ran ließe. Wenn Sie heute über die Straße gehen und ein Hund wird vor ihren Augen überfahren, dann sind Sie schrecklich erregt. Können Sie sich vorstellen, genauso erregt über 10.000 Menschen zu sein, die in Darfour umkommen? Dann könnten Sie nicht leben. Man härtet ab. Aber man wird nicht gefühllos.

Wo liegt für Sie als Fotograf die Grenze der Pressefreiheit?

Bet Sche'an, im Dezember 1974; Foto: David Rubinger
Bet Sche'an, im Dezember 1974: Palästinensische Attentäter wurden, nachdem die Armee sie überwältigt hatte, von einer wütenden Menge aus dem Fenster geworfen und verbrannt.

​​Rubinger: Ganz einfach: Was ist das Recht des Publikums, zu sehen oder zu lesen? Ich glaube nicht, dass es mein Recht ist, zu sehen, wie der Popo von Frau Merkel aussieht. Das sind dann keine Fotojournalisten, das sind Paparazzi. Und da liegt der große Unterschied. Aber wenn ich sehen würde, dass Frau Merkel in einen Laden geht, etwas stiehlt und in die Tasche steckt, dann sollte ich das fotografieren, denn das muss das Publikum wissen.

Können Sie als Fotograf objektiv sein?

Rubinger: Es gibt eigentlich keine totale Objektivität. Es gibt immer Sachen, die dem Menschen näher stehen und solche, die ihm entfernter sind. Ich habe Kriege fotografiert, in die Israel nicht involviert war. Ich war bei zwei Kriegen in Zypern dabei, und das war für mich viel leichter. Ich besitze genausoviel Sympathie für die Griechen wie für die Türken.

Es ist schwerer, wenn Menschen, die dir nahe stehen, in den Krieg verwickelt sind. Aber man kann trotzdem ziemlich objektiv sein. Mir zu sagen: Das Bild mach ich nicht, weil Israel da nicht gut wegkommt, das ist mir nie passiert.

Man hat mir manchmal vorgeworfen: Wie konntest du so was fotografieren? Das lässt Israel doch in der Welt ganz schlecht da stehen. Und da habe ich immer gesagt: Die schlimmste Wahrheit ist immer besser als die schönste Lüge.

Ich hatte einen Fall: Terroristen hatten ein Haus überfallen. Die israelische Armee hatte sie überwältigt, und eine aufgebrachte Menge drang in die Wohnung ein und warf die Körper aus dem Fenster. Unten stand ein wilder Mob und steckte die Köper in Brand. Ich habe das aus dem Fenster von oben fotografiert. Es erschien im Time-Magazin.

Ein guter Freund, ein General, sagte zu mir: Als Freund, wenn ich dich gesehen hätte, hätte ich dir die Kamera zerschlagen. Ich antwortete ihm: Ich hab das Bild gemacht, es ist die Wahrheit, keine schöne Wahrheit, aber es ist die Wahrheit. Stell dir vor, du hättest mir die Kamera zerschlagen und nachher wären in der Welt Gerüchte entstanden darüber, wie die Israelis mit den Körpern umgegangen sind. Was hättest du dann gesagt? Mit der Wahrheit kommst du immer weiter. Eine miese Wahrheit ist besser als eine schöne Lüge, und sie ist auch erfolgreicher.

Deshalb habe ich mir nie vorschreiben lassen, was ich fotografieren sollte. Wenn es Militärzensur gab, habe ich immer schwer damit gehadert.Mit Zensur hatten Sie ja in Ihrem Berufsleben mehrmals zu kämpfen. Wie stehen Sie zur Pressezensur?

Rubinger: Es muss Zensur geben. Ich kann verstehen, wenn man mir sagt: Du bist jetzt an der Front und wir bereiten einen Angriff auf eine bestimmte Position des Feindes vor. Wenn du das publizierst, bevor der Angriff beginnt, setzt du doch das Leben der angreifenden Soldaten aufs Spiel. Der Feind hört dich ja auch. In diesem Fall finde ich die Zensur nötig. Bis dahin erlaube ich Zensur.

Häuserkampf in Beirut 1982; Foto: David Rubinger
Häuserkampf in Beirut 1982: "Ein kalter Frieden ist mir zehnmal lieber als ein warmer Krieg", sagt Rubinger.

​​ Die Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern sind wieder einmal ins Stocken geraten. Sie haben den Kampf zwischen beiden Völkern seit der Staatsgründung Israels miterlebt. Kann es einen Frieden zwischen Israel und Palästina geben?

Rubinger: Ein umfassender Frieden kann in diesem Moment wahrscheinlich nicht erreicht werden, aber eine Situation wie mit Ägypten zum Beispiel. Das ist ein Frieden. Botschafter sind ausgetauscht. Aber es ist kein warmer Frieden, wir sind keine großen Freunde. Aber ein kalter Frieden ist mir zehnmal lieber als ein warmer Krieg. Ein kalter Frieden: niemand stirbt, und es gibt keine Liebesbeziehung. Die gibt es ja sowieso nicht, es gibt nur Interessen. Und da bin ich hoffnungsvoll, dass Palästinenser und Israelis doch Fortschritte machen. Wir haben ja auch schon Fortschritte gemacht, wenn ein Premierminister, der von ganz rechts kommt, heute schon von zwei Staaten sprechen kann. Vor einigen Jahren hätte ihn seine eigene Partei rausgeschmissen, wenn er das Wort Zwei-Staaten-Lösung nur in den Mund genommen hätte. Es ist doch ein gewisser Fortschritt zu erkennen.

Wie kann man den Frieden erreichen?

Rubinger: Beide Seiten müssen vor sich selbst gerettet werden durch die Großmächte. Wir müssen gezwungen werden.

Wo sehen Sie Israel und Palästina in zehn Jahren?

Rubinger: Ich bin dann ja nicht mehr da. Aber ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass auf beiden Seiten über 80 Prozent eine Lösung wollen. Es sind nur leider die Extremen, die den Ton angeben.

Ich bin davon überzeugt: Wenn morgen ein Abkommen zwischen Israel und Palästina unterschrieben wird, wird sich übermorgen irgendein Araber in einen Bus in Tel Aviv setzen und 40 Leute töten. Genauso wie ich überzeugt bin, dass es einen Siedler geben wird, der wieder in eine Moschee gehen wird und betende Leute erschießt.

Eigentlich müssten sich die Extremisten auf beiden Seiten die Hände reichen, denn die wollen beide keine friedliche Lösung. Jeder will alles. Wenn jeder alles will, dann geht es nicht: Das Leben ist ein Kompromiss, und zwar immer! Im 21. Jahrhundert werden Probleme nicht mehr mit Gewalt gelöst. Man muss weiter denken - oder wir gehen alle zu Grunde.

Interview: Magdalena Suerbaum

© Deutsche Welle 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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