"Islam und Demokratie sind vereinbar"

Emma Bonino, Leiterin der EU-Mission zur Beobachtung der Parlamentswahlen vom 18. September in Afghanistan, ist optimistisch, dass die Demokratie im Land am Hindukusch Fortschritte macht - auch wenn der Weg dorthin noch weit erscheint.

Ist die politische Situation in Afghanistan wirklich reif für Parlamentswahlen?

Foto: Emma Bonino, &copy Emma Bonino offical website
Afghanistan ist ein Land, das trotz vieler Fortschritte von Grund auf erneuert werden muss, sagt die italienische EU-Politikerin und Leiterin der europäischen Mission zur Wahlbeobachtung in Afghanistan, Emma Bonino

​​Emma Bonino: Die Sicherheitssituation in diesem Land ist wirklich noch sehr instabil und dies beeinträchtigt natürlich auch den schwierigen Prozess der Demokratisierung. In diesem Zusammenhang sind Parlamentswahlen als erster, unvergleichlicher Schritt vorwärts zu sehen, um den Rechtsstaat zu stärken und den Menschen eine politische Vertretung zu geben.

Freilich ist der Prozess noch ein zartes, schwaches Pflänzchen: Beispielsweise hat das Programm der politischen Bildung, um die Bürger überhaupt über ihre politischen Rechte aufzuklären und warum sie wählen gehen sollten, nicht alle Ziele erreicht. Die Kandidaten selbst waren oft unsicher über die Rolle, die sie im Falle ihrer Wahl in der neuen Gesellschaft spielen sollen. Doch es ist eine Umwälzung und eine Dynamik festzustellen, die sicherlich noch einige Jahre brauchen wird, um Früchte zu tragen. Und je früher das alles beginnt, desto besser.

Wie sieht nun der Beitrag Europas aus, nach dem die Militärintervention zum Fall des Taliban-Regimes geführt hat?

Bonino: Europa bringt sich auf verschiedene Weise ein. Einerseits wird im Rahmen der multinationalen Streitkraft ISAF militärische Präsenz gezeigt, andererseits wird am zivilen Wiederaufbau des Landes gearbeitet. Vor allem im Bereich der Infrastruktur und der Institutionen, in dem ich mich persönlich von außen einbringe.

Gerade vor einigen Tagen hat die Außen-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner einen weiteren Beitrag von neun Millionen Euro zur Bewältigung der Kosten der Wahlen in Afghanistan in Aussicht gestellt. Dieser Beitrag kommt zu den 8,5 Millionen, die bereits früher bereitgestellt wurden.

Darüber hinaus finanziert die Union mit 4,1 Millionen die von mir geleitete Wahlbeobachtermission und mit weiteren drei Millionen den Betrieb des Parlamentes selbst. Wenn man die bilateralen Beiträge der EU-Mitgliedsstaaten hinzurechnet, hat Europa 40% der 159 Millionen Dollar, die diese Wahlen gekostet haben, aufgebracht. Insgesamt ist das schon eine respektable Investition in die Zukunft des Landes.

Was sind die Ziele der Mission, die Sie leiten?

Bonino: Das Mandat der Mission ist, den Wahlvorgang zu "beobachten" und nicht zu "beeinflussen". Die Mission wird die Wahlen in Hinblick auf die internationalen Verpflichtungen, die Afghanistan eingegangen ist, und vor allem die UN-Menschenrechtsdeklaration, die Afghanistan unterzeichnet hat, evaluieren.

Des Weiteren wird die Einhaltung gewisser Grundprinzipien kontrolliert, wie die Regelmäßigkeit der Wahlen, das allgemeine, aktive und passive Wahlrecht, ob die Wahlen auch geheim ablaufen und die damit natürlich verbundene Meinungsfreiheit.

Ich persönlich bin immer überzeugt davon gewesen, dass Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind: Es ist nun mal keine Frage der Gläubigkeit, dass jeder den Islam anders auslegt. Man denke nur einmal an die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Frauen in Marokko, Tunesien, der Türkei und beispielsweise die Probleme mit Saudi Arabien, die noch gelöst werden müssen.

Abgesehen vom Islam muss man auch sehen, dass es sich hier um eine patriarchalische, von Stammeskultur dominierte Gesellschaft handelt, die nach wie vor von den Auswirkungen des Taliban-Regimes geprägt ist: Das nämlich ist der Grund für die augenscheinliche politische, soziale und wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes.

Insgesamt gibt es keinen Kampf der Kulturen, auch keinen zwischen Religionen, sondern lediglich einen Konflikt zwischen "geschlossenen" und eher "offenen" Gesellschaften. Demokratien oder werdenden Demokratien.

Offiziell ist der Krieg in Afghanistan beendet. Dennoch hat er mehr als 1.300 Opfer seit Beginn des Jahres 2005 gefordert. Wann herrscht endlich Frieden?

Bonino: Dieses Land muss von Grund auf erneuert werden. Um mit der derzeit inexistenten Infrastruktur zu beginnen: Es reicht schon, sich vorzustellen, dass es im ganzen Land weniger als 25 km asphaltierte Straßen gibt. Weiters muss man entscheidend ins Gesundheitssystem Afghanistans investieren, ein Land, in dem die Frauen weiterhin auf den untersten Niveaus der Weltgesundheit dahin vegetieren.

Dann müssen wir uns dem Problem des Analphabetismus stellen. Nach Schätzungen der UNICEF gebären 90% der Frauen alleine, ohne ärztliche Hilfe, bei einer Müttersterblichkeit von 1.600 auf 100.000 Geburten. Bezüglich der Politik müssen wir starke politische Institutionen schaffen, der afghanischen Führungsschicht helfen und eine Vision für eine Zukunft des Landes reifen lassen. Und schließlich müssen endlich die Interventionen der Nachbarstaaten unterbunden werden, allen voran die Pakistans und Irans.

Ein Viertel der Parlamentssitze sind Frauen vorbehalten, aber die BBC hat erhoben, dass das Probleme bringen werde, da in manchen Regionen keine Frau auf den Wahllisten zu finden sei. Was ist zu tun, um Frauen im Parlament zu sehen?

Bonino: Ursprünglich bin ich gegen Frauenquoten, aber in einem Land, das erste Schritte in Richtung Demokratie – nach langer Zeit – unternimmt, kann es eine wirksame, befristete Maßnahme sein. Im Falle Afghanistans würde ich sogar sagen, es ist notwendig. Gerade bei dieser Wahl sind weibliche Kandidaten von Einschüchterungen gefährdet.

Gemäß dem letzten Bericht von "Human Rights Watch" über die Wahlbeteiligung der Frauen im September sind Frauen oft damit konfrontiert, dass ihnen verschiedene Dinge verwehrt werden: der Zugang zu Informationen, die Möglichkeit an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, Bewegungsfreiheit.

Die Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und die geringeren finanziellen Möglichkeiten im Vergleich zu männlichen Kandidaten tun ihr Übriges. Das haben leider auch unsere Beobachter im August feststellen müssen. Aber wie auch immer: Kraft Gesetzes werden 68 Frauen ins Nationalparlament einziehen und 25% Frauen in Provinzparlamente – mit oder ohne Burka.

Interview: Ilaria La Commare

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